D. Sabean u.a. (Hrsg.): Kinship in Europe

Titel
Kinship in Europe. Approaches to Long-term Development (1300-1900)


Herausgeber
Sabean, David W.; Teuscher, Simon; Mathieu, Jon
Erschienen
Oxford 2007: Berghahn Books
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 82,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Litschel, Graduiertenkolleg 1049, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft

Familie, Haushalt, Verwandtschaft: Cambridge School, Schmid-Duby-These, Goody-Debatte – die Markierungen einer sozial- und kulturhistorischen Konjunkturzone gehen leichter von der Zunge, als sich synthesefähige Erkenntnisfortschritte benennen lassen. Das liegt zum Teil an grundverschiedenen Bezuggrößen nationaler Forschungskulturen, zum Teil an modernisierungstheoretischen Scheinselbstverständlichkeiten. Der vorliegende Sammelband konfrontiert beide Probleme und weist darin weit über das Erwartbare hinaus.

Die Herausgeber versammeln Namen aus französischer, englisch- und deutschsprachiger Forschungslandschaft, um sie mit zwei Thesen zu konfrontieren, die gängige Vorstellungen von der Geschichte der Verwandtschaft herausfordern: Erstens, das Bindungsprinzip „Verwandtschaft“ in Europa habe, entgegen konventioneller Erzählung, nicht etwa einen kontinuierlichen Niedergang seit dem Mittelalter erlebt, sondern im Gegenteil an Relevanz gewonnen. Zweitens, dieser Zugewinn sei parallel mit Staatsbildungsprozessen verlaufen, wiederum entgegen konventioneller Erzählung, nach der staatliche Institutionen „Verwandtschaft“ geschwächt oder abgelöst hätten. David Sabean und Simon Teuscher arbeiten diese Thesen in ihrem Eingangskapitel heraus und operationalisieren sie in einer eigenen Erzählung über „Verwandtschaft in der langen Dauer“: Diese habe zwei Übergänge durchlaufen, deren erster um den Ausgang des Mittelalters gekennzeichnet gewesen sei durch eine exklusiv-lineare, vertikale Straffung von Verwandtschaftsmodellen. Der zweite Übergang wird am Ausgang der Frühen Neuzeit und dem Beginn der Moderne (Sattelzeit) angesetzt. Er sei markiert durch die Herstellung engmaschiger horizontaler Kooperations- und Tauschnetze in Seiten- und Heiratsverwandtschaft. Diesen Übergängen entsprechend sind die Beiträge in zwei Blöcken organisiert.

Von einer Bewegung in eine „vertikale“ zu einer Bewegung in eine „horizontale“ Verwandtschaftsorganisation – der Bezug auf die mediävistische „Linearisierungsthese“ von Schmid und Duby1 wirkt beabsichtigt, ohne sich dabei in suggestiver Inversion zu erschöpfen. Stattdessen füllen die Impulsgeber den Entwurf in ihren Eigenbeiträgen zum ersten (Teuscher) und zweiten (Sabean) Block empirisch aus. Simon Teuscher nimmt mit den „Politics of Kinship in the City of Bern at the End of the Middle Ages” den ersten Übergang in den Blick. Entscheidend ist hier zum einen die Differenz zwischen einer (im obigen Sinne: „horizontalen“) Verwandtschaft der fründe und einer („vertikalen“) Verwandtschaft des „Geschlechts“. Zum anderen unterscheidet Teuscher zwischen einer Ebene argumentativer Repräsentationen, die schon frühzeitig das uni-/patrilineare Denken betont, und einer Ebene der Praxis, die zumindest anfangs den offen mobilisierbaren ‚Pool’ der fründe heraushebt. Das zentrale Argument ist, dass nicht nur eine Stärkung des vergleichsweise rigiden, hierarchischen Prinzips „Geschlecht“ zwischen dem frühen 15. und frühen 16. Jahrhundert zu beobachten ist, sondern dass diese mit der Dynamik obrigkeitlicher und administrativer Entwicklung zusammenfällt (S. 81). Zugespitzt formuliert: Verwandtschaftliche Praxis wird von obrigkeitlicher Argumentation und Repräsentation überformt.

David Sabeans Beitrag hingegen koppelt Ergebnisse seiner bekannten Lokalstudie zu Neckarhausen mit einem – am Titel „Kinship and Class Dynamics in Nineteenth-Century Europe“ erkennbaren – Syntheseanspruch, um zentrale Argumente für den zweiten Übergang um 1800 darzustellen. Diese gruppieren sich, konzentriert auf mittel- und westeuropäische Beispiele, um eine weithin beobachtbare Tendenz zur engen Verwandtenendogamie. Diese Beobachtung diskutiert der Autor unter zwei Gesichtspunkten: Es geht erstens um Sozialisation und Familienleben inklusive der Einverleibung von Emotionen. Der zweite entscheidende Aspekt ist für Sabean eine relativ geschlossene, klasseninterne Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen, für die die Bildung verwandtschaftsstrukturierter Handelsnetzwerke nur ein besonders augenfälliges Beispiel darstellt. Zusätzlicher Bezugspunkt für beide Aspekte ist Differenzierung von Klassenidentitäten durch Heiratstausch. In summa habe sich um und nach 1800 ein „overlapping, extensive, integrated, horizontally constructed set of kindreds” durchgesetzt, “which provided … one of the … supports for the production and reproduction of class milieus” (S. 311f.).

Die weiteren Beiträge zu den beiden Blöcken schließen eng an diese Impulse an; das gilt für den inhaltlichen Tenor, aber auch für deutliche Unterschiede im Blick auf Diskussionsfoki, Methodik und Ergebnisformat. Die Texte zum Übergang „um 1500“ (Karl-Heinz Spiess, Michaela Hohkamp, Bernard Derouet, Christophe Duhamelle) setzen einen Schwerpunkt bei der Durchsetzung der Primogenitur gegenüber älteren Erbteilungsregimes. Dieser Schwerpunkt (durchaus anschlussfähig an ‚etabliertere’ mediävistische und frühneuzeitliche Forschungen) nimmt Primogenitur als Paradigma für die funktionalen Unterscheidungseffekte einer „linear“ umorganisierten Verwandtschaft. Z. B. kann Hohkamp plausibel machen, dass die parallele Ausdifferenzierung von Schwestern- und Tanten-Beziehungen komplementär zur Primogenitur bestimmte Funktionen des älteren Systems übernehmen, Probleme des neuen auffangen und damit dieses durchsetzungsfähiger machen kann. Überzeugend ist, dass solche Differenzierungsnarrative in unterschiedlichste Richtungen Erklärungswert aufweisen, so etwa – jenseits des Themas Primogenitur – auch bei Teuscher (s.o.) und Giulia Calvi. Letztere behandelt den ‚klassischen’ Interessenunterschied zwischen der Herkunftsfamilie eines Verstorbenen und dessen Witwe und kann dabei nicht nur zeigen, wie es Witwen im Rückgriff auf die Eigeninteressen städtischer Verwaltung gelang, sich erfolgreich gegen gesetzliche Vorteile der Mannesverwandtschaft durchzusetzen, sondern auch, wie ein ‚affektives Argument’ gerade als Gegenpol zu erbrechtlichen Bindungen konturiert wurde.

Von diesen Differenzierungsskizzen deutlich abweichend, führt Gerard Delilles Zusammenfassung umfangreicher Forschungsergebnisse zu europäischen Verwandtschaftsstrukturen in der longue durée auf den Übergang „um 1800“ hin. Delille beschreibt, klassisch strukturalistisch, den Wandel von älteren Organisationsformen, die auf einem stabilen System wiederholter Heiratsbeziehungen zwischen lignages beruhten, zu neueren, patrilineal geprägten – „the victory of the line over the lineage“ (S. 178). Dies führt er auf Veränderungen der politischen Strukturen, der Bedingungen lokaler politischer Dominanz zurück: Gerade mit dem Erblichwerden öffentlicher Ämter (anstelle der Besetzung von Ämtern durch Wahl) hätten – nur scheinbar paradox – Verwandtschaft und Heirat ihre zentrale Rolle verloren. Die Privatisierung von Ämtern als vom Vater an den Sohn weitergegebenes Erbe habe die Gruppensolidarität der lineage überflüssig gemacht. Dieser Prozess, der als Teil eines Bündels von Modernisierungsfaktoren zu begreifen sei, habe einerseits zu immer engerer Verwandtenehe, andererseits zu einem vollständig exogamen Heiratsindividualismus geführt.

Kontrovers ist hieran, dass Delille eine abnehmende Bindungskraft von Verwandtschaft annimmt und damit der Leitthese des Bandes, insbesondere Sabeans Darstellung, (scheinbar?) widerspricht. Diesen Widerspruch greift Mitherausgeber Jon Mathieu in seinem Beitrag ausdrücklich auf. Am Schweizer Beispiel stellt er zunächst im Zeitraum 1600–1900 einen Übergang zu immer engerer Endogamie fest (ein zusätzlicher Gewinn liegt in seiner Nachzeichnung unterschiedlicher, aber letztlich konvergierender Norm-Praxis-Verhältnisse in katholischen und protestantischen Gebieten). Im oben skizzierten Spannungsverhältnis schließt er sich der Deutung Sabeans an, zeigt dabei aber auch auf, wie dieses aufzulösen sein könnte: Indem er die subjektive Wahrnehmung statt objektiver Strukturen betont, entkräftet er das Delillesche Modell nicht (das ja durchaus identische empirische Beobachtungen akkommodiert), weist aber auf die Mehrdeutigkeit der Frage nach „Bindungskraft“ hin.

Dagegen fällt bei den anderen Beiträgen des zweiten Blocks eine bemerkenswerte Konsonanz auf. Die Tendenz zur engen Endogamie im 18./19. Jahrhundert erscheint weitgehend konsensfähig und wird nicht nur von Mathieu empirisch bestätigt, sondern auch von Elisabeth Joris, Christopher H. Johnson und (bedingt) Gábor Gyáni. Wo die Beiträge des ersten Blocks die Figur der (im weitesten Sinne) funktionalen Differenzierung zentral stellen, sind die des zweiten Blocks in Gegenstand, Methode und Darstellung um die Figur des Netzwerks organisiert (am prägnantesten in Laurence Fontaines Beitrag zu Migration und Verwandtschaft). Differenz findet hier anderweitig statt: An der Schnittstelle von Privatem und Öffentlichem (bei Joris) oder zwischen Klassen (bei Sabean). Hier werden unterschiedliche „Standardeinstellungen“ von Frage, Ergebnis und Darstellung sichtbar und darin auch eine Frage interepochaler Vergleichbarkeit. Schließlich: Die Beiträge des zweiten Blocks sind in der Kopplung von ‚klassisch’ sozialgeschichtlichen, quantifizierenden Methoden und qualitativen Schlaglichtern methodisch homogener als die des ersten. Die Quantifizierung wirft hierbei gelegentlich Fragen nach der Gewichtung auf. So bezeichnet etwa Mathieu die Verwandtenehe im engsten (2./3.) Grad als „common practice“ (S. 217), auch wenn sie in der fraglichen Aufstellung nie mehr als 14 Prozent aller Eheschließungen ausmacht.

Die größere Frage im Hintergrund ist hier wiederum die nach interepochaler Vergleichbarkeit in Quellenlage, -spezifik und -zugriff; wünschenswert wäre eine stärkere Problematisierung zeitspezifischer Wissensorganisation und -transfers. Immer wieder tritt in den Beiträgen das „Aufschreibesystem“ zutage, von über Jahrhunderte reichenden Familienverzeichnissen (Delille) und brieflichen Selbstauskünften (Calvi) über die Differenz von öffentlichen und privaten bzw. Unternehmensarchiven (Joris) bis hin zu literarischen Referenzen (Sabean). Zu fragen ist hier, ob nicht ein systematischer Zugriff auf die Interdependenzen von Verwandtschaftssystem und Kommunikationstechnik – von Sprach- und Schreibpragmatik bis hin zu Archivierungslogiken – fruchtbar wäre: Allgemein, um die besonders bei Teuscher und Mathieu greifbare Spannung von Praxis und Repräsentation in den Griff zu bekommen; im Besonderen, um eines der Kernanliegen des Bandes – nämlich die „verwandtschaftsbildende“ Wirkung von Staat, Verwaltung, Bürokratie – anhand ihrer kommunikativen Spezifika konturieren zu können. Die Arbeiten von Joseph Morsel weisen hier einen verfolgenswerten Weg.2

Die Diskussion ist noch lange nicht beendet (gerade im Blick auf das Verhältnis von Verwandtschaften zu alternativen Bindungsformen: Korporationen und Freundschaften 3 etwa); dieser Band wird sie mit seinen starken Leitthesen und empirischen „Updates“ wesentlich mitprägen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Zusammenfassung von Michael Mitterauer in: Andreas Gestrich u.a., Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 161ff.
2 Exemplarisch etwa Joseph Morsel, Le médiéviste, la lignage et l’effet de réel. La construction du geschlecht par l’archive en haute Allemagne à partir de la fin du Moyen Âge, in: Revue de Synthèse 125 (2004), S. 83-110.
3 Vgl. zuletzt etwa Johannes Schmidt u.a. (Hrsg.), Freundschaft und Verwandtschaft. Zu Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme, Konstanz 2007.

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