J. Kučera: "Der Hai wird nie wieder so stark sein"

Cover
Titel
"Der Hai wird nie wieder so stark sein". Tschechoslowakische Deutschlandpolitik 1945-1948


Autor(en)
Kuč era, Jaroslav
Reihe
Berichte und Studien 34
Anzahl Seiten
158 S.
Preis
€ 6,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jennifer Schevardo, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Teufel spricht deutsch. So lautete zumindest der Titel einer 1945 in der Tschechoslowakei erschienenen Broschüre, deren Autor den Nationalsozialismus lediglich als eine Entfesselung der von jeher, bereits lange vor Hitler in den Deutschen schlummernden „Triebe der Unmenschlichkeit“ ansah.1 Trotz seiner wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Niedergeschlagenheit wurde Deutschland auch nach dem Zweiten Weltkrieg in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit ungebrochen als Bedrohung wahrgenommen. Jaroslav Kučera widmet seine Studie der Deutschlandpolitik als einem der wichtigsten Themen tschechoslowakischer Außenpolitik der Nachkriegszeit. Daneben verortet er sein Buch auf zwei weiteren Forschungsfeldern, nämlich erstens dem der deutsch-tschechischen Beziehungen und einem ihrer dunkelsten Kapitel, der Vertreibung sowie zweitens der Deutschlandproblematik unter der Frage nach der Rolle und dem Handlungsspielraum der kleineren Staaten Europas.

Kučera konzentriert sich auf die Aktivitäten des tschechoslowakischen Außenministeriums und diverser Unterabteilungen, auf deren Akten er sich auch hauptsächlich stützt. Weniger das tatsächliche außenpolitische Handeln steht dabei im Mittelpunkt als viel mehr verschiedene Planungen und Motivlagen im Umkreis des Ministerium und der Regierung.

Das erste Kapitel gibt einen Überblick über Ansätze, Rahmenbedingungen und Traditionen tschechoslowakischer Außenpolitik in den ersten Nachkriegsjahren. Kučera konstatiert einen gegen Ende der Dreißiger Jahre einsetzenden Prozess, in dem sich die Gesellschaft stärker entdifferenzierte und die Politik sich nach links verschob. Kommunisten, Sozialdemokraten und Volkssozialisten waren während des Krieges enger zusammengerückt, bürgerliche Elemente verdrängt worden. Nach Kriegsende wurde das lockere Bündnis der Nationalen Front formalisiert und leitete als Regierung eine grundlegende Umgestaltung ein. Die weitreichende Nationalisierung der Wirtschaft und das Aufbrechen tradierter Sozialstrukturen wurde von großen Teilen der Gesellschaft ebenso getragen wie die außenpolitische Skepsis gegenüber den Westmächten, deren Unzuverlässigkeit durch das Münchener Abkommen von 1938 als bewiesen galt. Seit dem Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion vom Dezember 1943 orientierte sich die tschechoslowakische Außenpolitik allmählich nach Osten.

Nach 1945 wurde es für die tschechoslowakische Regierung zunehmend schwierig, ihre Forderungen auf dem internationalen Parkett geltend zu machen. Zwar konnte sie diese auf der Londoner Außenministerkonferenz im Januar 1947 vortragen und an der Pariser Reparationskonferenz teilnehmen, doch die kleinen Staaten und ihre Anliegen wurden mit dem Entstehen der beiden Machtblöcke in Europa immer mehr an den Rand gedrängt. Den Paradigmenwechsel in der alliierten Deutschlandpolitik ab Frühjahr 1948 konnte die tschechoslowakische Außenpolitik kaum mehr aktiv reflektieren.

In diesen Handlungs- und Akteursrahmen ordnet Kučera in den folgenden Kapiteln einige Themen der tschechoslowakischen Deutschlandpolitik ein. Diese unterteilt er nach zwei Leitmotiven, nämlich die innere Stabilisierung des tschechoslowakischen Staates sowie die zukünftige friedliche Ordnung Deutschlands. Der Reparationsfrage, die diese doppelte Zielrichtung, allerdings mit kurzfristiger Perspektive, impliziert, ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens bestand in der Tschechoslowakei darüber, dass es für die eigene langfristige Stabilisierung unerlässlich sei, die Deutschen auszusiedeln. Bereits seit 1942 bildete dies auch ein zentrales Thema der Verhandlungen der Exilregierung mit ihren Verbündeten. Kučera stellt verschiedene Pläne und Vorschläge zur Lösung dieser Frage vor und zeigt, wie im Laufe der Zeit die Definition der Auszusiedelnden immer breiter gefasst und deren Zahl immer größer wurde. Die Unmöglichkeit und auch der Unwille, Schuld und Kollaboration individuell zu prüfen, führten de facto zu einer Übernahme der Kollektivschuldthese.2

Als Voraussetzung für die innere Stabilisierung galt eine sichere Grenze nach außen, besonders derjenigen zu Deutschland. Kučera führt hier eine etwas verwirrende Fülle von Vorschlägen zu deren Verschiebung, Begradigung und dem dazu gehörenden Bevölkerungsaustausch an, die sich zudem in enger Interaktion mit den jeweiligen polnischen Grenzkonzepten und abhängig von der sowjetischen Linie änderten.

In dem Kapitel zur tschechoslowakischen Reparations- und Restitutionspolitik werden zwei Leitmotive der Regierung deutlich, nämlich, den eigenen Staat zu stabilisieren und gleichzeitig den deutschen Nachbarn, nicht zuletzt durch dessen wirtschaftliche Schwächung, dauerhaft zu befrieden. Kučera weist auf die besondere Spannung hin, die sich aus der Widersprüchlichkeit dieser doppelten Zielsetzung in der Reparationsfrage ergab, doch geht diese ein wenig unter in der Menge an aufgeführten Plänen und Berechnungen, von denen ein Großteil reine Planspiele in außenpolitischen Kreisen blieben.

Aufgrund ihrer langfristigen Perspektive, ihrer zentralen Bedeutung für die tschechoslowakische Außenpolitik sowie der Komplexität der hier zu Grunde liegenden Motive eignen sich die tschechoslowakischen Vorschläge zur künftigen Ordnung Deutschlands, wie sie von Kučera benannt worden sind, zu einer Analyse auf drei Forschungsfelder. Die Spezifik der tschechoslowakischen Deutschlandpolitik ergab sich zunächst aus dem Trauma der unmittelbar erlebten Eskalation der jahrhundertealten „Konfliktgemeinschaft“3 der beiden Nationalitäten. Diese war wohl auch der Grund für die Hartnäckigkeit der Bedrohungsperzeption, die den ersten tschechoslowakischen Konzepten zum Umgang mit Deutschland eine gewisse Radikalität gab.

Prägend auf die tschechoslowakische Politik wirkte zudem die für die äußere Sicherheit eines kleinen Landes als unumgänglich anerkannte Orientierung an größeren Partnern und das internalisierte Denken mit transnationalem Fokus. Kučera weist darauf hin, dass für die tschechoslowakische Außenpolitik die Umgestaltung Deutschlands im Kontext einer gesamteuropäischen Neuordnung stand, die von den Alliierten gemeinsam angeleitet und kontrolliert werden sollte. Die Vorschläge für die innere Ordnung Deutschlands orientierten sich an ihren eigenen Erfahrungen und einer allgemeinen Idee von einer neuen und besseren Art von Demokratie. Dabei übersah die Regierung der Nationalen Front jedoch, dass Maßnahmen wie die Bodenreform und die Verstaatlichung der Industrie im Westen immer weniger konsensfähig waren.

Angesichts der spätestens 1938 offenbar gewordenen, dem deutsch-tschechischen Verhältnis inhärenten Sprengkraft verlangte die tschechoslowakische Öffentlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine möglichst dauerhafte Befriedung Deutschlands. Als zentral galt dabei dessen wirtschaftlicher Umbau, denn das industrielle Potential des Nachbarn wurde als Hauptquelle der Gefahr angesehen. Deshalb überwog zunächst das Ziel, das zukünftige Industrieniveau Deutschlands möglichst niedrig zu halten. Dieses Motiv wurde jedoch bald von zwei gegenläufigen Interessen überlagert: der Erwägung, dass aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Deutschland dessen relative Erholung langfristig auch für die tschechoslowakische Produktion nützlich wäre und der Ansicht, dass ein in beiden Staaten nahezu gleiches Maß an innerem Gleichgewicht sowie ähnliche Gesellschaftsordnungen die beste Konstellation für eine dauerhaft friedliche Nachbarschaft sei.

Die von Kučera angenommene Verengung des außenpolitischen Spielraumes der kleinen Staaten und deren Marginalisierung wird anhand der tschechoslowakischen Konzepte für eine langfristige alliierte Kontrolle über Deutschland besonders deutlich. Die Hoffnung, an gemeinsamen Kontrollorganen beteiligt zu werden, erfüllte sich nicht, obgleich die Tschechen ihre besonderen Kenntnisse der „Psychologie und Methoden der Deutschen“4 anpriesen.

Nach dem Zusammenbruch der gemeinsamen alliierten Deutschlandpolitik musste sich die Tschechoslowakei zunehmend dem sowjetischen Kurs unterordnen, was die kurz zuvor an die Macht gekommene kommunistische Partei (KSČ) nach innen abzusichern suchte. Deutschland bzw. sein sowjetisch besetzter Teil war nun plötzlich Freundesland, die SED wurde zur „Bruderpartei“. Die Sowjetunion jedoch vertrat zunehmend ihre eigenen europapolitischen Interessen und zwang die Volksdemokratien, selbständige Initiativen einzustellen.

Kučeras Buch leistet einen außerordentlich kenntnisreichen und spezialisierten Beitrag zur Geschichte der tschechoslowakischen Außenpolitik, wie sie trotz nun schon jahrelanger Öffnung der Archive weder zu diesem noch zu etlichen anderen Bereichen der tschechoslowakischen Geschichte vorliegen. Kritisieren lässt sich einzig eine gewisse Überfülle an Informationen, die punktuell zu Lasten der Übersichtlichkeit geht.

Die drei Jahre vor der Machtübernahme der KSČ sind ein besonders interessanter Zeitraum, in dem, wie Kučera sehr anschaulich zeigen kann, eine enorme Vielfalt an Vorschlägen und politischen Konzepten entwickelt wurde. Sie eigenständig zu verfolgen wurde zwar nach 1948 allmählich unmöglich, jedoch gaben sie dem tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus eine eigene nachhaltige Prägung, die in der Forschung oftmals unterschlagen wird.

Auch die aktuellen Bezüge des Themas werden deutlich. Der von Kučera für die Tschechoslowakei beschriebene Prozess der außenpolitischen Marginalisierung ist eine Erfahrung, die diese nicht nur mit den kleinen Ländern des ehemaligen Ostblocks, sondern auch mit denen der westlichen Einflusssphäre teilt und die deren heutige Erwartungen an die europäische Integration und ihre Position darin sicherlich beeinflusst. Der deutsche Nachbar bleibt für die Tschechoslowakei, positiv wie negativ, ein besonderer Bezugspunkt, was unlängst die Instrumentalisierung der Vertreibungsproblematik im tschechischen Wahlkampf erneut gezeigt hat. Und auch in Deutschland hat dieses Thema immer noch enorme Mobilisierungskraft, auf die zumindest in Wahlkämpfen kaum verzichten wird.

Anmerkungen:
1 Herben, Jan: Ďábel mluví německy [Der Teufel spricht deutsch], Prag 1945. Kučera, S. 142.
2 Weiterführendes Interesse an diesem Thema wird durch die unlängst erschienenen Studie von Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum ‚Transfer‘ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München 2001, gestillt.
3 Der Begriff stammt von Jan Křen, Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918, München 1996.
4 Zitat aus einem Memorandum der tschechoslowakischen Regierung vom Januar 1947. Kučera, S. 135.

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