K. A. Raaflaub u.a. (Hrsg): Origins of Democracy

Cover
Titel
Origins of Democracy in Ancient Greece.


Herausgeber
Raaflaub, Kurt A.; Ober, Josiah; Wallace, Robert W.
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 242 S.
Preis
$ 22.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Bernett, Seminar für Alte Geschichte, Universität Freiburg

Das vorliegende Buch ist ein wissenschaftliches Gemeinschaftswerk besonderer Art. Man möchte meinen, dass es von seinem Untersuchungsgegenstand so inspiriert wurde, dass wissenschaftliche Agonistik und demokratische Verfahren miteinander vereinbart werden sollten. Drei der renommiertesten an amerikanischen Universitäten wirkenden Althistoriker wetteifern miteinander um den Beginn der griechischen Demokratie, den jeder anders lokalisiert: Robert Wallace bei Solons Reformen, Josiah Ober bei der Kleisthenischen Ordnung, Kurt Raaflaub bei den Reformen des Perikles und Ephialtes. Dafür haben die Protagonisten ihre Thesen vielfach miteinander diskutiert, ihre Beiträge Kollegen zur Vorkritik überlassen und Paul Cartledge und Cynthia Farrar um eine kritische schriftliche Würdigung gebeten. Was bleibt einem Rezensenten nach so viel vorweggenommener Kritik und Gegenkritik, Reflexion und Revision auf höchstem Niveau noch übrig zu tun? Inhaltliches berichten – und dann noch einige bescheidene Beobachtungen mitteilen.

Kurt Raaflaub führt zunächst in Gegenstand, Fragestellung und Konzeption des Bandes ein, der auch auf die Konjunktur, die das Thema „2500 Jahre Demokratie“ seit dem 1993 stolz gefeierten Jubiläum vor allem in der amerikanischen Altertumswissenschaft erlebte, reagiert. Zehn Jahre später hielt Raaflaub die Zeit reif für eine Neubewertung der Thematik, wobei der Focus mehr auf der Ursprungsfrage, weniger auf der Demokratie selbst liegen sollte. Die „Ursprungsfrage“, die in die Archaik verweise, führe dazu, die Anfänge der griechischen (und nicht bloß der attischen) Demokratie aufzuspüren. Raaflaub betont, dass sich das Autorenteam über den prozesshaften politischen Wandel in der Spätarchaik und Frühklassik grundsätzlich einig sei und nur bei den ‚Rupturen‘, den ereignishaften, entscheidenden Zäsuren mit Umschlag zur Demokratie, differiere.

Entsprechend behandeln Raaflaub/Wallace im 2. Kapitel die evolutionäre Seite der archaischen Vor- oder Frühgeschichte der Demokratie. Für die homerische Gesellschaft werden die Statusgruppen demos/laos und „Adel“ sowie das Verhältnis zwischen herausgehobenen Einzelnen, deren hetairoi und dem soziologischen Referenzkollektiv diskutiert. Entgegen dem adeligen Anspruch werde bei Homer die Rolle des demos deutlich als „significant on the battlefield, in the assembly, and in society“ (S. 32). Die Spannungen zwischen demos und Adel wie auch dessen kaum vorhandenen Möglichkeiten, jenen dauerhaft von sich abhängig zu machen, träten dann bei Hesiod klar zutage – und zeigten die Voraussetzungen, unter denen es zu „People’s Power“ kommen konnte: Streben nach persönlicher Unabhängigkeit (einschließlich wirtschaftlicher Autarkie); Bevorzugen horizontaler Reziprozitätsbeziehungen statt vertikaler Patronage; Adelskritik, sobald höherer Status dazu benützt wird, Schwächere in Abhängigkeit zu bringen.

Ein kurzer Abschnitt (S. 34–36) befasst sich mit den Auswirkungen der militärischen Innovationen in der Archaik (Entwicklung der Hoplitenphalanx; vgl. S. 132–136), bevor diskutiert wird, inwiefern Spartas Ordnung seit dem 7. Jahrhundert demokratische Züge aufweist (S. 36–41). Raaflaub/Wallace identifizieren hier zwar „‚democratizing‘ elements“; diese gingen aber nicht über das der frühen griechischen Polis inhärente Potential egalitärer Strukturen hinaus (S. 41). Als weitere Faktoren, die Egalität bekräftigt und politische Mitsprache des demos dauerhaft institutionalisiert hätten, werden die Tyrannis, die starken Krisenphänomene des 7. und 6. Jahrhunderts, die Kolonisation, die archaische Gesetzgebung sowie die nachbarschaftlich-genossenschaftliche Sozialstruktur veranschlagt (S. 41–46). Auf der Basis dieses Tableaus – ein in der archaischen Polis vorhandenes Potential für Demokratie –, stellen sich die drei Autoren der Frage, unter welch hinreichenden Bedingungen Demokratie dann realisiert worden ist.

Robert Wallace sieht diesen qualitativen Sprung bereits in den Polisordnungen des 7. und 6. Jahrhunderts, in deren Kontext auch die Solonische Verfassung Athens einzuordnen sei. Wallace zögert nicht, aus den spärlichen Nachrichten, die wir unter anderem über kretische Poleis, Chios, Lokris, Megara, Euboia, Ambrakia, Argos, Chalkis, Mantineia haben, auf „popular“ bzw. „mass revolutions“ und „some sort of mass government“ zu schließen (z.B. S. 49, 56, 57 und 73). Für Athen habe Solon die „basic institutions“ für die Demokratie geschaffen (S. 69), die einem bereits politisierten und stärkere Partizipation fordernden Demos entsprochen habe (S. 72). Weil aber die gesellschaftliche Ordnung nicht verändert worden sei, sei es nach Solon wieder zu Adelskämpfen gekommen, die der Demos endlich beschloss, durch eine Tyrannis zu beenden („By 561, as in 594, the demos had had enough“, S. 75). Ähnlich kollektive Willensentscheidungen werden für 508/07 angenommen (S. 76f., S. 79). Letztlich sieht Wallace den attischen Demos seit Solon „empowered [...] to dominate government“ (S. 81). Hier wie in den vielen anderen griechischen Städten sei nur die Frage gewesen, inwieweit der Demos diese Macht für sich habe nutzen wollen.

Josiah Ober teilt mit Wallace die Einschätzung des Demos als maßgeblichem Handlungssubjekt, was mit der Abwertung aristokratischer Einzelakteure korrespondiert. Anders als Wallace geht er aber – wohl generell bei demokratischen Revolutionen 1 – von einer intellektuellen Zäsur („epistemic shift“, S. 83) aus, die durch ein hochrangiges Ereignis ausgelöst und als „state of mind“ (S. 101) durch entsprechende Institutionen nachfolgend in politische Wirklichkeit übersetzt wird. Ein solches Ereignis wird in der Intervention Spartas im Gefolge der Kleisthenischen Reform(vorschläge) gesehen, durch die der Demos erstmals als kollektiver Agent in eigenem Interesse und unter eigenem Namen auf den Plan gerufen worden sei (S. 88).

Ober rekonstruiert ausführlich die Ereignisfolge 508/7, für die er resümiert, „that (1) the demos did act, and (2) that it acted in the absence of organized leadership“(S. 96). Unmittelbar nach Kleomenes’ Vertreibung seien institutionelle Veränderungen ins Werk gesetzt worden, die einen Bruch mit der bisherigen, vordemokratischen Praxis markierten. Unter die einschneidenden Neuerungen werden, neben der Demenreform und dem neuen Rat der 500, auch der Ostrakismos und eine erhebliche Steigerung der militärischen Kapazität gerechnet. Bürgerengagement für die neu begründete demokratische Polis habe sich schon 506 erfolgreich gezeigt und die Grundlage für die Etablierung des attischen Seereichs im 5. Jahrhundert gebildet.

Kurt Raaflaub hält schließlich die von ihm seit langem vertretene These einer erst seit Mitte des 5. Jahrhunderts in Athen verwirklichten Demokratie gegen die Argumentationslast seiner Vorredner aufrecht. Dies zwingt ihn zu einem minutiösen Argumentieren und einer starken terminologischen Differenzierung. Vor allem der eigene Begriff von attischer Demokratie und die Selbstbeschreibungen in den zeitnahen Zeugnissen werden dargelegt (S. 106–113; vgl. S. 139 und S. 142), sodann die Reformen 462/1 und ihre Auswirkungen analysiert (S. 113–117; vgl. die narrative Wiederaufnahme S. 138–142). Als Erklärungshintergrund akzentuiert Raaflaub den Zusammenhang zwischen militärischer und politischer Geschichte, für Athen seit 479, aber auch grundsätzlich für die griechische Polis. Inwieweit implizierte oder erzwang militärische Partizipation auch politische Partizipation? Raaflaub sieht hier keine direkten Kausalitäten; erst wenn der Beitrag zusätzlich aufgebotener Kräfte „permanently and indispensably significant to the community“ wurde (S. 127), sich mit der militärischen Partizipation auch Forderungen nach Statusverbesserungen verknüpften und sich aristokratische Führungspersönlichkeiten dieser Forderungen annahmen (S. 127f.), hätten sich politische Statusverbesserungen ergeben (siehe seinen Vergleich mit Rom).

Für Athen konstatiert Raaflaub diese Konstellation erst seit 479, als sich die Bedeutung der Theten für die attische Marine in politischen Forderungen (den eigenen Status wie auch die Seebundspolitik selbst betreffend) niederschlug, die durch Ephialtes und Perikles erfolgreich vertreten worden seien. Bei der Durcharbeitung der Thematik reevaluiert Raaflaub die Solonischen Zensusklassen (in Fortführung einer alten, aber erst 2004 veröffentlichten These von Ste. Croix 2); er schlägt vor, die Mindestmaße an Ernteproduktion, die die Zugehörigkeit zu den tele konstituierten, sowie die Einführung der „Fünfhundertscheffler“ erst als Produkt der Reformspanne zwischen 462–451 v.Chr. zu sehen (S. 128–132; vgl. S. 140).

Paul Cartledge und Cynthia Farrar kommentieren schließlich die vorgelegten Thesen. Cartledge legt sehr viel Wert auf Definitionsfragen und Differenzaspekte (antike versus moderne Demokratie, antike versus moderne Staatlichkeit, Spektrum antiker Demokratiebegriffe versus Besonderheit der attischen Demokratie seit Mitte des 5. Jahrhunderts). In seinem Votum über „Origins of Democracy“ neigt er grundsätzlich Ober zu und sieht Athen seit Kleisthenes als Polis, deren demos „some sort of kratos“ ausübte (S. 165). Mit großer Skepsis wird allerdings der These eines demos als handelndem Subjekt begegnet. Farrar kommt im Prinzip zum gleichen Urteil (S. 173f.), auch wenn dabei vieles noch einmal referiert, gegeneinandergestellt und abgewogen wird. Der Rest ihres Beitrags ist politikwissenschaftliche Reflexion zur (neuzeitlich-modernen) Demokratie an sich und ihren Systemmerkmalen – und eine Art Schlussappell, immer neu aus dem Beispiel Athen zu unserem eigenen Wohle als Bürger zu lernen.

Ohne Zweifel lernt man vieles aus diesem anspruchsvollen Band, nicht nur zur Thematik, die hier auf hohem wissenschaftlichem und argumentativem Niveau sowie unter besonderen diskursiven Bedingungen behandelt wird. Darauf, wo nun der (wahre) Beginn der griechischen (oder attischen) Demokratie liegt, konnten sich die Autoren wohl nicht einigen (wie man es in demokratischen Verfahren ja eigentlich tun müsste). Sie haben aber alle Voraussetzungen geschaffen, um einem Leser die Sinne zu schärfen, welche Kriterien den Differenzen zu Grunde liegen und wie er selbst zu einem Urteil kommen kann. Einem deutsch(sprachig)en Althistoriker kann darüber hinaus bewusst werden, wie stark die englischsprachige Althistorie bei dieser Thematik ohne die Beiträge aus der eigenen Zunft auskommt.3

Anmerkungen:
1 Vgl. S. 83, 89, 91, 94f. und 97.
2 De Ste. Croix, Geoffrey, The Solonian Census Classes and the Qualifications for Cavalry and Hoplite Service, in: ders., Athenian Democratic Origins and Other Essays, hgg. v. Harvey, David u.a., Oxford 2004, S. 5–72.
3 Zur Relation: Von den ca. 660 aufgeführten Titeln in der Bibliografie sind ca. 90 deutschsprachig (darunter etliche ältere Titel). Allein die fünf Autoren des Bandes sind mit ca. 70 Beiträgen vertreten.

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