M. Brenner; D.N. Myers (Hgg.): Jüdische Geschichtsschreibung heute

Cover
Titel
Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen


Herausgeber
Brenner, Michael; Myers, David N.
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Aust, Friedrich-Meinecke Institut, Freie Universität Berlin

Angesichts der Breite der jüdischen Geschichte als auch der Vielfalt der Ansätze und Kontroversen der allgemeinen Geschichtswissenschaft, stecken sich die Autoren des vorliegenden Bandes das lobenswerte Ziel, „nicht nur den Dialog zwischen verschiedenen Forschergenerationen zu pflegen, sondern auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selbst miteinander ins Gespräch zu bringen“ und darüber hinaus „die Grenze zwischen jüdischer Geschichte und benachbarten Forschungsgebieten zu überqueren“ (8). Das Buch ist dafür in sechs Themenbereiche gegliedert (Ideologie und Objektivität, Geschichte und Gedächtnis, Religion und Modernisierung, Jüdische Geschichte und Frauengeschichte, Zionismus und Nationalismus, Der Holocaust und historisches Denken), die jeweils drei Aufsätze enthalten. Zuerst skizziert ein jüngerer Forscher das Thema und stellt seine Thesen vor, die dann von einem Fachkollegen kritisiert, kommentiert oder ergänzt werden. Im dritten Aufsatz äußert sich jeweils ein Kollege, der sich nicht speziell mit jüdischer Geschichte befasst und die zuvor aufgeworfenen Fragen vom Blickpunkt der allgemeinen Geschichtswissenschaft beleuchten soll.

Im ersten Teil gibt Michael Brenner einen Abriss über die Geschichte der jüdischen Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert und konstatiert das Ende der Großnarrative in der jüdischen Geschichtsschreibung. In seinem abschließenden Kommentar zu diesem Themenbereich geht Georg G. Iggers noch einmal auf diese Frage ein und empfiehlt trotz aller Schwierigkeiten auch den Versuch großer Synthesen, allerdings nicht im Sinne hierarchisierter Nationalgeschichten, nicht auszuschließen. Als Hauptaufgabe sieht er es, Mythen zu dekonstruieren, darunter auch die der Schilderung jüdischer Identität, die, so Iggers, immer pluralistisch und fragmentiert ist (50). Anschließend stellt Brenner Historiker wie Moshe Idel, Israel Yuval und die sogenannten neuen israelischen Historiker und ihre Thesen, die für z.T. scharfe Auseinandersetzungen sorgten, vor (23). Dabei zeigt sich, wie umfangreich und vielfältig das Gebiet jüdischer Geschichtsschreibung ist und die Schwierigkeit, den Ort jüdischer Geschichte in der allgemeinen Geschichtswissenschaft zu bestimmen. Darüber hinaus wirft er eine Reihe Fragen auf, die sich vielfach auch in anderen Aufsätzen des Bandes wiederfinden, u.a. ob die jüdische Geschichte mit der selben Offenheit diskutiert wird wie andere Bereiche der Geschichtsschreibung. Er fragt z.B., ob es möglich ist „über jüdische Rachepläne (zum Beispiel im Anschluß an den Holocaust) zu diskutieren, wenn der Antisemitismus noch so virulent ist ...“ und ob nichtjüdische Gelehrte mit derselben Unbefangenheit jüdische Geschichte schreiben können wie ihre jüdischen Kollegen (28). Gerade die letzte Frage wird weder von ihm noch von anderen Autoren diskutiert oder beantwortet, oft scheint der Konsens vorzuherrschen, jüdische Geschichte sei eine Angelegenheit jüdischer Historiker. Demgegenüber wird sehr viel offener, u.a. im Beitrag von Michael A. Meyer das Verhältnis zwischen jüdischer und israelischer Geschichtsschreibung diskutiert.

Das Thema „Geschichte und Gedächtnis“ stellt für David N. Myers den wichtigsten Ort jüdischer Selbstreflexion im modernen Geschichtsdiskurs dar. Er analysiert diese Reflexion im Kontext des allgemeinen Erinnerungsdiskurses (55). Dabei kritisiert er v.a. die seiner Meinung nach vorherrschende Tendenz jüdischer Historiker, ihre Methode, die eine stabile Form der Gruppenidentität ermögliche, kaum zu hinterfragen. Vor allem Yosef Hayim Yerushalmi hält er vor, in Zachor den, durch moderne Selbstreflektion ausgelösten, Verlust eines reichen und tröstenden Kollektivgedächtnisses zu beklagen. 1 Er selbst dagegen begrüßt die Hinwendung zur Selbstreflexion als Möglichkeit, um einerseits das Gebiet der jüdischen Geschichtswissenschaft neu zu beleben und andererseits jüdische Identität neu zu formulieren (73). Yerushalmi setzt sich in seinem Aufsatz gegen diese Vorwürfe zur Wehr. Zachor sei für ihn ein Versuch, die Stellung der Geschichtsschreibung für die jüdische Geschichte zu verstehen. Darüber hinaus widerspricht er Myers Behauptung, ideologische Bindung schließe das Streben nach Objektivität aus (88). Den allgemeinen Beitrag zu diesem Thema liefert Jan Assmann, der auf das Verhältnis von Geschichte und Diskontinuität hinweist und vorschlägt, zwei Formen von Geschichte zu unterscheiden: Geschichte, die Diskontinuität und Entfremdung erzeugt und damit das Gegenteil von Erinnerung ist, und Geschichte als Erinnerung, die durch Diskontinuität und Entfremdung erst erzeugt wird (96).

Besonders in den Aufsätzen zu „Religion und Moderne“ zeigt sich, welchen Einfluss die Herkunft und Bindungen des Historikers auf seine Einschätzungen historischer Entwicklungen haben. So stellt der israelische Historiker Shmuel Feiner seine These von der traumatischen Begegnung des jüdischen Volkes mit dem modernen Europa in den Rahmen des Konflikts zwischen religiösen und säkularen Juden in Israel (105). Durch die Begegnung mit der Moderne sei das Judentum eine polarisierende Kraft geworden. „Aufgabe einer künftigen Geschichtsschreibung der Juden, des Judentums und der Moderne“ sei es nun, „die Geschichte der Säkularisierung zu rekonstruieren und mit Empathie einzudringen in die Erfahrungswelt der Rebellen gegen die Religion, der Umgestalter der Religion und der jeglicher Modernisierung feindlich gesinnten Orthodoxie.“(121) Seinen abweichenden Standpunkt führt Steven M. Lowenstein u.a. auf die Erfahrung in der amerikanisch-jüdischen Gemeinde und ihre größere Vielfältigkeit zurück. Theologische Diskussionen seien weniger hitzig und die Begegnung mit der Moderne werde von vielen amerikanischen Juden nicht als traumatisch, sondern als Chance zur Weitereinwicklung gesehen (126). Auch der Auffassung von Friedrich Wilhelm Graf, der den 3. Aufsatz verfasste, widerspricht Lowenstein zum Teil und warnt vor allem vor einer zu starken Harmonisierung, auch wenn er die Wichtigkeit des Vergleichs zwischen den Religionen durchaus anerkennt. Graf vertritt den Ansatz einer „shared history“, die in den Mustern der „Erfindung von Tradition“ und in den Strategien der Konstruktion von Identität in den verschiedenen Religionen nachgehen soll (136). Doch, so Lowenstein, Religionsgeschichte sei nicht nur „shared history“. Gerade die Reaktionen eines Minderheitsglaubens auf die Moderne können durchaus von denen des Mehrheitsglaubens abweichen (127f.).

Eine kontroverse Diskussion zum Thema jüdische Geschichte und Frauengeschichte entspannt sich zwischen Susannah Heschel und Paula Hyman. Nach einem kurzen Abriss der Darstellung von Frauen in der jüdischen Geschichtsschreibung, äußert sich Heschel v.a. besorgt über die Tendenz jüdischer Frauenstudien, Jüdinnen als Opfer oder Heldinnen der Weltgeschichte darzustellen und fordert ein komplexeres Bild vom Wesen der Macht wie vom Leben der Frau (139). Darüber stellt sie die scharfe Trennung von Öffentlichkeit und privatem Raum in Frage und schlägt vor, v.a. nach der Herr-Knecht-Struktur dieser beiden Räume zu suchen (154). Während Ute Frevert in ihrem abschließenden Aufsatz Heschel weitestgehend unterstützt, versucht Paula Hyman auf die Grenzen der postmodernen und feministischen Theorien für die Fragen der HistorikerInnen hinzuweisen und konstatiert als wichtigsten Punkt, dass es eben die Macht der HistorikerInnen sei, zu definieren, was historisch bedeutsam ist (164). Dabei hält sie v.a. eine neue Definition von Kultur für unabdingbar: „Der jüngste Ansatz, Kultur als Praxis und nicht als Symbolsystem oder Diskurs zu verstehen, erlaubt der historischen Analyse wieder die Berücksichtigung sozialer Faktoren und konkreter Erfahrung.“ (168)

Ein besonders schwieriges Kapitel der jüdischen Geschichtsschreibung ist bis heute die eines zionistischen, nationalen Narrativs, das Amnon Raz-Krakotzkin als ein, das Exil negierendes, auf Erlösung gerichtetes Fortschrittsnarrativ beschreibt und dabei betont, dass das zionistische Nationalbewusstsein nicht unabhängig von einem traditionellen theologischen Mythos gewesen sei, sondern diesen nur neu interpretiere (182, 187). Daher fordert er als einzige Option der Säkularisierung jüdischer Geschichtsschreibung eine bi-nationale Perspektive, die einerseits die Perspektive des Exils einbindet und für Raz-Krakotzkin gleichzeitig zur „Entkolonisierung der jüdischen Identität“ führt – einzige Möglichkeit auch palästinensische Erinnerung im Zusammenhang mit der Geschichte Israels wahrzunehmen (199). Dan Diner, der Raz-Krakotzkin weitestgehend zustimmt, versucht dessen geistesgeschichtlichen Ansatz durch einen historisch-anthropologischen zu ergänzen. Dabei wirft er u.a. die Frage nach der Konstruktion jüdischer historischer Narrative und nach den verschiedenen Geschichtserfahrungen europäischer und orientalischer Juden, die sich im israelischen Geschichtsdiskurs gegenüberstehen, auf (208). Rogers Brubaker korrigiert zwei Punkte in Raz-Krakotzkins Überlegungen. Er weist darauf hin, dass Erlösungsvorstellungen in vielen nationalen Narrativen auftauchen. „Jedenfalls scheint mir das Entscheidende an nationalistischen Geschichtsschreibungen nicht zu sein, dass sie theologisch, sondern dass sie teleologisch sind, indem sie die Geschichte von ihrem Ausgang her lesen, vom Standpunkt einer gegenwärtigen oder projizierten zukünftigen Situation, und alles aussieben, was historisch nicht in diese teleologische Linie hineinpasst.“ (219) Auch hinterfragt Brubaker den Sinn einer bi-nationalen Perspektive in Bezug auf Israel und Palästina, da diese weiterhin nationsbezogen bleibe, anstatt sich auf „ein unscharfes komplexes Feld, auf dem nationale Ansprüche erhoben werden“, zu beziehen (226).

Der letzte Teil bietet eine kontroverse Diskussion zur Geschichtsschreibung des Holocaust, wobei sich neben der augenscheinlichen Trennlinie zwischen deutschen und israelischen bzw. jüdischen Historikern auch andere Kontroversen zeigen. Der israelische Historiker Yfaat Weiss lehnt die seiner Ansicht nach v.a. in Deutschland vertretene Auffassung von einer kategorischen Trennung zwischen mythischer Erinnerung und professioneller Geschichtsschreibung ab (229).2 Heute verwundere vor allem Ulrich Herberts „Selbstgewissheit“ in Bezug auf die „für historische Untersuchungen geltenden positivistischen Prinzipien“, wobei die Schlüsselfrage doch sei, „wie eine Forschungsfrage überhaupt entsteht“ (244).
Weiss hält jedoch auch nicht mit seiner Kritik an der israelischen Geschichtsschreibung zur Shoa zurück, der er eine zu enge Verknüpfung vieler Historiker mit „Orten der Erinnerung“ wie Yad Va Shem und eine methodische Isolation vorwirft (232). Wie nicht anders zu erwarten widerspricht Ulrich Herbert in seinem Beitrag „Deutsche und jüdische Geschichtsschreibung über den Holocaust“ Weiss energisch. Zwar sieht er den Mythos als Teil der Verarbeitung von Geschehenem, aber Aufgabe des Historikers sei es, Geschichte soweit wie möglich zu rekonstruieren und die meist verwobene Gemengelage herauszuarbeiten, darzustellen und zu analysieren. Daher verlaufe die entscheidende Grenze auch nicht zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung, sondern zwischen fiction und non-fiction (248). In der Holocaust-Historiographie sieht er jedoch noch ein anderes „Spannungsfeld“ – das zwischen „cultural turn“, auf den sich Weiss bezieht, und der von ihm vertretenen „Politik- und Sozialgeschichte“. Seltsam mutet dabei seine Wahrnehmung an, nur brisante politische Fragen könnten „die Öffentlichkeit in Wallung versetzen“ und er befürchte: „dass sich die Geschichtswissenschaft mit dem Sieg des ‚cultural turn’ in den USA in Zukunft dem Schicksal von Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie annähern wird: sehr elegant, sehr speziell, sehr langweilig – und nahezu ohne jegliche öffentliche politische Bedeutung“ (249). Es scheint ihm dabei entgangen zu sein, dass sich z.B. Daniel Goldhagen, dessen Buch unbestritten eine breite Öffentlichkeit „in Wallung versetzte“, explizit auf Modelle der Kulturgeschichte bezieht. 3 In seinem abschließenden Beitrag widerspricht Saul Friedländer Herberts Vorwurf, der Dekontextualisierung durch die US-amerikanischen „Holocaust-Studies“. Eine Loslösung vom historischen Kontext könne man Gelehrten wie Omer Bartov, Richard Breitman oder Henry Friedländer wirklich nicht vorwerfen. Dass Herbert jedoch „in bezug auf Deutsche, Juden und Holocaust“ eine Front in der Historiographie zwischen denjenigen, die den „cultural turn“ akzeptieren und denen, die ihn verwerfen, aufmacht, hält er für eine „sonderbare Schlussfolgerung“ (263).

Der vorliegende Band gibt weitgefächert Auskunft über die aktuellen Debatten in der jüdischen Geschichtsschreibung und bietet auch eine Grundlage für die Frage, inwieweit Jüdische Geschichte eine eigene akademische Disziplin ist oder sein sollte, oder ob sie vielmehr ein Bereich der Geschichtswissenschaften ist. Dafür spräche zumindest der deutliche Einfluss allgemeiner geschichtswissenschaftlicher Debatten auf die jüdische Geschichtsschreibung. Ein Manko der jüdischen Geschichtsschreibung wird allerdings fortgeschrieben: Auch wenn einige Autoren kurz die Geschichte der orientalischen Juden (ähnliches gilt für die sephardischen Juden) ansprechen, so bleibt die Grundlage der Diskussion das aschkenasische Judentum und dessen Traditionen.

Anmerkungen:
1 Yosef Hayim Yerushalmi, Zakhor: Jewish History and Jewish Memory, New York 1989 [dt.: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1996].
2 Als positives Gegenbeispiel, das beide Narrative verbindet, nennt er: Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 2000.
3 Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 30.

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