R. Schmidt: Die Wiedergeburt der Mitte Europas

Cover
Titel
Die Wiedergeburt der Mitte Europas. Politisches Denken jenseits von Ost und West


Autor(en)
Schmidt, Rainer
Reihe
Politische Ideen 12
Erschienen
Berlin 2001: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Buch, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universität Bielefeld

Nicht der Raum an sich, so erklärt Georg Simmel, „sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung.“ Der Raum bleibe „immer die an sich wirkungslose Form, in deren Modifikationen die realen Energien sich zwar offenbaren, aber nur, wie die Sprache Gedankenprozesse ausdrückt, die allerdings in Worten, aber nicht durch Worte verlaufen.“ 1 Raumbeziehungen und Raumdeutungen als Gegenstände geschichtswissenschaftlicher Arbeit ernst zu nehmen, dürfte gerade nach der Aufhebung des bipolaren Gegensatzes des Kalten Krieges an Interesse gewonnen haben. Dass sich gerade in Deutschland die Frage nach der Qualität der ‚Mitte’ nun wiederum weniger in Gestalt einer spezifischen Bedrohungssituation der (für den Charakter des Gegensatzes aufschlussreichen) als ‚Mitte’ aufgefassten Randlage Deutschlands in der Mächtekonfrontation stellt, sondern als Eigenschaft des ‚Zentrums’ oder der ‚Brücke’, verdeutlicht dabei, dass, wie Hans-Dietrich Schultz formuliert hat, Räume nicht „sind“, sondern „gemacht werden.“ 2

So ist es zweifellos eine hochinteressante Fragestellung, der sich Rainer Schmidt in einem aus seiner Dresdner Dissertation hervorgegangenen Buch „Die Wiedergeburt der Mitte Europas. Politisches Denken jenseits von Ost und West“ gewidmet hat. Während sich ein ideengeschichtlicher Teil um die „Genese und Entwicklung eines politischen Begriffs“, nämlich des Begriffs ‚Mitteleuropa’, dreht, handeln zwei weitere Teile von ostmitteleuropäischen Dissidentendiskursen der 1970er und 80er Jahre, die sich mit der Verortung ihrer jeweiligen Gesellschaften zwischen Ost und West befassen. Dabei findet, nach Schmidt gewissermaßen als eine Vorstufe der Mitteleuropa-Idee, auch das Paradigma der ‚Zivilgesellschaft’ Anwendung (S. 17), das sich gegenwärtig in seiner normativen und deskriptiven Doppelrolle einer hohen Bedeutung bei der Analyse vergangener Diskurse und Strukturen und der Planung von Vermittlungsinstitutionen zwischen staatlicher, ökonomischer und gesellschaftlicher Sphäre erfreut. 3 Aus Sicht der Vertreter des ostmitteleuropäischen Diskurses waren es unterschiedliche Muster der Abgrenzung von ‚Ost’ und ‚West’, die die eigene Gesellschaft als (Zivil-)Gesellschaft der ‚Mitte’ zu konstruieren und zu charakterisieren halfen, und gerade hierdurch von der mit dem ungeliebten ‚russischen Osten’ identifizierten staatlichen Sphäre des eigenen Landes abgrenzten. Schmidt weist dabei durchaus zu Recht auf die Bedeutung hin, die Weltbildern und Symbolen in der Geschichte zukommt (S. 22 - 27). Mit Blick auf die Wahrnehmung von Räumen und Grenzen, von ‚Identitäten’ und Abgrenzungen ließe sich dies indes noch erheblich vertiefen.

Überhaupt sind bedauerlicherweise die Resultate der Beschäftigung mit dem Thema weniger überzeugend als die Wahl dieses Themas selbst, auch wenn das Buch nichtsdestoweniger lesenswert bleibt. Augenfällig ist zunächst, dass Schmidts Arbeit in die Beschreibung zweier sehr unterschiedlicher Diskurse zerfällt. Während im Vordergrund des ersten Teils deutsche Autoren aus rund hundertfünfzig Jahren stehen (ca. 1800 – 1945), werden die ostmitteleuropäischen Diskurse vor allem durch den Polen Adam Michnik, den Ungarn György Konrád, sowie die Tschechen Milan Kundera und Václav Havel repräsentiert. Auch wenn diese Autoren zweifellos zu den bedeutenden und auch im Westen weithin rezipierten Vertretern der ‚antihegemonialen Diskurse’ der staatsfernen ostmitteleuropäischen Intellektuellenkultur gehören, leuchtet die Wahl dieser beiden so unterschiedlichen Objektbereiche nicht unbedingt ein. Es wäre fraglos interessant gewesen, wenn Schmidt sich den historischen Traditionen der jeweils betrachteten ostmitteleuropäischen Raumdeutungen gewidmet hätte, oder wenn er Spuren des deutschen Mitteleuropa-Diskurses des langen neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts in diesen neueren Beiträgen hätte aufzeigen können. Beides ist indes nicht der Fall. So bleibt die Zusammenführung der Beschreibungen dieser beiden Diskurse merkwürdig unmotiviert, da zwischen ihnen ein Zusammenhang auch nach resümierender Feststellung Schmidts nicht besteht (S. 168). So ist es, ein wenig überspitzt formuliert, unklar, weshalb sie überhaupt in den Zusammenhang eines Buches gerückt wurden.

Es stellt sich mit Blick auf den Titel des Buches auch die Frage, in welchem Sinne überhaupt von einer „Wiedergeburt der Mitte“ die Rede sein kann, da eine Aufnahme alter Auffassungen der ‚Mitte’ nicht überzeugend dargestellt wird. Lediglich eine Renaissance (alt)europäischer Werte und Tugenden ist nach Auffassung der genannten Autoren noch in kultureller Hinsicht leistbar, wobei diese als im Rest Europas längst verloren angesehen werden (etwa S. 143 u. 146). Ein Nachdenken über endogene und exogene Faktoren der Zerstörung einer urbanen, aber durchaus dissonanten Kultur in Ostmitteleuropa fand hier, folgt man Schmidt, nicht statt. Dabei bleibt auch der Verlust jüdischer aber auch deutscher Elemente in Ostmitteleuropa unzureichend berücksichtigt, obschon diese Veränderungen des sozialen und kulturellen Gefüges auch die Chancen einer Renaissance des alten Kulturlebens nachhaltig beeinflussen dürften und durchaus reflektiert wurden. 4 Auch hinsichtlich des Untertitels des Buches bleiben erhebliche Zweifel. Da Schmidt gerade die Abgrenzung vom ‚Osten’ (und teilweise auch vom ‚Westen’) als ein besonderes Merkmal des Werks der herangezogenen Autoren des ostmitteleuropäischen Intellektuellendiskurses zeigt, erscheint fraglich, ob es sich hier tatsächlich um ein Denken „jenseits“ dieser Kategorien handelt. Fraglos sind ja die Worte ‚zwischen’ und ‚jenseits’ nicht synonym. Überdies kann eine Formulierung wie die, dass „die Idee der Mitte […] ja gerade von der symmetrischen Grenzziehung nach Westen und Osten [lebt] und […] im Extremfall [versucht,] durch eine Multiplizierung der Bezugspunkte das einfache Entweder-Oder des dualistischen Ost-West-Diskurses aufzubrechen“ nicht überzeugen (S. 19). Offenkundig handelt es sich im Falle des zweiten Stranges nicht um einen ‚Extremfall’ der für den ersten Fall charakteristischen ‚symmetrischen Grenzziehung’. Die suggerierte Transzendierung des bipolaren Ost-West-Schemas dürfte hier kaum zu finden sein, zumal Schmidt selbst in den ostmitteleuropäischen Diskursen drei Deutungsmuster ausmacht, in denen Ostmitteleuropa (in Abgrenzung vom ‚Osten’) als Teil des ‚Westens’ (Kundera), als eigenständige Entität zwischen ‚Ost’ und ‚West’ (Konrád) und in negativer Abgrenzung von beidem (Havel) perzipiert wird (S. 116 f., 167). Schmidt legt nämlich dar, dass gerade die ablehnende, moralpolitisch durch ‚Zivilgesellschaftlichkeit’ aufgeladene Bezugnahme auf ‚Rußland’ und insbesondere die staatlichen Repräsentanten des ‚Rußland im Inneren’ – wenn auch weniger bei Havel (S. 149) – konstitutives Element dieser Diskurse gewesen ist (S. 85, 105 – 112, 119 – 125, 137).

Es kommt hinzu, dass die Untersuchung beider Diskurse schon aufgrund einer recht eingeschränkten Materialgrundlage verhältnismäßig blas bleibt. Die Rezeption – und vielfach auch die Zitierung – der herangezogenen Autoren erfolgt zu beträchtlichen Teilen durch die Brille anderer Autoren, die sich – wie etwa Hans-Dietrich Schultz, Heinz Gollwitzer oder Henry Cord Meyer – mit ähnlichen Themen auseinandergesetzt haben. Obschon Schmidt der deutschen Auseinandersetzung mit ‚Mittellage’ und ‚Mitteleuropa’ immerhin ein gutes Fünftel seiner Studie widmet, ist eine eigenständige Beschäftigung mit dem weiten Feld möglicher Quellen nur teilweise zu erkennen. Deutlich bleiben seine Ausführungen hier an die vor allem geographiehistorischen Arbeiten von Schultz angelehnt, der die Genese eines hypertrophen, in offensiver oder defensiver Weise aggressiven Begriffs eines preußisch-deutsch geprägten ‚Mitteleuropa’ beschrieben hat (etwa S. 49). Eine weitergehende Kontextualisierung und Deutung der Quellen findet dabei kaum statt. Über die zahlreichen Aufsätze Schultz’ zu diesem Thema gelangt die Arbeit dann auch kaum hinaus, und auch der supranationale ‚kakanische’ Raumdiskurs der Donaumonarchie, auf den Schmidt zuweilen anspielt, bleibt weitgehend im Dunkeln. So ließe sich mit einiger Berechtigung etwa die Frage stellen, welche Bedeutung freihändlerische bzw. protektionistische Positionen für die Perzeption der deutschen Lage in Europa hatten, denn mit gutem Grund ist argumentiert worden, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine vorübergehende Abschwächung des von ‚territorialen’ Kategorien bestimmten ‚realpolitischen’ Denkens stattgefunden habe, die notwendigerweise auch der Frage der Mittellage eine neue Bedeutung geben musste. 5

Ähnlich ist es bei den ostmitteleuropäischen Diskursen, die Schmidt zum einen ausschließlich in Gestalt von Übersetzungen, zum anderen aber wiederum vielfach durch die Arbeiten Karl Schlögels, Jan Kubiks, Timothy Garton Ashs und Winfried Thaas zur Kenntnis genommen hat, ohne diese allerdings hinsichtlich ihrer jeweils eigenen politischen Standpunkte und historischen Standorte hinreichend zu durchleuchten, oder die politischen Ambivalenzen des ‚Mitteleuropagedankens’ als eines ‚Opferdiskurses’ zu thematisieren. Um diese Fragen in den Griff zu bekommen, wäre vielleicht eine Erweiterung der Quellengrundlage erforderlich gewesen. Im Falle Kunderas sind es beispielsweise nur zwei Aufsätze und ein Interview, die das Literaturverzeichnis ausweist. Manche Zitate bleiben unzureichend gedeutet und werden ohne erkennbaren Zusammenhang gebracht; eine Kontextualisierung der einzelnen Quellen erfolgt vielfach nicht in ausreichendem Maße, und zwar weder historisch im Blick auf die sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Rahmensituationen, noch innerhalb ihrer jeweiligen nationalen oder übernationalen Diskurszusammenhänge, auf die die Autoren reagiert haben, oder in denen sie rezipiert worden sind. Dabei werden Netzwerke und Strukturen der sehr spezifischen Kommunikationskontexte regimekritischer Gegenkulturen nur in sehr allgemeiner Weise charakterisiert. Für eine Analyse des zivilgesellschaftlichen Denkens ist dieses ‚Leben’ einer zur staatlich kontrollierten Mehrheitsgesellschaft alternativen ‚Zivilgesellschaft’ indes von hoher Bedeutung. Herauszufinden, welche Texte vor, welche nach dem Beginn oder an welchem Punkte der tief greifenden Systemtransformationen verfasst wurden, bleibt ebenfalls dem Leser des Buches überlassen.

Schließlich sind auch eine ganze Anzahl von Ungenauigkeiten und Fehlern zu bemerken. So wenn – unbeschadet anderer Redundanzen – ein längeres Zitat Konráds über das Konzept der ‚Antipolitik’ sich innerhalb weniger Seiten wörtlich wiederholt (S. 133 u. S. 135; auch S. 9 u. S. 56), oder wenn die Zahl tschechischer Emigranten nach dem Ende des ‚Prager Frühlings’ in einem Fall mit 120'000 (S. 91, Anm. 40), in einem anderen aber mit 150'000 (S. 119, Anm. 24) angegeben wird. Eine Schrift Havels wird einmal als „offener Brief an Dubcek“, einmal als „offener Brief an Dr. Husak“ zitiert (S. 152 – 154); tatsächlich handelte es sich bei dem nominellen Adressaten der zitierten Passage um Dubček, auch wenn das Zitat sich nicht auf der von Schmidt angegebenen Seite findet. 6 In einem Text, der sich vorwiegend mit namhaften ostmitteleuropäischen Schriftstellern auseinandersetzt, fällt es überdies – auch wenn dies möglicherweise nicht dem Verfasser, sondern dem Verlag anzulasten ist – nicht unbedingt angenehm auf, dass in dem im übrigen ansprechend gestalteten Band auf die Verwendung der entsprechenden Sonderzeichen generell verzichtet wurde.

Anmerkungen:
1 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/M. 3. Aufl. 1999, S. 687 f.
2 Hans-Dietrich Schultz, Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese ‚Mitteleuropas’ in der deutschen Geographie, in: Europa Regional 5, 1997, S. 2 – 14.
3 Vgl. nur Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Hintergründe und demokratietheoretische Folgerungen, Opladen 2001 (Bürgerschaftliches Engagement und Nonprofit-Sektor 4).
4 Vgl. Rudolf Jaworski, Die aktuelle Mitteleuropadiskussion in historischer Perspektive, in: HZ 247, 1988, S. 529 – 550, bes. S. 538 f., 541 f.
5 Vgl. John Agnew, The territorial trap: the geographical assumptions of international relations theory, in: Review of International Political Economy 1, 1994, S. 53 – 80, etwa S. 66.
6 Václav Havel, Brief an Alexander Dubček, in: Ders., Am Anfang war das Wort. Texte von 1969 bis 1990, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 11 – 32, hier S. 31.

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