M. König u.a. (Hgg.): Die Bundesrepublik Deutschland

Cover
Titel
Die Bundesrepublik Deutschland und die europäische Einigung 1949-2000. Politische Akteure, gesellschaftliche Kräfte und internationale Erfahrungen. Festschrift für Wolf D. Gruner zum 60. Geburtstag


Herausgeber
König, Mareike; Schulz, Matthias
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
599 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Frölich-Steffen, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Festschrift für Wolf D. Gruner, die Mareike König und Matthias Schulz kürzlich vorgelegt haben, hat fast schon Handbuch-Charakter. Nahezu jeder Aspekt der Geschichte der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union findet darin Erwähnung. Schwerpunktmäßig befassen sich die 29 Beiträge insbesondere mit den politischen Akteuren in der Bundesrepublik, die die europäische Einigung forciert oder behindert haben, den gesellschaftlichen Kräften und mit internationalen Erfahrungen, die die Bundesrepublik im Rahmen der europäischen Integrationsgeschichte gemacht hat. Um es vorweg zu nehmen, der fast 600 Seiten starke Sammelband wartet durchaus mit spannenden neuen Ergebnissen zu den Prozessen der europäischen Integration auf, insbesondere das erste Kapitel zu den politischen Akteuren ist gut gelungen. Zu bemängeln ist indes die fehlende innere Kohärenz des Bandes, zu viele Exkurse stehen einer zusammenfassenden Gesamtschau im Weg.

Dies wird vor allem an den nicht eingelösten Ansprüchen des einleitenden Beitrags über Trends und Kontroversen der Integrations-Historiografie evident. Mareike König und Matthias Schulz werfen darin zentrale Leitfragen auf, die bislang nur in Ansätzen in den Geschichtswissenschaften beantwortet wurden: „Das Bekenntnis zur europäischen Integration […] ist ein fester Bestandteil der politischen Kultur aller Bundesregierungen von Konrad Adenauer bis zu Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Welches sind die historischen Ursachen und Rahmenbedingungen für diese erstaunliche Kontinuität – insbesondere angesichts der Wankelmütigkeit mancher benachbarter Nationen und der Zäsuren der deutschen Einheit von 1989/90, der Gründung der Europäischen Union mit dem Maastrichter Vertrag sowie der teilweise umstrittenen Einführung des Euro und der Osterweiterung?“ (S. 15) Diese spannenden wie aktuellen Fragen der Herausgeber stehen jedoch nicht im Zentrum der Beiträge, was sich bereits daran ablesen lässt, dass die Mehrzahl der in dem Band enthaltenen Studien den Zeitraum der Fünfziger- bis Siebzigerjahre abdeckt.

So wird in Kapitel I die Europapolitik von Konrad Adenauer, Theodor Heuss, Hans von der Groeben, Ludwig Erhard, dem ehemaligen Außenminister Gerhard Schröder, von Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Joschka Fischer untersucht. Die methodische Herangehensweisen und Fragestellungen der hier in diesem Kapitel enthaltenen Beiträge unterscheiden sich stark. Wilfried Loth beispielsweise sieht den Schlüssel zum Verständnis der Europapolitik Konrad Adenauers in seiner Herkunft und wählt demzufolge einen zunächst biografischen Zugang zum besseren Verständnis Adenauers Europapolitik. Mit Recht, so schließt die detailreiche Studie, könne man Adenauer auch zu einem der „Väter Europas“ (S. 59) zählen. Guido Müllers Beitrag über Theodor Heuss rückt die Frage in den Mittelpunkt, seit „wann und mit welchen Wandlungen […] sich bei Heuss dieses Bekenntnis zur deutsch-französischen Kooperation und sein Bemühen um einen europäischen Neuanfang nach 1945 nachweisen“ lasse. (S. 61) Müllers detailgenaue Darstellung beleuchtet damit einen bislang kaum diskutierten Aspekt. Sein Fazit lautet, dass Heuss nach 1949 „das ganze politische und moralische Gewicht des Bundespräsidenten“ für die Westintegration „in die Waagschale“ gelegt und damit zu einem „wichtigen Teil zum Gelingen“ des Projekts beigetragen habe (S. 83). Aufschlussreich ist auch Jürgen Elverts Beitrag über Hans von der Groeben, insbesondere da darin bislang unveröffentlichte Gespräche mit dem ehemaligen EG-Kommissar aufgearbeitet werden. Elvert beschreibt den Weg vom „Zufallseuropäer“ van der Groeben zum „Überzeugungstäter“ (S. 95) klar und anschaulich. Es folgen Aufsätze über den „gescheiterten Europäer“ Ludwig Erhard, den „großen Europäer“ Kiesinger, den „Internationalisten“ Willy Brandt und den „Protagonist des atlantischen Europas“ Gerhard Schröder. Durch besondere Quellendichte zeichnet sich der Beitrag von Torsten Oppelland aus. Er zeigt, dass „Schröder die europäische Integration in hohem Maß als einen komplementären Prozess zur politischen und militärischen Zusammenarbeit im Rahmen der NATO begriff“ (S. 135) und diese Überzeugung im politischen Alltag pragmatisch umsetzte. Besonderes Augenmerk muss auch dem Aufsatz von Matthias Schulz über den Vernunfteuropäer Helmut Schmidt gelten, dessen Europapolitik bislang kaum erforscht wurde. Schulzes abschließendes Urteil über die Europapolitik des Sozialdemokraten lautet, dass Schmidt sich in ökonomischer Hinsicht zum Europäer gewandelt habe, in verteidigungspolitischen Fragen aber ein Atlantiker geblieben sei.

Trotz der unterschiedlichen Zugänge, die alle Autoren für ihre Personenportraits wählen, wird insgesamt deutlich, wie engmaschig das Netz für europapolitisches Handeln geknüpft war, wie wenig Handlungsspielraum den Entscheidungsträgern zur Verfügung stand und wie unterschiedlich sie diesen zu nutzen verstanden.

Weniger konsistent sind die folgenden Kapitel des Bandes. Schon der zweite Abschitt über „Gesellschaftliche und wirtschaftliche Kräfte“ wirkt eher wie eine etwas willkürliche Sammlung nicht zusammengehöriger Aspekte. Nur Peter Krügers und Jeffrey Vankes Aufsätze über Europäische Identität und Europapolitik passen wirklich zur Kapitelüberschrift. Krüger beschreibt, in welchem Ausmaß die deutsche Europapolitik insbesondere in den Anfängen der Bundesrepublik von einem in der Bevölkerung getragenen Europabewusstsein gestützt worden sei. Jeffrey Vanke untersucht die öffentliche Meinung zwischen 1945 und 1966. Dabei zeigt sich, dass die europäische Integration zunächst und in erster Linie als probates Mittel der Friedenssicherung angesehen wurde. Es folgen Beiträge über die Hinwendung der Sozialdemokratie zur europäischen Einigung in den Jahren 1945 bis 1957 und über die Rezeption des europäischen Integrationsprozesses durch das Medium Film, wobei hier leider nur sehr wenig über die Rezeptionsgeschichte zu erfahren ist, die ja Aussagekraft über die Verankerung des Europabewusstseins bei der Bevölkerung hätte. Auch John R. Gillinghams Exkurs über die Konflikte, die sich für die deutsche Industrie im Rahmen der europäischen Wettbewerbspolitik ergeben haben, und Ilona Buchsteiners Aufsatz über die Integration der Landwirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns in den europäischen Agrarmarkt in den 1990er-Jahren wirken in diesem Kapitel deplaciert.

Das dritte Kapitel stellt bilaterale Beziehungen in den Mittelpunkt und untersucht, ob und inwieweit die Europapolitik durch das Verhältnis der Bundesrepublik zu einem anderen Land beeinflusst worden ist und wie sich andererseits die bilateralen Beziehungen zu anderen Staaten durch die deutsche Europapolitik verändert haben. Dies gelingt besonders gut in Iris Borowys Abhandlung über die deutsche Israelpolitik. Im Rahmen der EPZ gelang es Deutschland, seine Israelpolitik zu normalisieren und eine aktivere Rolle im Nahostgeschehen einzunehmen. Andererseits gelang es der Bundesrepublik, die europäische Nahostpolitik im Rahmen der EPZ aktiv mitzugestalten, so die These. Auch Francoise Berger gelingt es, den deutsch-französischen Kompromiss in der Frage der Stahlindustrie im Kontext der gesamteuropäischen Integration neu zu akzentuieren, wenngleich dieser Aspekt sehr speziell ist. Mareike Königs Aufsatz über die Presseberichterstattung in Le Monde und Le Figaro in den Jahren 1950 bis 1955 über die Wiederbewaffnungsfrage und Bert Beckers Überlegungen zur deutsch-niederländischen Nachbarschaft in Europa sprengen indes den ohnedies weit gefassten Rahmen dieses Kapitels. König gelingt es nicht, das allgemeine deutsch-französische Verhältnis am Beispiel der Presseberichterstattung zu charakterisieren und die alles überspannende europapolitische Klammer für das spannungsreiche bilaterale Verhältnis herauszuarbeiten. Und auch Becker entfernt sich mit der Beschreibung der Einflüsse der Europapolitik auf das deutsch-niederländische Verhältnis zu sehr von den eigentlichen Fragestellungen des Buches. Auch Gerald R. Kleinfelds Essay über eine neue Spannungslinie zwischen den USA und dem „alten Europa“ wirkt angesichts des essayistischen und politisierenden Stils unpassend, zumal sich – bedauerlicherweise – sonst keiner der Beiträge ausführlich mit den Entwicklungen der letzten eineinhalb Jahrzehnte befasst.

Im vierten Kapitel werden die Zusammenhänge zwischen der deutschen Frage und der Europapolitik hergestellt. Dabei ist ein besonderer Schwerpunkt auf die frühe Nachkriegszeit gelegt. Ulrich Pfeils Beitrag über die SED-Politik im Hinblick auf die europäische Integration und Jana Wüstenhagens Aufsatz über die DDR zwischen Parteidoktrin und Realpolitik ergänzen sich vortrefflich und geben einen gelungenen Einblick in die „andere“ Seite deutscher Europapolitik. Pfeil stellt heraus, dass die Reaktionen der SED auf den europäischen Einigungsprozess stets den Prämissen der SED untergeordnet blieben. Jana Wüstenhagen macht deutlich, dass die DDR-Europapolitik bis zum Ende der DDR sehr starr an die Haltung der Sowjetunion geknüpft wurde. Mit Joachim Scholtysecks Ausführungen über die Haltung der DDR im Rahmen der europäischen Entspannungspolitik und mit Michael Gehlers sehr gut skizzierter, wenngleich sehr spezieller Darstellung der Debatte zwischen Richard Coudenhove-Kalergi, Fritz Erler und Ernst Friedländer endet auch dieses Kapitel mit zwei mit Sicherheit spannenden, aber nicht ganz so in den Rahmen des Bandes passenden Artikeln, wenngleich Gehler anschaulich nachweist, wie eng die deutsche Frage und die europäische Einigung in den Gründerjahren der Republik in einem Kontext gesehen wurden.

Das Schlusskapitel enthält keine zusammenfassende Schlussbetrachtung der Herausgeber, in denen die eingangs formulierten Fragen in einer Zusammenschau beantwortet oder modifiziert würden, stattdessen stellt das fünfte Kapitel die Frage „E pluribus unum?“. Eine erste Antwort auf diese schwierige Frage gibt nur der Aufsatz von Yves Bizeul. Anke Johns Aufsatz über den europäischen Verfassungsdiskurs in der Bundesrepublik zwischen 1981 und 1986 zeichnet stattdessen die Entwicklung des deutschen Europabewusstseins auf Elitenebene nach, ohne aber diesen in einen allgemeineren Rahmen einzubetten. Bizeul hingegen führt zunächst in die Theorieansätze über kollektive Parallelidentitäten ein und beschreibt dann das zögerliche Aufkommen einer europäischen Identität in Europa. Solange Europa jedoch, so resümiert Bizeul über keine gemeinsame Symbolsprache, über kein kollektives gemeinschaftliches Gedächtnis, keinen territorialen Rahmen, keinen gemeinsamen Namen und kein gemeinsam formuliertes Wertesystem verfüge, werden, davon könne man ausgehen, „multiple Kollektividentitäten noch lange Zeit bestehen“ (S. 593). Inwieweit dieses Faktum eine weitere Determinante deutscher Europapolitik ist, bleibt abzuwarten.

Mareike Königs und Matthias Schulzes Sammelband ist als eine gelungene Zusammenstellung zentraler, teilweise neuer, Aspekte deutscher Europapolitik zu würdigen. Insbesondere die Darstellung der DDR-Europapolitik gehört zu den Glanzlichtern des Bandes. Eine systematische Aufarbeitung der Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns innerhalb der deutschen Europapolitik ist er nicht. Wenn man sich aber von diesem Anspruch löst, so ist das Buch ein spannender Einstieg in viele geschichtswissenschaftlich relevante Fragen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension