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Titel
Stalins Filmpolitik. Der Umbau der sowjetischen Filmindustrie 1929-1938


Autor(en)
Nembach, Eberhard
Reihe
Filmstudien 17
Erschienen
St. Augustin 2001: Gardez! Verlag
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günter Agde, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die deutschsprachige Forschung zur sowjetischen Filmgeschichte ist nicht eben reich. Schon vier Jahre zurück liegt die Publikation der Ergebnisse eines großangelegten Projekts, das unter Leitung von Christine Engel (Innsbruck) eine Geschichte des russischen und sowjetischen Films als Sammelband mehrerer Aufsätze anbot. 1 Sie waren im wesentlichen chronologisch strukturiert und boten eher einen Grob-Überblick, einen Schnell-Durchgang und nur in Details eine neue Sicht, etwa bei Zensurvorgängen einzelner Spielfilme.

Äußerst selten auch stützen punktuelle deutsche Arbeiten zu einzelnen sowjetischen Filmkünstlern solche Überblicksdarstellungen wie etwa die Publikation der Tage- und Arbeitsbücher des bedeutenden sowjetischen Dokumentarfilmregisseurs Dsiga Wertow (1896-1954) durch Thomas Tode und Alexandra Gramatke, mit gründlichen Kommentaren und solider Filmo- und Bibliographie. 2 Immerhin war Wertow einer der wichtigsten sowjetischen Dokumentarfilmer, dessen expressiv-dramatische Experimente erheblich zur Formensprache des modernen Kinos beigetragen haben ( „Der Mann mit der Kamera“1929).

Aber insgesamt bleibt die publizierte Forschungslandschaft leider karg. Das Versickern des noch vor einem Dutzend Jahren sehr starken deutschen Interesses an der sowjetischen Filmgeschichte deutet darauf hin, dass die Globalisierung der Wissenschaften diese Geschichtsschreibung noch nicht erfasst hat und dass die „neue Zugänglichkeit“ zu ehemals verschlossenen Archiven derzeit noch wenig Anreiz zu außer-russischen Filmforschungen bietet. Und schließlich haben die Veränderungen in der deutschen Kinolandschaft, vor allem die Verzweiflungskämpfe vieler Programmkinos um ihre pure Existenz, auch dazu geführt, dass die sowjetischen Filme, die Filmgeschichte geschrieben haben, immer mehr in Vergessenheit geraten und somit auch kein Nachwachsen wissenschaftlichen oder gar öffentlichen Interesses bewirken.

Eberhard Nembach legt mit seiner Dissertation über die Stalinsche Filmpolitik von 1929 bis 1938 eine außerordentlich interessante und vor allem enorm materialreiche Arbeit vor: Der dargestellte 10-Jahres-Ausschnitt aus der gesamten sowjetischen Filmentwicklung ist außerordentlich signifikant und repräsentativ. In diesen Jahren nämlich hat Stalin die Eingliederung und letztlich Unterwerfung der sowjetischen Filmkunst in die Indoktrinationen der Sowjetideologie organisieren lassen, hat sie befördert und kanalisiert. Von dieser Strategie lassen sich diverse aufschlussreiche „Hochrechnungen“ auf andere Felder von Kunst und Kultur in jenen Jahren leicht anstellen.

Nembach konnte in Moskauer Archiven, vor allem im ehemaligen KPdSU-Archiv, zahlreiche markante und lange sekretierte Führungsdokumente aus der engeren Parteiführung auswerten. Er hat keine vorgefasste These, die er zu beweisen sucht, sondern er geht weithin empirisch vor, indem er just jene Dokumente minutiös prüft und aus ihnen die jeweils prägenden Komponenten, d.h. die Absichten und Aktionen der Stalinschen Film- und Kino-Ambitionen, herausdestilliert, sie zueinander ordnet, daraus Schlussfolgerungen formuliert und Ergebnisse beschreibt. Das gelingt ihm schlüssig und plausibel. Tatsächlich gerät seine Strukturgeschichte so zur Politisierungs- und Indoktrinierungsgeschichte. Da er zudem treffend zu formulieren weiß, liest sich die Arbeit insgesamt gut bis spannend.

Seine Begeisterung für die empirische Erkundung der Funktionsweise des Apparates lässt ihn allerdings leider die Filme selbst etwas vernachlässigen: Die künstlerisch-ästhetische Dimension der Stalinisierung der sowjetischen Filmkunst scheint so bedauerlicherweise nur knapp auf, allzu knapp, meine ich. Dieses Defizit macht sich besonders bemerkbar, wenn Nembach die erbarmungslose Liquidierung (1936) der damals wichtigsten Moskauer Filmproduktionsfirma, der Meshrabpom-Film, beschreibt. Meshrabpom-Film, eine gemischte deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft, war Produzentin derjenigen sowjetischen Filme, die seit der Mitte der 20er Jahre erhebliche Impulse (mit weltweiter Geltung!) für die Ausprägung der Formensprache des jungen Massenmediums Film ausstrahlte und die an vielen innovativen Schüben der internationalen Filmavantgarde maßgeblichen Anteil hatte. Auch konnten unter ihrem Dach nach 1933 emigrierte deutsche Filmkünstler (z.B. die Regisseure Erwin Piscator und Gustav von Wangenheim) antifaschistische Filmarbeit leisten. Der enorme ideelle und kulturelle Verlust, den die Liquidierung von Meshrabpom-Film bedeutete, ist mit der Beschreibung des Vorgangs allein unter dem Verzicht, die Innovationskraft des Studios in dessen Filmen darzustellen, nur andeutungsweise zu erfassen.

Den Beginn des Umbaus der sowjetischen Filmindustrie setzt Nembach mit dem imperativen Beginn der sowjetischen Planwirtschaft an. Das Vorspiel bildete eine erste Parteikonferenz zu Kinofragen 1928, deren Inszenierung und Instrumentarium Nembach untersucht und als frühen massiven - und im Stalinschen Sinne erfolgreichen - Versuch der sowjetischen Kommunistischen Partei ausmacht, unvermittelt-direkten Einfluss auf die damals noch vergleichsweise liberale, wenig revolutionskonforme (weil noch auf der NEP-Zeit basierende) Filmindustrie der 20er Jahre zu gewinnen. (Diese Konferenz wurde übrigens von der sowjetischen Filmgeschichtsschreibung nie so recht ernst- und folglich wahrgenommen, und die außersowjetischen Filmgeschichtsdarstellungen haben sie schlicht ignoriert.)

Die sowjetischen Filme jener Jahre, die man außerhalb der Sowjetunion kannte (und wohl bis heute auch noch kennt), sorgten als bedeutende avantgardistische Leistungen auf hohem ästhetischen Niveau zwar für die Verbreitung sowjetisch-sozialistischer Ideen im Ausland. Doch bildeten diese Filme in der Sowjetunion selbst eher eine kulturelle Minderheit insofern, als sie keine Zuschauererfolge, sondern eher Flops waren. Nembach macht auch später noch mehrfach deutlich, dass diese auslandsbekannten und -spektakulären Filme nicht den Kern der damaligen gesamt-sowjetischen Filmproduktion bildeten. Die Filmproduktion zielte auf heimisches Publikum und nicht auf Exporte ab. Und das heimische Publikum war vorwiegend ländlich strukturiert, weitgehend analphabetisch und in mehrere Dutzend Sprachen gegliedert. Stalins strikte Disziplinierung der Filmkunst setzte sich über jegliche Exportfähigkeit hinweg, sie war streng auf das heimische Publikum ausgerichtet. Insofern war jene Parteikonferenz auf innersowjetische Filmstrategien orientiert und nicht auf Exportchancen oder weltrevolutionäre Potentiale.

Und Nembach setzt früh an, was für die folgenden Jahre des Umbaus durch Stalin von gleich großer Wichtigkeit bleiben sollte: Das untrennbare Abhängigkeits- und Wechselverhältnis zwischen technischen Möglichkeiten der Filmproduktion (ein junger, stürmisch aufblühender Industriezweig!), deren ästhetisch-stilistischen Komponenten und der Partei-Indoktrination. Gerade die technologische Basis von Filmproduktion wird ja in filmgeschichtlichen Arbeiten oft unterschätzt oder gar ignoriert. Die hohe Arbeitsteiligkeit und der industrielle Grundcharakter der Filmproduktion und die technologischen und kommunikativen Strukturen der Filmdistribution – bis zur technischen und architektonischen Ausrüstung der Kinos – waren und bleiben in ihrer Rückwirkung von erheblicher Bedeutung für alles das, was Kunst am Film ist.

In allen diesen Bereichen war die Sowjetunion nach dem Ausschalten privater Filmproduzenten zum Ende der NEP-Zeit weit hinter die europäischen oder gar amerikanischen Standards zurückgefallen. Der Umbau der sowjetischen Filmindustrie in den dargestellten Jahren bewirkte nun – neben der Unterordnung der Filmproduktion unter die Stalinschen Usurpationsbestrebungen - auch den energischen Anschluss der sowjetischen Filmproduktion in allen technischen und logistischen Belangen an den europäischen Standard, eine eigentümliche, filmhistorisch ebenso bedeutsame wie heutzutage amüsant anmutende Dialektik. Die Kinofizierung (= Kinofikazija, so ein damaliger terminus technicus) zielte auf eine landesweite, zuschauerfreundliche, kontinuierliche Versorgung mit dem seinerzeit modernsten Massenmedium Film - von der Produktion über Distribution bis zur Rezeption. Dass diese landesweite Versorgung dann nur solche Filme zuließ, die die Stalinsche Ideologie mittrugen und transportierten oder gar konstituierten, gehörte unabdingbar dazu. Diese durch Stalin mobilisierte Kinofikazija einschließlich ihrer totalitaristischen Strukturen bildete dann das Fundament für den gesamten Kino- und Filmbetrieb der Sowjetunion bis weit in die 80er Jahre. Die Liquidierung zahlreicher film-avantgardistischer Komponenten und Impulse, die im Zuge von Stalins Umbau in den 30er Jahren die sowjetische Filmkunst schwer geschädigt hatte, konnte erst in Folge des XX. Parteitags allmählich überwunden werden.

Eindringlich beschreibt Nembach Konzepte und Vorgehensweisen desjenigen Stalinschen Funktionärs, der als Leiter der Hauptverwaltung Film den Umbau der sowjetischen Filmindustrie ab 1930 praktisch bewerkstelligte: Boris Sacharowitsch Schumjazkij (1886-1938), seit 1903 Mitglied der Kommunistischen Partei, willensstarker und durchsetzungsfähiger Funktionär in den 20er Jahren in Sibirien, dann sowjetischer Botschafter in Teheran. Schumjazkij erkannte rasch die krisenhaften Symptome des gesamten sowjetischen Film- und Kinowesens und verknüpfte – taktisch durchaus geschickt und mit Geduld – deren Modernisierung mit der Stalinisierung. Er scheute sich nicht, Produktionsweise und Modernität der deutschen und US-amerikanischen Filmindustrie (der Filmindustrie des Klassengegners!) vor Ort zu studieren und diese Erfahrungen – in einer längeren Auslandsreise nach Berlin und Hollywood gewonnen – nach seiner Heimkehr lautstark, klassenkämpferisch kritisch und mit bemerkenswerten Scharfsinn auf die heimische Produktion umzulegen.

Damit hatte er auch Erfolg. Er fand bei vielen sowjetischen Filmschaffenden Zustimmung, wenngleich er den Grundwiderspruch nicht überbrücken konnte, den eine zentralistisch geleitete, planwirtschaftlich strukturierte und ideologisch indoktrinierte Filmproduktion im Vergleich zu westlichen Mechanismen darstellt. Schumjazkij förderte junge Talente des sowjetischen Films und favorisierte massenwirksamen Musikkomödien („Zirkus“, 1936, Regie: Grigorij Aleksandrow). Er festigte bei Stalin die Gewißheit von den Vorzügen des Tonfilms, obwohl die Umrüstung vom Stumm- auf den Tonfilm zunächst nicht schnell zu amortisierende Investitionen verlangte (hier, bei der Darstellung des gesamtsowjetischen Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm bleibt Nembach gegenüber anderen Teilen seiner Arbeit ziemlich unscharf), und er gewann den Diktator für innersowjetische Farbfilm-Experimente. Schumjazkij konnte auf dem direkten Wege über Stalin erhebliche zusätzliche finanzielle Mittel für „sein“ Gebiet akquirieren. Von Schumjazkij stammt auch der hybridische Plan, am Schwarzen Meer aus dem Nichts ein sowjetisches Hollywood, eine Film-Sonnenstadt zu bauen, der – natürlich – nicht realisiert wurde.

Bedingungslos trug er auch Stalins Filmästhetik mit: Der liebte das Revolutionsepos „Tschapajew“(1934, Regie: Georgij und Sergej Wassiljew ) so sehr, dass er sich den Film in einem Jahr 14 Mal ansah, was Schumjazkij, der die Vorführungen bei Stalin zu verantworten hatte, in seinen Notizen über die Filmnächte im Kreml mit Überdruss vermerkte. Aber Schumjazkij war auch verantwortlich für den barbarischen Umgang mit dem Wiederaufflammen avantgardistischer Impulse bei dem berühmtesten sowjetischen Filmregisseur, Sergej Eisenstein: Schumjazkij hat Eisensteins Film „Die Beshin-Wiese“ (1937) gnadenlos verfolgt und verboten. Der enge Freund Stalins (er durfte ihn sogar mit seinem „Spitznamen“ Koba anreden, ein Privileg eigener Art) erhielt 1935 den Leninorden, wurde 1937 verhaftet, 1938 erschossen und 1956 rehabilitiert.

Nembach beschränkt sich strikt auf die sowjetischen Filmproduktion. Er schließt ein wichtiges Instrument der Indoktrinierung des Kinobetriebs aus, nämlich den Import von Filmen für das innersowjetische Kinorepertoire. Das ist vielleicht eine „lässliche Sünde“. Doch könnte die Analyse der ideologischen Strategien bei Filmimporten und deren Aufbereitung für das sowjetische Publikum (sprachliche Fassung der Untertitelungen und später Synchronisationen) ein durchaus spannendes Kapitel über subtile Zensur und damit ebenfalls über Stalinisierung sein. Auch dieses Instrument funktionierte übrigens bis in die 80er Jahre.

Nembachs Arbeit wird auch von der deutschen Stalinismus- und Totalitarismus-Forschung zur Kenntnis genommen werden müssen, soweit sie an kulturellen Dimensionen ihrer Disziplinen wirkliches Interesse hat.

Anmerkungen:
1 Christine Engel (Hg.), Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, Weimar 1999.
2 Alexandra Gramatke, Thomas Tode (Hgg.), Dsiga Wertow (= Close up 14), Stuttgart 2000.

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