H. Kaelble u.a. (Hgg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin; Schmidt-Gernig, Alexander
Erschienen
Berlin 2002: Campus Verlag
Anzahl Seiten
443 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Große Kracht, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Soziologische und geschichtswissenschaftliche Forschung bewegt sich noch heute allzu oft im engen nationalstaatlichen Rahmen. Unterschwellig wird eine Art „Container-Theorie der Gesellschaft“ akzeptiert, nach der der Nationalstaat mit seinen territorialen Grenzen den gleichsam natürlichen Raum abgibt, in dem überhaupt sinnvoll geforscht werden kann. Diese häufig genug unreflektierte Annahme, die den Prozess der Verwissenschaftlichung des Sozialen im 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat, hat mit dem Übergang von der „ersten“ zur sogenannten „zweiten Moderne“, in der sich die Gesellschaft als eine globale, als Weltgesellschaft darstellt, in den letzten Jahren immer mehr an Plausibilität verloren.1 Vor diesem Hintergrund sind Veröffentlichungen wie die vorliegende besonders zu begrüßen, in der Perspektiven und Strategien für die geschichtswissenschaftliche und soziologische Erforschung globaler Strukturen vorgestellt und diskutiert werden.

Der Sammelband von Hartmut Kaelble, Martin Kirsch und Alexander Schmidt-Gernig verdient um so mehr Beachtung, als die Herausgeber sich bewußt zum Ziel gesetzt haben, die vorgezeichneten Pfade internationaler Politik- und Akkulturationsforschung zugunsten eines „transnationalen“ Ansatzes zu überwinden, der sich „von der starken Fokussierung auf Territorialität und damit vom Modell einer homogenen, territorial verankerten Gesellschaft lösen und stärker auf Bewegungen zwischen Gesellschaften und damit auf ‚Ströme‘ (flows) und ‚Netzwerke‘ (networks) konzentrieren“ soll (S.10).

Allein dies wäre in methodischer Hinsicht schon Herausforderung genug, doch die Herausgeber bürden sich und den Autoren des Bandes noch eine zusätzliche Bringschuld auf, indem sie gleich zwei, in ihrer empirischen Operationalisierbarkeit in den letzten Jahren heftig umstrittene Begriffe neu, und noch dazu im übernationalen Raum zu vermessen unternehmen: „Öffentlichkeit“ und „Identität“.2 Den Herausgebern gelingt es jedoch in ihrer präzisierenden Einleitung, beide Begriffe trotz ihrer zum Teil unüberschaubaren begriffsgeschichtlichen Untiefen als empirische Untersuchungsgegenstände jenseits des Nationalstaats sinnvoll auszuweisen. So verstehen sie unter „kollektiven Identitäten“ in gut konstruktivistischer Manier nicht mehr als imaginierte „Zugehörigkeitsvorstellungen“ innerhalb sozialer Gruppen, die auf unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Ebenen angesiedelt sein können (S. 20). Lässt sich von „kollektiver Identität“ somit sinnvoll nur im Plural reden, so gilt das gleiche für den Begriff der „Öffentlichkeit“, der von den Herausgebern im Anschluss an eine mittlerweile gängige Unterscheidung auf die drei unterschiedlichen Ebenen von ‚Encounter‘-, ‚Versammlungs‘- und ‚Medienöffentlichkeit‘ umgebrochen wird (S. 23).

Kaelble, Kirsch und Schmidt-Gernig gehen nun davon aus, „dass kollektive Identitäten vor allem über die verschiedenen Kanäle der Öffentlichkeiten manifest und schließlich handlungsleitend relevant werden“ (S. 13). Der Annahme einer solchen engen Kopplung von „Öffentlichkeiten“ und „kollektiven Identitäten“ widerspricht allerdings - zumindest für den transnationalen Raum - der Grundtenor im empirischen Befund des Bandes. Auch wenn hier nicht alle sechzehn Beiträge ausführlich gewürdigt werden können, so stimmen doch fast alle Autorinnen und Autoren darin überein, daß im 20. Jahrhundert zwar ein deutlicher Anstieg an transnationaler Kommunikation im gesellschaftlichen Bereich zu verzeichnen ist, wofür beispielhaft auf die Geschichte der Frauenbewegung (Susan Zimmermann, S. 237-302), auf die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre (Ingrid Gilcher-Holtey, S. 303-325) oder auf die Ausweitung des weltweiten Menschenrechtsdiskurses seit dem Zweiten Weltkrieg (Hans Peter Schmitz, S. 423-443) verwiesen werden kann.

Eine parallel verlaufende Ausweitung an „kollektiver Identität“ in den transnationalen Raum hinein lässt sich den Beiträgen jedoch nicht ohne weiteres entnehmen. Dies gilt insbesondere für den europäischen Bereich, für den Kurt Imhof (S. 37-56) und Jürgen Gerhards (S. 135-158) sogar ein „Öffentlichkeitsdefizit“ feststellen, das sich bei genauem Hinsehen jedoch eher als ein ‚Identitätsdefizit‘ zu erkennen gibt. So zeigt Martin Kohli in seinem Beitrag (S. 111-134) auf der Grundlage des statistischen Befundes des seit 1972 regelmäßig durchgeführten „Eurobarometer-Surveys“, dass die Identifizierung der EU-Bevölkerung mit „Europa“ weit hinter den traditionell überlieferten nationalstaatlichen Identitäten, aber auch hinter dem globalen Zugehörigkeitsgefühl zur Weltgesellschaft zurückbleibt.

Wie schwach es um das europäische Identitätsgefühl bestellt ist, zeigt ebenfalls der reich dokumentierte Überblicksartikel von Thomas Fetzer über die Tätigkeiten transnationaler Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf europäischer Ebene (S. 355-392): „Schon bei einem oberflächlichen Blick auf das Ensemble der europäischen Zivilgesellschaft fällt auf, dass - sieht man von den Bewegungen zur Verbreitung der Europaidee ab - eine gesamtgesellschaftliche Orientierung nahezu vollständig fehlt. Sofern zivilgesellschaftliche Organisationen ein europäisches ‚Wir-Gefühl‘ beförderten, so handelte es sich um partikulare und sehr stark kontextabhängige Identitäten“ (S. 379).

Ein struktureller Zusammenhang von „Öffentlichkeit“ und „kollektiver Identität“, wie er sich idealtypisch für die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft zur Zeit der Nationalstaatsbildung feststellen ließ, lässt sich für die Zeit der beginnenden ‚zweiten Moderne‘ somit kaum mehr ausweisen. Vielmehr scheinen wir es gegenwärtig mit einer Vielzahl von „zerstreuten Öffentlichkeiten“ und vermutlich mit ebenso vielen zerstreuten und nicht zuletzt hybriden Identitäten zu tun zu haben.3 Die Erfahrung von kultureller „Diaspora“, wie sie Dominic Sachsenmaier im vorliegenden Band am Beispiel der Überseechinesen in Südostasien darstellt (S. 211-235), oder diejenige von „Exil“, die Martin Kirsch anhand der Lebensschicksale emigrierter Geisteswissenschaftler aus Deutschland und Frankreich zwischen 1930 und 1960 untersucht (S. 179-209), scheinen heute eher der kommunikativen Alltagswirklichkeit der Weltgesellschaft zu entsprechen als die von Aristoteles über Kant bis zu Hannah Arendt und Jürgen Habermas überlieferten alteuropäischen Vorstellungen einer ‚deliberativen‘ Öffentlichkeit, in der die res publica ihre Identität gemeinschaftlich ausbildet und zur Schau stellt.

An die Stelle positiver Identitätsangebote scheinen heute, wenn überhaupt, vielmehr negative Selbstbeschreibungen zu treten, die nichtsdestotrotz transnationale Verständigung geradezu befördern können. Bernhard Giesen zeigt dies am Ende seines sehr instruktiven Beitrags (S. 67-84) am Beispiel der gegenwärtig überall wahrnehmbaren Zunahme öffentlicher Entschuldigungsgesten im zwischenstaatlichen Bereich: „Während die Feiern eines triumphalen Sieges einer Nation jenseits der Grenzen, im Lande der Besiegten, Bitterkeit und Ressentiment auslösen, wirkt das gemeinsame Opfergedenken durch die politischen Repräsentanten der Sieger und Besiegten von gestern versöhnend. Öffentliche Versöhnungsrituale und ihre Darstellung in den Medien stützen daher ex negativo die Konstruktion transnationaler Identitäten. Solche transnationalen Identitäten betonen den Bruch mit einer Vergangenheit der Feindschaft, die sich nicht wiederholen soll - ohne dabei freilich diese kollektive Identität positiv konturieren zu können“ (S. 80). Mit anderen Worten: die alte politische Identitätsformel von ‚Freund‘ und ‚Feind‘ (Carl Schmitt) wird ersetzt durch die anthropologisch-universale von ‚Täter‘ und ‚Opfer‘. So bietet der vorliegende Band reichhaltiges Material, um an der Revision der Grundbegriffe, die uns die ‚zweite‘, die ‚reflexive‘ Moderne abverlangt, weiterzuarbeiten.

Anmerkungen:
1 Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt 1997, S. 49ff.
2 Vgl. Rudolf Maresch (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche, München 1996; Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjuktur, Reinbek 2000.
3 Vgl. Jürgen Fohrmann, Arno Orzessek (Hgg.): Zerstreute Öffentlichkeiten. Zur Programmierung des Gemeinsinns, München 2002.

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