G. Jäger u.a. (Hrsg.): Judentum und Antisemitismus im modernen Italien

Titel
"... denn in Italien haben sich die Dinge anders abgespielt.". Judentum und Antisemitismus im modernen Italien


Herausgeber
Jäger, Gudrun; Novelli-Glaab, Liana
Reihe
Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge 2
Erschienen
Berlin 2007: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 27,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Schleicher, Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, Universität Frankfurt a. M.

Die Beiträge des von Gudrun Jäger und Liana Novelli-Glaab herausgegebenen Bandes zur Geschichte des Judentums und des Antisemitismus in Italien legen die auf Primo Levi zurückgehende Aussage im Titel „... denn in Italien haben sich die Dinge anders abgespielt“ nicht einfach zugrunde, sondern bemühen sich um eine Antwort auf die Fragen, die sich daran knüpfen: Was hat sich in Italien anders abgespielt als in vergleichbaren europäischen Ländern und warum? Der Schwerpunkt der in vier thematische Abschnitte unterteilten Publikation liegt dabei deutlich auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie enthält insgesamt 13 Artikel zu antijüdischen Traditionen in Italien, zur Situation der Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu der Zeit des Faschismus und über die „Gegenwart der Vergangenheit“, so der Titel des letzten Abschnitts, der sich mit der Zeit unmittelbar nach dem Faschismus (Guri Schwarz), frühen Holocaustzeugnissen italienischer Jüdinnen (Gudrun Jäger), der jüngeren italienischen Geschichtsschreibung zum Faschismus (Alberto Cavaglion) und dem heutigen Antisemitismus in Italien und Europa (Juliane Wetzel) befasst.

Es sind in diesem auf einen Studientag an der Frankfurter Universität zurückgehenden Band eine Reihe sehr aufschlussreicher, jedoch thematisch stark eingegrenzter Beiträge zur Geschichte des Antisemitismus und des Jüdischen Lebens in Italien veröffentlicht, wie Francesca Fabbris Analysen judenfeindlicher Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit oder Aram Mattiolis Darstellung der Wiedereinführung von Zwangsmaßnahmen für Juden und eine diese begleitende antijüdische Diffamierungskampagne im Kirchenstaat von 1823 bis 1870. Zu erwähnen ist hier auch Tullia Catalans Beschreibung der Situation und der innerjüdischen Auseinandersetzungen unter den besseren Bedingungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die These, die Catalan vertritt, dass die gesellschaftliche Integration der italienischen Juden dadurch befördert wurde, dass im 19. Jahrhundert „auch die Mehrheitsgesellschaft erst zu einer politisch-kulturellen Einheit zusammenwachsen musste“ (S. 81), bleibt jedoch unbelegt. Dafür wäre eine systematische Analyse der verschiedenen Faktoren einer offensichtlich im Vergleich mit anderen europäischen Ländern besseren Situation der italienischen Juden notwendig, die nach ihrer bürgerlichen Gleichstellung (1848 in Piemont und 1861 in ganz Italien) weitaus weniger Diskriminierungen und Diffamierungen ausgesetzt waren, und denen zum Teil ein Aufstieg im Staatsdienst und die Übernahme hoher politischer Ämter gelang.

Deutlich weiter führt hier Ulrich Wyrwas Beitrag, der verschiedene historische Einschätzungen wie einen Eintrag aus dem Jüdischen Lexikon von 1927 mit dem Wortlaut „Italien ist das einzige Land Europas ohne Antisemitismus“ 1 oder Gramscis Feststellung in den Gefängnisheften „In Italien gibt es keinen Antisemitismus“ 2 einer kritischen Prüfung unterzieht. Mit einer Untersuchung der nationalistischen Bewegungen, der Verbände der Kleinhändler, des akademischen Milieus und der Kirchen richtet sich das Interesse Wyrwas auf vier Bereiche, deren zentraler Stellenwert sich bereits in Untersuchungen des Antisemitismus in Deutschland belegen ließ. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass das liberale Italien „keineswegs frei von judenfeindlicher Propaganda“ (S. 100) gewesen sei, diese jedoch eher auf wenig Resonanz stieß. Als Akteur nicht nur eines traditionellen Judenhasses, sondern auch einer, wie Wyrwa schreibt, „neue(n) judenfeindliche(n) Rhetorik“ (ebd.), ist vor allem die katholische Kirche zu nennen, die in der Civiltà Cattolica und verschiedenen lokalen Zeitungen, wie der hier genauer untersuchten Publikation aus Venedig La Difesa positiv über Drumonts antisemitisches Machwerk La France juive sowie über die Agitation des protestantischen Hofpredigers Adolf Stoecker und die antisemitische Bewegung der 1880er-Jahre in Deutschland berichtete. Laut Wyrwa lasse sich am Beispiel Italiens sowohl die These eines zwangsläufig die Krisen der bürgerlichen Gesellschaft begleitenden Antisemitismus widerlegen, als auch die Bedeutung der christlichen, hier der katholischen Kirche für die Entwicklung des Antisemitismus herausarbeiten.

Der Abschnitt über Juden im Faschismus enthält neben zwei Beiträgen zur Judenverfolgung und Kollaboration von Fabio Levi und Sara Berger auch einen Artikel des Historikers Michele Sarfatti mit dem Titel „Eine italienische Besonderheit: faschistische Juden und der faschistische Antisemitismus“. Darin versucht Sarfatti die von ihm konstatierte „hohe Zahl faschistischer Anhänger unter den Juden“ (S. 132) zu erklären und zugleich darzulegen, wie deren Auseinandersetzungen mit der anwachsenden antisemitischen Publizistik in der faschistischen Presse der 1930er-Jahre bis zur Einführung der Rassengesetze 1938 verliefen. Zwar sank in diesem Zeitraum der relative Anteil von jüdischen Mitgliedern in der faschistischen Partei etwas ab, die Zahl der jüdischen Mitglieder nahm jedoch weiter zu und dies, so Sarfatti, lasse sich nur auf dem Hintergrund der starken Einbindung von Juden in den italienischen Staat, hier als „Nationalisierung“ bezeichnet, interpretieren, die sie schließlich zu einer Unterschätzung des Antisemitismus in Italien geführt habe (S. 152-153). Sarfattis Beitrag lässt sich in eine, im selben Band auch von Alberto Cavaglion angerissene, wichtige geschichtspolitische Debatte einordnen. Anstatt Ursachen und Hintergründe von antisemitischer Propaganda und Politik in Italien als Import aus Deutschland darzustellen und auf diese Weise zu externalisieren, wird hier versucht, innere und äußere Faktoren gleichermaßen zu berücksichtigen.

In mehreren Beiträgen des Bandes wird die Geschichte des Judentums und des Antisemitismus in Italien unter Einbeziehung des Geschlechteraspekts beleuchtet. Anna Rossi-Doria arbeitet in ihrem Vergleich des Status von Frauen und Juden Ende des 19. Jahrhunderts an interessantem Quellenmaterial wichtige Parallelen und Unterschiede heraus. Gleichwohl bringt ihr Verfahren ein – bereits von Johanna Gehmacher in einer Kritik an Christina von Braun benanntes – Problem mit sich: eine vergleichende Gegenüberstellung von „Juden“ und „Frauen“ blendet Jüdinnen aus und trägt somit zu ihrer Unsichtbarmachung bei.3 Mit einem biographischem Ansatz befasst sich Liana Novelli-Glaab mit vier um 1900 politisch und gesellschaftlich engagierten Frauen: mit der Sozialistin und Frauenrechtlerin Anna Kulischoff, den Schwestern Paola und Gina Lombroso und mit Magherita Sarfatti. Letztere wurde nach ihrer Wandlung im Ersten Weltkrieg von einer Kriegsgegnerin zur Kriegsbefürworterin Redakteurin von Mussolinis Il popolo d’Italia, eine Zeitschrift, die aus der sozialistischen Partei hervorging und später offizielles Organ der Faschisten wurde. Schlussendlich, so schränkt Novelli-Glaab am Ende ihre Beitrags ein, sei schwer feststellbar, ob sich die vier von ihr behandelten Frauen ihres Judentums auch „als einer Besonderheit“ bewusst waren. Dass das Judentum jedoch von Bedeutung für sie war, obgleich weder Kulischoff noch die Lombrosos religiös waren und Magherita Sarfatti zum Christentum übergetreten war, wird in der Darstellung ihrer Biographien unter dem Titel „Zwischen Tradition und Moderne – Jüdinnen in Italien um 1900“ vorausgesetzt, was zumindest begründungswürdig wäre. Mit ihrem Beitrag über frühe Holocaustzeugnisse von italienischen Jüdinnen gewährt Gudrun Jäger einen Einblick in den Inhalt von bereits in den Jahren 1946 und 1947 veröffentlichten Texten und ihrer Rezeptionsgeschichte bis heute. Für das in auch in deutscher Übersetzung erschienene Il fumo di Birkenau von Liana Millu4 lässt sich beispielsweise feststellen, dass dessen späte Rezeption erst ab den 1980er-Jahren nicht nur auf eine an den Berichten von Überlebenden des Holocaust allgemein wenig interessierte Öffentlichkeit zurückzuführen sei. Vielmehr spielt hier auch eine Rolle, dass die auf Benedetto Croce zurückgehende konservative Literaturkritik die „memoralistica“ zu einem der „hohen Literatur“ untergeordnetem Genre machte. Darüber hinaus war das in Millus Erzählungen mit großer Selbstverständlichkeit behandelte Thema der Sexualität im Lageralltag stark tabuisiert und wurde infolgedessen aus dem Erinnerungsdiskurs lange Zeit ausgegrenzt (S. 234-237).

Obgleich dem Band, insbesondere den übersetzten Texten, ein weiteres Lektorat gut getan hätte, ist zu würdigen, dass mit ihm – und dies ist den Herausgeberinnen und den Institutionen, die Studientag und Veröffentlichung ermöglichten, hoch anzurechnen – auf der Basis eines Austauschs von italienischen und deutschen WissenschaftlerInnen nicht nur Einblicke in die Geschichte von Judentum und Antisemitismus im modernen Italien gewährt werden, sondern auch in geschichts- und erinnerungspolitische Debatten, die sich in Italien um dieses Themenfeld ranken.

Anmerkungen:
1 Art. „Italien“ in: Jüdisches Lexikon, Bd. 3, Berlin 1929, S. 98.
2 Gramsci, Antonio, Ebraismo e antisemitismo, in: ders., Gefängnishefte, Bd. 7, 12.-15. Heft, Hamburg 1996, S. 1758.
3 Gehmacher, Johanna, Die Eine und das Andere. Moderner Antisemitismus als Geschlechtergeschichte, in: Berewill, Mechthild; Wagner, Leonie (Hrsg.), Bürgerliche Frauenbewegung und Antisemitismus, Tübingen 1998, S. 101-120, hier S. 104f. Vgl. auch Schleicher, Regina, Stereotypisierte Körper in der antisemitischen Karikatur des 19. Jahrhunderts in Frankreich, in: Gronemann, Claudia u.a. (Hrsg.), Körper und Schrift, Bonn 2001, S. 127-137, hier S. 134f.
4 Millu, Liana, Il fumo die Birkenau, Milano 1947. Deutsche Ausgabe: Rauch über Birkenau. Mit einem Vorwort von Primo Levi. Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel, München 1997.

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