T. Schuhbauer: Umbruch im Fernsehen, Fernsehen im Umbruch

Cover
Titel
Umbruch im Fernsehen, Fernsehen im Umbruch. Die Rolle des DDR Fernsehens in der Revolution und im Prozess der deutschen Vereinigung 1989 - 1990 am Beispiel des Jugendmagazins "Elf 99"


Autor(en)
Schuhbauer, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
369 S. u. 1 CD
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Zoppel, Stiftung Deutsche Kinemathek

Die Bildröhre ist das Präservativ der Realität, hat Dieter Hildebrandt einmal gesagt. Das Verhältnis von Wirklichkeit und Fernsehen hat er in dem Bereich der Verhütung angesiedelt.

Um die Liaison von Wirklichkeit und Fernsehen kreist auch Thomas Schuhbauers Buch. Es geht um reale politische Veränderungen, ihre Abbildung im Fernsehen und ihre Beeinflussung und sogar Auslösung durch das Fernsehen, welches wiederum durch die politische Entwicklung in seinem medienweltlichen Selbstverständnis erschüttert wird. Eine komplexe Geschichte also. Die Geschichte vom Ende der DDR und die Geschichte eines legendären Jugendmagazins: Elf99.

Die Medienlandschaft der DDR, speziell des Fernsehens, harrt noch ihrer gründlichen Aufarbeitung. 1 Ein im Frühjahr 2001 gestartetes DFG-Projekt, mit Beteiligung der Universitäten Potsdam, Berlin/ Humboldt Universität, Leipzig und Halle, widmet sich erstmals umfassend der Programmgeschichte des DDR-Fernsehens. 2 An dieser Stelle muss das Deutsche Rundfunkarchiv Babelsberg erwähnt werden. Es verwaltet den gesamten Nachlass des DDR-Fernsehens: Dokumentation, Schriftverkehr, Pressearchiv und natürlich das Sendematerial selbst.

Elf99 als Medium der Wende war bereits Sujet zahlreicher Artikel und Magisterarbeiten. Hier sei auf Schuhbauers umfangreiches Literaturverzeichnis verwiesen. Thomas Schuhbauers Arbeit ist darunter der erste Versuch einer so komplexen Verdichtung von Politik- und Mediengeschichte durch die Beachtung ihrer mittelbaren und unmittelbaren Wechselwirkungen. Der Zusammenbruch der DDR war der erste politische Systemwechsel im Zeitalter des Fernsehens, und manche sagen dem Medium eine tragende Rolle dabei nach. Ist etwas dran am Mythos der Fernsehmacht, die Diktatoren stürzt? Schuhbauer möchte „anhand einer Fallstudie von Elf99 zeigen, dass ein solcher Beweis möglich ist” (S.22). Er arbeitet sich dabei akribisch durch die Chronologie der Ereignisse, beginnend mit den innenpolitischen Spannungen am Ausgang der 80er Jahre und der Rolle des Fernsehens als Herrschaftsinstrument der SED.

Wie viel Fernsehen verträgt die Wirklichkeit, und wie viel Wirklichkeit verträgt das Fernsehen? In der DDR herrschte diesbezüglich ein wenig lustvolles Verhältnis. Der Alltag beziehungsweise die Missstände des real existierenden Sozialismus waren bis zum Ende der 80er Jahre schlichtweg tabu in den Medien. Die Schieflage zwischen den Lebenserfahrungen des einzelnen und der inszenierten Scheinöffentlichkeit machte aus dem DDR-Fernsehen ein Fernsehen ohne Zuschauer. Die im Sommer 1989 eskalierenden Ausreisewellen, die die daheim gebliebenen DDR-Bürger via Westfernsehen mitverfolgen konnten, legten zudem den Verdacht eines Staates ohne Volk nahe. Die Medien sollten vor allem das Jungvolk wieder zur Fahne zurück holen. Dem Fernsehen wurde dabei die Schlüsselrolle zugedacht.

Elf99 startete am 1.9.1989 nach stabsmäßiger Vorbereitung unter der Ägide der Hauptabteilung Erziehung des ZK der SED. Trotz ideologischer Schlagseite hatte das Magazin einiges an Neuwert im verstaubten DDR-Fernsehen zu bieten: zweistündiges Nonstop-Fernsehen mit knappen Nachrichtenachsen, Musikvideos, Spots zu Politik und Lebensweise; Serien, Direktschaltungen und nicht zuletzt die Mitsprache des Publikums, das dezidiert aufgefordert wurde, sich an der Sendung zu beteiligen – durch Themenvorschläge, durch Kommentare zu Sendungen und in Form von Unterhaltungsspielen. Das Team der Redakteure war noch jung, die wichtigsten: Jan Carpentier, Lutz Rentner, Victoria Herrmann, Titus Richter, Angela Mohr, Ingo Dubinski.

Der erste Versuch von Elf99, über die von oppositionellen Gruppen (Neues Forum, Demokratie jetzt, Demokratischer Aufbruch u.a.) angeführten Demonstrationen mit Bildmaterial zu berichten, scheiterte am Widerstand der Chefredaktion. Doch durch Vorstöße und Verstöße einzelner öffnete sich die Redaktion zusehends der Wirklichkeit auf den Straßen.

Ein erster Beitrag Jan Carpentiers über kirchliche Gruppen in Halle versickerte kommentarlos in der Abnahme. Carpentier probte den Aufstand gegen Chefredakteur Manfred Hering, fuhr noch einmal nach Halle, und der zweite Beitrag wurde am 20.10.1989 gesendet. Am 28.10.1989 forderten junge Arbeiter und Gewerkschafter in einer Elf99-Diskussion den Gewerkschaftsvorsitzenden Harry Tisch zum Rücktritt auf. Die SED ließ ihren Gewerkschaftsboss daraufhin fallen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde das DDR-Fernsehen zum Mediator und Katalysator der Demontage eines Funktionärs. (Zur Illustration hat Thomas Schuhbauer einige Ausschnitte aus Elf99-Sendungen zusammengestellt, die dem Buch auf CD-Rom beiliegen. Obiges findet sich unter Take 1-3.)

Diese Sendungen waren umso bemerkenswerter, als zu diesem Zeitpunkt der Staat äußerlich noch intakt war. Diese „Nachlässigkeit“ mag auch der sogenannten Politik des Dialoges geschuldet sein, der den Oppositionellen nach Honeckers Rücktritt über die Medien signalisiert wurde.

Während der Phasen des Dialogs und des Zusammenbruchs des alten Regimes beschreibt Schuhbauer die Entwicklung von Elf99 zu einer „Instanz der neuen Öffentlichkeit”. (S.183) Das anvisierte jugendliche Publikum wusste das Fernsehneuland zu schätzen. Die Musik- und Unterhaltungsbeiträge sowie die Tatsache, dass man mit politischer Aktualität und dem ein oder anderen Tabubruch immer rechnen durfte, trieben die Sehbeteiligung auf über 60 Prozent der 14-17Jährigen.

Auf die Öffnung der Mauer in der Nacht vom 9. auf den 10.11.1989 reagierte Elf99 mit skeptischer Zurückhaltung. Vor allem vor der Folie der euphorisierten Westmedien fiel die Nachdenklichkeit vieler Berichte auf. Das Elf99-Spezial vom 10.11.1989 (“Berlin auf Reisen”) betonte die lächerlichen Seiten der neuen Freiheit. Redakteur Lutz Rentner traf ausgerechnet vor dem Beate Uhse Shop am Zoo auf zahlreiche Landsleute, die “nur mal schau´n” wollten (CD-Rom, Take 4).

Nach einem ersten gescheiterten Versuch, Wandlitz (ein hermetisch abgeriegeltes Privatidyll für Politbüro-Mitglieder und ihre Familien) zu besichtigen, wurde die Folgesendung vom 24.11.1989 politischer Zunder. Eigentlich sensationell waren weder Miele-Waschmaschinen noch Luxus-Toilettenartikel und Ananas im siedlungseigenen Supermarkt, sondern die zufällige Begegnung mit dem SED-Chefideologen im Ruhestand Kurt Hager, der meinte, die Prominentensiedlung sei doch nur ein besseres Internierungslager (S.238 und CD-Rom, Take 5-6). Die Sehbeteiligung lag mit 28,5 Prozent insgesamt an diesem Tag so hoch wie nie zuvor und danach (S.241). In der Folge rissen die Skandale um die Bereicherung der führenden Kaste nicht mehr ab.

Am 6.12.1989 (“Neues von Felix – Nachrichten aus der Grauzone”) konnte die Elf99 Redaktion noch eins draufsetzen: Wehrpflichtige des Regiments “Feliks Dsershinski”, Elitetruppe des Ministeriums für Staatssicherheit, alarmierten Elf99, weil sie beobachteten, dass einige Vorgesetzte Stasi-Unterlagen vernichteten. Sie hatten begriffen: Wer Öffentlichkeit herstellt, der macht deutlich, dass er auf Seiten der Erneuerung steht. Beim Gang durch die Kaserne offenbarten die Stuben und Serviceräume einen hohen Grad irreparabler Verrottung (S.275 und CD-Rom, Take 7-8).

Der marode Zustand der Kaserne erschien als Sinnbild für das ganze System der SED-Herrschaft. War der Sinn der Wende zuerst die Erneuerung gewesen, die Reform des praktischen Sozialismus, so wurde aus dem Ruf “Wir sind das Volk!” nun “Wir sind ein Volk!”. Am 3.12.1989 waren das Politbüro und das ZK der SED zurückgetreten, Egon Krenz demissionierte drei Tage später.

Im letzten Drittel des Buches schildert Schuhbauer den unaufhaltsamen Weg der DDR in den Westen und die schwindende Akzeptanz, die Elf99 durch seine eigene Orientierungslosigkeit verschuldete.

Elf99 betrachtete die neuen Gegebenheiten aus einer ironisch-kritischen Distanz. Die hektische Dynamik des Einigungsprozesses wurde von der Berichterstattung allerdings nicht mehr beeinflusst. Die Medienöffentlichkeit in der DDR wandelte sich unerwartet rasch. Die Westmedien hatten generell einen Vertrauensvorschuss. Dazu kam, dass verschiedene Seiten sich auf die DDR-Medien als verlängerten Arm der SED einschossen. Auch Elf99 entkam nicht der allgemeinen Kritik. Die Vorgeschichte des Magazins als „Vorzeigefernsehen von Margot Honeckers Gnaden” (S.308) wurde ausgepackt.

Die Kritik von Elf99 an der Vergangenheit blieb schonungslos - bis zur Abwicklung des DDR-Fernsehens am 31.12.1991. Nach kurzen Intermezzi auf den Sendefrequenzen von RTLplus und VOX verschwand der Markenname Elf99 am 26.3.1994 endgültig von den deutschen Bildschirmen.

In der Verquickung von Politik, Macht und Medien zeichnet Schuhbauer die Emanzipation von Elf99, die Wirkung und den Gang in die Bedeutungslosigkeit nach. Kein lautstarkes Anklagen, sondern das unspektakuläre Zeigen wurde zum Markenzeichen der Jugendsendung. “Wir haben Euch das jetzt gezeigt, damit Ihr Euch selbst ein Bild machen könnt”, verabschiedete sich Jan Carpentier am Ende des Berichts über Wandlitz (CD-Rom, Take 6). In dieser verhaltenen Tonart war Elf99 ein Akteur und Motor im politischen Prozess der Wende. Schuhbauer konnte belegen: Elf99 hat Realität nicht verhütet, sondern Veränderung mit veranlasst.

Die strenge Form der Parallelmontage - politische Ereignisse : Mediengeschichte/ Elf99 - hätte öfter zugunsten des Gesichtspunktes von Elf99 durchbrochen werden können. Mit den aus Akten und anderen unveröffentlichten Quellen zusammengetragenen neuen Informationen tröstet sich der Leser über den streckenweise mangelhaften Lesekomfort hinweg. Wovon man gern noch mehr gehabt hätte: Atmosphärisches aus den Fernsehstudios von Adlershof, aus der Redaktion von Elf99 und aus den Erinnerungen der ehemaligen Mitarbeiter und Leitfiguren dieser „Fernsehrevolution”.

Obwohl diese Innenansicht zu kurz kommt, verschafft das Buch dem Leser einen spannenden Einblick in die unübersichtliche Gemengelage des SED-Systems in den letzten Zügen – ein System, das mit der Beherrschung seiner Medien auch seine Herrschaft verloren hat. Mit der eindeutigen Verortung des Gegners ging allerdings auch Elf99 das rechte Movens verloren. Ein Ende ohne Beifall. Ein Schluss ohne Dank. Die Wirklichkeit hatte das DDR-Fernsehen überholt. “Was wir verpasst haben: Mit Konsequenz und kritisch wach zu bleiben”, sagte Jan Carpentier in einem Interview zu seinem ehemaligen Kollegen Lutz Rentner. 3 Schade, dass wir unsere Meinung nicht mehr dieser Redaktion mitteilen können. Wie früher. Per Postkarte an Berlin-Adlershof, Postleitzahl 1199.

Anmerkungen:
1 Inzwischen ein „Klassiker“: Peter Ludes (Hg.), DDR-Fernsehen intern. Von der Honecker-Ära bis „Deutschland einig Deutschland“. Berlin 1990. Außerdem: Thomas Beutelschmidt, Sozialistische Audiovision. Zur Geschichte der Medienkultur in der DDR. (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, 3). Potsdam 1995. Gerade erschienen: Franca Wolff, Glasnost erst kurz vor Sendeschluss. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens 1985-1989/90. (Medien in Geschichte und Gegenwart, Band 18). Berlin 2002.
2 Die Projektleitung liegt bei Dr. Reinhold Viehoff, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft in Halle.
3 Adolf-Grimme-Institut (Hg.), Rückblicke, Einblicke – Medien in der DDR. Jugendmedien in der DDR. Ein Film von Lutz Rentner und Frank-Otto Sperlich. 45 Min. (Reihe: Unsere Medien, unsere Republik 2). ORB 1994.

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