M. Bilz: Tatarstan in der Transformation

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Titel
Tatarstan in der Transformation. Nationaler Diskurs und Politische Praxis 1988-1994. Mit einem Vorwort von Frank Golczewski


Autor(en)
Bilz, Marlies
Reihe
Soviet & Post-Soviet Politics & Society 49
Erschienen
Stuttgart 2007: Ibidem Verlag
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Heller, Justus-Liebig-Universität Gießen

Marlies Bilz versteht ihre Untersuchung als „einen kulturwissenschaftlich ausgerichteten Beitrag zur Nationalismus- und Transformationsforschung, in dem die identitätsstiftende Funktion des Konzepts ‚Tatarische Nation’ im Mittelpunkt steht“. Es geht um die Tataren im Wolga-Ural-Gebiet Russlands und insbesondere um ihre Kasaner Intelligenz „als Avantgarde im Nationalisierungsprozess“. In ihrer „theoretisch-methodischen Festlegung“ bezieht sich Bilz auf postmoderne Ansätze der Geschichtswissenschaft und betont dabei insbesondere den Wert diskursiver Ansätze. Nähere Ausführungen darüber wie über weitere von ihr zur Analyse der nationalen Problematik genutzte Begrifflichkeiten werden unter Hinzuziehung der einschlägigen Literatur gemacht. Zur Grundlage der Untersuchung sollen insbesondere die Printmedien aus den Jahren 1988 – 1994 genommen werden. Nach Vorstellung des „Quellenkorpus“ folgen nähere Erklärungen über den „Aufbau der Studie“ und ein „Forschungsüberblick“.

Die eigentliche Studie beinhaltet in der Hauptsache acht „Diskursräume“: Nation, Politik, Sprache und Bildung, Religion, Geschichte vor 1988 und danach, mit Revision des Geschichtsbildes, sowie Performanz der Nation. Diesen folgen Fragen zur „Akzeptanz von politischer Praxis und ethnischer Mobilisierung“, denen die in den „Diskussionsräumen“ vorgestellten Themenbereiche zugrunde liegen. Die Schlussbetrachtung gibt einen „Kanon nationaler Werte“ und unternimmt den „Versuch einer Gewichtung“, nicht ohne am Ende noch eine „Zusammenfassung des Schlusskapitels“ zu bieten. Angehängt sind noch einige statistische Angaben sowie ein reiches Quellen- und Literaturverzeichnis.

Vorgestellt werden zunächst die relevanten nationalen Organisationen. Im Mittelpunkt steht das „Tatarische Gesellschaftliche Zentrum“ (TOC), die weit radikalere „Ittifak“ (Einheit) und der „Weltkongress der Tataren“ (VKT). Fragen der „nationalen Wiedergeburt“ und des Verhältnisses zu Russland, von besonderem Interesse für die aus der alten Nomenklatur hervorgegangene „politische Elite“ unter dem Präsidenten Schaimijew, bestimmen besonders die postsowjetische Periode. Dass sich die „in der Nationalbewegung vertretenen Geistes- und Sozialwissenschaftler“ nicht nur mit bloßen Forderungen abgaben, zeigt besonders ihr institutionelles Wirken, gipfelnd in der Gründung einer Tatarischen Fakultät (Tatfak) an der russisch dominierten Staatlichen Kasaner Universität (KGU) sowie der Errichtung einer selbständigen Akademie der Wissenschaften Tatarstans (ANT).

Bei ihrer „Analyse des politischen Transformationsprozesses“ erkennt Bilz eine „Elitenkontinuiät“, ohne darüber weitere Aufschlüsse zu geben. Zur „Maxime der tatarischen Machtelite“ habe bei allen Fragen nationaler Selbstbestimmung immer die Rücksichtnahme auf Moskau gehört. Schaimijews „Machtsystem“ mit Rafael Chakimow als „Chefideologen“ habe sich letztlich für das Konzept einer „Staatsnation“ entschieden, die politischen und ökonomischen Belangen mehr Bedeutung zugemessen habe als ethnonationalen. Eine „tatarische Wiedergeburt“ sei aber besonders auf dem Gebiet von Sprache und Bildung notwendig gewesen, da selbst die „tatarische geistes- und sozialwissenschaftliche Intelligenz“ in der Regel auf Russisch publiziere. Eine neue Wertschätzung des Tatarischen habe wegen des Desinteresses der „politischen Elite“ indes kaum Platz gegriffen.

Auf das kulturelle Leben der Tataren und ihre reiche Literatur wird in diesem Zusammenhang, wohl wegen mangelnder Sprachkenntnisse, nicht eingegangen. Geht es um die religiöse Frage, so wendet sich Bilz sofort dem Djadidismus zu, den sie als säkulares Weltverständnis im Sinne der europäischen Aufklärung „im aktuellen Diskurs“ der Tataren „als eine(n) der wichtigsten Generatoren ihres nation-building“ betrachtet. Eine Weiterentwicklung von Djadidismus zum „Tatarischen Islam“ macht sie vor allem bei Rafael Chakimow fest. So zeige sich deutlich, dass von der „politischen Elite“ (Schaimijew) nicht nur die nationale, sondern auch die religiöse „Wiedergeburt“ im eigenen Machtinteresse manipuliert und instrumentalisiert wurde.

In Bezug auf die Geschichte der Tataren vor 1988 weist Bilz darauf hin, dass der Djadidismus auch dazu geführt habe, dass „sowjetische Denkmuster“ auf die tatarische nationale Identität Einfluss genommen hätten. Das aber habe der „tatarischen Intelligenz“ letztendlich ermöglicht, sich zumindest gegen Ende der Sowjetzeit in den politischen Gegebenheiten einzurichten. Die neue tatarische Nationalbewegung würde hauptsächlich von Geistes- und Sozialwissenschaftlern, insbesondere Ethnologen und Historikern, getragen, mit Chakimow als einem ihrer führenden Köpfe. Im Grunde ginge es dabei weiterhin um eine „Legitimationsbasis für politische Ziele“, nur seien aus Marxisten mittlerweile Nationalisten geworden. Zwar gäbe es unterschiedliche Geschichtskonzeptionen, wie z.B. bei der Frage nach der Herkunft der Tataren. Wichtig sei aber in erster Linie eine positive Deutung ihrer Geschichte als Zivilisationsauftrag in Absetzung von der russischen bzw. sowjetischen Abwertung der Goldenen Horde und ihrer Nachfolgekhanate im eigenen imperialistischen Interesse.

Es geht um die Abgrenzung von den Russen. Die in der Nationalbewegung aktive „kazantatarische Intelligenz“ vertrete dabei das Modell einer „Tatarischen Nation“, das auch andere ethnische Gruppierungen miteinschlösse, so dass ihr nicht zu Unrecht ein „imperialistischer Geist“ bzw. „großtatarischer Chauvinismus“ attestiert werden könne. Schließlich geht es Bilz um die Frage, inwieweit das „sowjetische Homogenisierungsprojekt“ bei den Tataren Erfolg gehabt habe, und sie kommt zu dem Schluss, dass „im Zuge der ethnischen Mobilisierung“ wieder eine Renationalisierung erfolgt sei. Dies zeige sich nicht zuletzt dort, wo es „um die Ikonographie der Macht“, um Baudenkmäler, Feiertage etc., gehe. Nicht alles sei indes rückgängig gemacht worden, und der „weitgehende Verzicht auf islamische Symbolik“ unterstreiche einmal mehr das heutige „Selbstverständnis Tatarstans als säkularer Staat“.

Am Ende zieht Bilz den Schluss, dass für die Tataren im Wolga-Ural-Gebiet die Rückbesinnung auf ihre nationale Identität „zur Kategorie des Systemswandels“ wurde, wobei es zunächst zu einem engen Schulterschluss zwischen „Nationalbewegung“ und „politischer Elite“ gekommen sei. Die „politische Elite“ habe dann aber eine Radikalisierung durch Hinwendung zum orthodoxen Islam nicht mitvollzogen. Sei es ihr doch in erster Linie um die Festigung ihrer eigenen Macht gegangen, bei der indes die historische Rückbesinnung auf die eigene nationale Identität – nicht zuletzt auch gegenüber der Russländischen Föderation – durchaus hilfreich gewesen sei.

Die Untersuchung wirkt wissenschaftlich leider sehr angestrengt, was sich auch auf den Stil auswirkt. Vieles erscheint aufgesetzt, bleibt im Formalen stecken. Der vorgenommene Zeitrahmen wird bei der Beweisführung nicht selten überschritten. Überhaupt zwingt die nicht gerade geschickte Behandlung der Materie in mehreren „Diskursräumen“ mit nachfolgenden Fragen nach der „Akzeptanz“ nicht selten zu Wiederholungen. Statt Abstrakta wie z.B. „nation-building“ schablonenhaft auf die Ereignisse aufzulegen, wäre es außerdem besser gewesen, sich zunächst mit den historischen Ereignissen direkt auseinanderzusetzen, um dann nach Vergleichbarem zu suchen. Auch helfen am Ende solche Begriffe wie „nationale Intelligenz“ oder „politische Elite“ etc. wenig zum Verständnis der Vorgänge, wenn sie nicht jeweils an Hand des zur Verfügung stehenden Materials konkretisiert werden. Für den unkundigen Leser muss deshalb vieles unklar bleiben.

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