: Staatschef a.D.. Die letzten Jahre des Erich Honecker. Berlin 2001 : Christoph Links Verlag, ISBN 3-86153-247-6 222 S. € 19,50

: Erich Honecker. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2001 : Rowohlt Verlag, ISBN 3-499-61181-3 238 S. € 8,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrice G. Poutrus, Zentrum für Zeithistorische Forschung

Wer war Erich Honecker? Der Rowohlt Taschenbuch Verlag glaubt, mit dem Buch von Jan N. Lorenzen die Antwort zu wissen. Diese Neuerscheinung wird als die erste große "zusammenfassende Darstellung" über das Leben Erich Honeckers beworben. "Sie zeigt, wer Honecker war, warum ihm diese einmalige politische Karriere gelang und wie er scheiterte", heißt es dazu im Pressetext. Für den Historiker und freien Journalisten Lorenzen war es nach eigener Aussage spannend herauszufinden, wie dieser hölzern wirkende "mittelmäßige Mann" (S. 10) sich achtzehn Jahre an der Spitze des Politbüros halten konnte. Dabei stützte sich der Autor auf eine nicht geringe Anzahl von ihm aufgelisteter Publikationen, eine Liste, die aber auch Lücken hat. Das weniger für ein Taschenbuch, aber für die geschichtswissenschaftliche Literatur ungewöhnliche sekundäranalytische Vorgehen von Lorenzen offenbart beim Studium der handlichen Publikation dann schnell seine Tücken.

Zur Schilderung der ersten politischen Erfahrungen Honeckers wurde vom Autor relativ unreflektiert auf das 1980 im Ostberliner Dietz-Verlag erschienene Werk "Erich Honecker. Aus meinem Leben" zurückgegriffen. So erscheint der spätere Spaziergänger von Wandlitz von Beginn an nur so, wie er sich selbst sah: als standhafter deutscher Kommunist. Mit sechzehn Jahren wurde E.H. Ortsgruppenleiter des Kommunistischen Jugendverbandes in seinem saarländischen Heimatort Wiebelskirchen. Er galt früh als begabter Rhetoriker (!) und so wurde er nicht als Dachdecker tätig, sondern als hauptamtlicher KPD-Funktionär. Schon nach kurzer Zeit entsandte die KP-Zentrale den Jungkader auf einen Lehrgang an die Moskauer Leninschule. Wir erfahren, dass dies die Traumreise des jungen Honecker war. Vergegenwärtigt man sich die Lage im krisengeschüttelten Deutschland, so mag man das verstehen, wohl kaum aber, wenn man die Verhältnisse in Stalins Sowjetunion während der Kollektivierung und des weiter ausgreifenden Terrors betrachtet. Der Autor verzichtet hier jedoch auf solche Kontexte und folgt ähnlich unkritisch auch Honeckers Schilderung seiner 1937 vom NS-Volksgerichtshof verhängten zehnjährigen Zuchthausstrafe. Diese Haft, so E.H., sei eine schwere Prüfung seiner Standhaftigkeit gewesen; Lorenzen bestätigt denn auch, er habe diese Prüfung "zweifellos bestanden" (S. 42).

Im Mittelteil seines Buches gelingt dem Autor dann doch eine lesenswerte Betrachtung des Wechselspiel von Honeckers selbstherrlichem Führungsstil und dessen Folgen für die DDR. Gleich nach Kriegsende stieß Honecker im Mai 1945 zur Gruppe um Walter Ulbricht. Er begründete die Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) mit und agierte bis 1989 im Machtzentrum der (DDR-)deutschen Kommunisten. 1946 wurde er Mitglied des SED-Parteivorstandes, 1958 Vollmitglied des Politbüros. Als ZK-Sekretär für Sicherheit leitete er schließlich 1961 den Organisationsstab für den Berliner Mauerbau. Zehn Jahre später stürzte er seinen Ziehvater Ulbricht und erreichte mit dem Programm der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" in den siebziger Jahren eine deutliche Steigerung des Lebensstandards in der DDR. Dem Leser wird anschaulich, wie das System des SED-Staates innerhalb des osteuropäischen Machtsystems funktionierte, und es wird verständlich, warum gerade dieser Mann der letzte wirkliche Chef des SED-Staates werden konnte und blieb. Das Talent Honeckers bestand gerade darin, sich in das entstehende Machtgefüge des SED-Staates im Interesse dessen Erhalts einzufügen und so die eigenen Ambitionen nach willkürlicher Machtausübung zu verwirklichen.

Bis zum Ende der Biografie bleiben dem Leser aber Einblicke in Honeckers Persönlichkeitsstruktur versagt, wie auch der ehemalige Generalsekretär der SED kaum als private Person erscheint. Dieser Mangel wird besonders in Schilderungen der Zeit nach dem Zerfall des Systems E.H. deutlich. War zuvor die Persönlichkeit über ihre Machtausübung noch hinreichend zu fassen, so kann dies für die Zeit nach dem Sturz des kleinen Strohhutträgers kaum gelten. Die kurze Schilderung des jähen Karriereendes im Kirchenasyl, die Flucht nach Moskau, die Haft und der Prozess in Berlin sowie der Tod in Chile vergegenwärtigen die jüngste deutsche Geschichte, die Person Erich Honecker geht aber kaum darin auf. So bleiben die Ankündigungen des Verlages uneingelöst. Es ist nicht so, dass Lorenzen in seinem gut lesbaren Taschenbuch unsolide gearbeitet hätte. Doch bleibt das Buch für eine historische Biographie über weite Teile zu sehr an der Oberfläche, was allerdings auch auf aktuelle Defizite in der zeithistorischen Forschung selbst verweist. Eigene quellengestützte Forschungen hätten sicher ein wesentlich interessanteres Buch hervorgebracht.

Einen beachtlichen Beitrag zur Schließung der oben genannten Forschungslücken zur Person Honeckers liefert Thomas Kunze in seinem ebenfalls kürzlich aufgelegten Buch. Der Autor recherchierte dafür in diversen Archiven und verstand es, durch prägnant gesetzte Zeitzeugenaussagen ein plastisches Bild der jüngsten deutschen Geschichte zu zeichnen. Unter den Zitierten finden sich die letzten beiden DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow und Lothar de Maizière, der Honecker-Nachfolger Egon Krenz sowie Günter Schabowski, der ehemalige Gorbatschow-Berater Georgij Schachnasarow und Abdallah Franji, der PLO-Vertreter in Deutschland, der die Familie Honecker mutmaßlich im Auftrag Arafats unterstützte. Kunze sprach mit bundesdeutschen Ermittlern, mit Honeckers Anwalt Friedrich Wolff und vielen anderen. Nur Honeckers Familie konnte er für Auskünfte nicht gewinnen. Aber auch ohne diese Unterstützung gelang es dem Autor, die Jahre von 1989 bis zum Tod Honeckers 1994 in Chile eindringlich zu schildern:

Der Vorabend des 7. Oktober 1989 wirkte wie Honeckers Götterdämmerung. Die „Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR“ wollte sich der kränkelnde Staats- und Parteichef keinesfalls durch Unbotmäßigkeiten aus dem Staatsvolk vermiesen lassen. Verärgert durch die vielen "Gorbi-Gorbi"-Rufe auf der bestellten FDJ-Demonstration ordnete er ein hartes Durchgreifen der Staatsmacht an, als der sowjetische Amtsbruder seine Rückreise angetreten hatte. Noch am 7. Oktober lösten Polizei- und MfS-Einheiten die Demonstrationen für Meinungsfreiheit und Reformen in mehreren Städten der DDR mit außergewöhnlicher Härte auf, und mehr als 1.000 Personen wurden verhaftet. Doch schon am 9. Oktober demonstrierten in Leipzig 70.000 DDR-Bürger und zeigten überdeutlich, dass die Tage des E.H. gezählt waren.

Kunze schildert sehr präzise die dramatische Sitzung des SED-Politbüros am 17. Oktober 1989: Willi Stoph kippte die Tagesordnung der Sitzung und forderte die Absetzung seines politischen Weggefährten und Vorgesetzten. Honecker, dem natürliche Intelligenz und ausgeprägter Willen zur Macht eigen waren und den einst ein feines Gespür für Feinde auszeichnete, war an diesem Punkt überrascht und wie versteinert. Die Ähnlichkeit mit dem Sturz Ulbrichts, an dem Honecker maßgeblich beteiligt gewesen war, wirkte dabei wie eine Ironie der Geschichte. Die alte Machtelite der DDR opferte in diesem Moment ihren obersten Apparatschik, und gewohnt einmütig beschloss das Zentralkomitee der SED dann am 18. Oktober 1989 mit 205 zu einer Gegenstimme dessen Absetzung. Aber auch für die „teuren Genossen“ kam dieser Akt zu spät, denn die „neue Führung“ - vom Volk getrieben - lief den Ereignissen im Land nur noch hinterher.

Je problematischer die Situation für Staatschef Egon Krenz und Ministerpräsident Hans Modrow wurde - so dokumentiert der Autor - umso mehr Schuldzuweisungen richteten die SED-Führungskader und DDR-Medien an den nun machtlosen Honecker. In der Politbüro-Wohnanlage kam es dann zum Show-down. So wurde der Volkszorn gegen die Bewohner der spießigen und von der Stasi hermetisch abgeschirmten „Waldsiedlung Wandlitz“ mit ihrer alltäglichen Westwarenversorgung gelenkt. Die Generalstaatsanwaltschaft der DDR und das in das Amt für Nationale Sicherheit (AFNS) verwandelte MfS versuchten jetzt, sich neu zu legitimieren und ermittelten wegen mangelnder Kompetenz der Regierung, systematischer Vergeudung von Volkseigentum und Wahlfälschung.

Aber was folgte, war nicht nur das Ende des Sozialismus in den Farben Honeckers, sondern der Zusammenbruch des Staates DDR insgesamt: Demokratische Parteien wurden zugelassen, Helmut Kohl verkündete am 28. November den 10-Punkte-Plan für die deutsche Einheit, und Krenz verzichtete am 1. Dezember auf den Führungsanspruch der SED. Bei der Untersuchung der Haftfähigkeit erfuhr Honecker von einem Nierentumor. Kurz nach seiner Operation in der Charité wurde der Gestürzte am 29. Januar 1990 in der U-Haft-Anstalt Berlin-Rummelsburg verhört. Honecker verteidigte sich nicht dumm, er sei ein Rädchen im Getriebe gewesen: "In Wahrnehmung meiner Funktion als Staatsratsvorsitzender, Generalsekretär und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates habe ich mich strikt an die Verfassung gehalten und die Beschlüsse der Volkskammer und der SED umgesetzt." (S. 87) Doch die Stimmung im untergehenden Staat lies für derart „feinsinnige“ Argumente keinen Raum, und es begann die Zeit der Flucht für Honecker und seine Frau, denen ihr Haus in Wandlitz gekündigt worden war.

Einzig Pastor Uwe Holmer, der Leiter des kirchlichen Pflegeheims Lobetal, bot ihnen Aufnahme, bis das alte Ehepaar Anfang April 1990 Asyl im sowjetischen Militärhospital Beelitz fand. Bei erneuten Untersuchungen auf Haftfähigkeit stellten die Ärzte bei Honecker Leberkrebs fest. Die Ermittlungsakten im Fall E.H. wurden am Vorabend der deutschen Einheit an die bundesdeutsche Generalstaatsanwaltschaft übergeben, und am 30. November 1990 erließ die (West-)Berliner Staatsanwaltschaft Haftbefehl wegen des Verdachts, dass Honecker den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze 1961 verfügt und 1974 bekräftigt habe.

Bemerkenswerterweise wurde nun die Schaffung einer Fluchtmöglichkeit für den Ex-Staatschef zur Chefsache der Regierungen in Moskau und Bonn. Die rechtswidrige Ausreise des Ehepaars Honecker nach Moskau wurde dabei mit diplomatischem Geschick heruntergespielt. Letztlich war aber auch das frühere Zentrum des Kommunismus für das alte Ehepaar kein sicherer Ort mehr. Der „Wind of Change“ wehte nun auch hier, und der Ausweisung aus der inzwischen nur noch russischen Hauptstadt entzog sich der nun gänzlich ungebetene Gast im Dezember 1991 durch Flucht in die dortige chilenische Botschaft. Als letzter Botschaftsflüchtling der DDR sorgte Honecker erneut für diplomatische Verhandlungen, bis er am 29. Juni 1992 nach Deutschland ausgeflogen wurde, während seine Frau Margot zur gemeinsamen Tochter nach Chile reiste.

Der ehemals erste Mann im SED-Staat erlebte nun das letzte Kapitel seines Sturzes: den Prozess. Seine Chancen waren in diesem Verfahren besser als anfänglich sichtbar war. Es ging hierbei nicht in erster Linie um Honecker als Person, sondern um die Frage: Wie sollte man „Mauerschützen“ richten können, wenn die Urheber des Schießbefehls ungeschoren blieben? Doch blieb der bundesdeutschen Justiz nur die Möglichkeit, Handlungen zu ahnden, die Verstöße gegen das DDR-Recht darstellten.

Aber Honeckers Prozess geriet nicht wegen dieser problematischen Ausgangslage zur Posse, sondern wegen der mitauftretenden „Laienspieler“: Ärztliche Gutachter erkannten trotz Leberkrebs bei Honecker auf Haftfähigkeit und eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit, Richter Bräutigam bat den Angeklagten im Gerichtssaal um ein Autogramm und der wenig zurückhaltende Nebenkläger Plöger deutete E.H. zu dessen Doppelgänger und den diagnostizierten Leberkrebs zum Bandwurm um.

Am 3. Dezember 1992 gab Honecker vor dem Berliner Landgericht eine siebzigminütige Erklärung ab. Er forderte, die Mauerschüsse im weltgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen. Mit einer unglaublichen Konsequenz - die auch als Starrsinn gesehen werden kann - prangerte E.H. den Prozess gegen ihn als die Fortsetzung des Kalten Krieges an. Für die Opfer des von ihm erlassenen Schießbefehls hatte der angeklagte Staatschef a.D. kein Wort des Bedauerns, denn er sah sich ja selbst als unschuldig Verfolgter. Es war seine letzte öffentliche Rede, und während die ehemaligen NVA-Generäle Kessler und Streletz wegen Anstiftung zum Totschlag zu 7 ½ bzw. 5 ½ Jahren Haft verurteilt wurden, gelang es Honeckers Anwalt Wolff, den Prozess gegen den einstigen Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrates einstellen zu lassen. Honecker war todkrank und nach all dem Spektakel in diesem Verfahren war diese Entscheidung mehr als nur formal richtig.

Am 13. Januar 1993 wurde Honecker nach Chile ausgeflogen, wo er am 29. Mai 1994 starb. Die Urne mit seinen sterblichen Überresten befindet sich weiterhin im Besitz von Margot Honecker, obwohl der Verstorbene in seinem Geburtsort beigesetzt werden wollte. Man beendet Thomas Kunzes Buch mit dem beklemmenden Gefühl, der gestürzte Partei- und Staatschef der DDR sei als alter Mann und bis über seinen Tod hinaus würdelos behandelt worden. Jenseits dieser ambivalenten Stimmung gewährt der Autor dem Leser mit dieser fundierten Darstellung vortreffliche Einblicke in das letzte Kapitel des Lebens eines diktatorischen Machthabers und uneinsichtigen wie zunehmend verbitterten Kommunisten. In der Person des SED-Chefs kulminierte das Regime, seine Macht und Ohnmacht, seine Logik und Absurdität, seine internationale Bedingtheit und deutsche Begrenztheit. Zugleich vermittelt Kunzes Buch ein respektables zeitgeschichtliches Panorama des deutschen Vereinigungsprozesses in den frühen neunziger Jahren.

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