K. Freudiger: Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen

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Titel
Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen.


Autor(en)
Freudiger, Kerstin
Reihe
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 33
Erschienen
Tübingen 2002: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Wildt, Institut für Sozialforschung

Kerstin Freudigers Dissertation, die von Joachim Perels, selbst bekannt durch etliche Veröffentlichungen zur juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland, betreut worden ist, untersucht Urteile in vergleichend systematischer Absicht. Freudiger stützt sich dabei in erster Linie auf die mittlerweile 26bändige, von Christiaan Frederic Rüter herausgegebene Sammlung deutscher Strafurteile zu nationalsozialistischen Tötungsverbrechen1 und für die Zeit seit 1966 auf die Unterlagen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg. Insgesamt hat sie 142 Urteile ausgewertet, die vier Bereichen zugeordnet werden: Vernichtung der europäischen Juden, Euthanasie, Vernichtungskrieg und Justizverbrechen.
Analysiert werden diese Urteile in drei Hauptkapiteln entlang der juristischen Differenzierung zwischen Mord in Täterschaft, Beihilfe zum Mord und Totschlag, schließlich noch in einem Schlusskapitel über Schuldausschluss wegen "fehlenden Unrechtsbewußtseins", wobei Freudiger die Frage nach der "ungleichen Behandlung der verschiedenen Gruppen von NS-Verbrechen und NS-Verbrechern bei vergleichbarem Sachverhalt" stellt. In ihrer Darstellung bleibt sie stets bei demselben Prinzip, indem sie zuerst die jeweiligen Urteile einer Untersuchungsgruppe ausführlich vorstellt und dann in einem resümierenden Schritt die Übereinstimmungen wie Differenzen feststellt.
Da sich der Untersuchungszeitraum der Urteile über mehrere Jahrzehnte hinweg erstreckt, stellt Freudiger ein Kapitel voran, das vor allem rechtliche Rahmenbedingungen skizziert, innerhalb derer die westdeutsche Justiz handelte. In ihm wird deutlich, wie sehr vor allem die in den fünfziger und sechziger Jahren vorherrschende "subjektive Tätertheorie", der zufolge nicht der objektive Tatbestand, sondern der subjektive Wille den Täter ausmache, die Rechtsprechung maßgeblich beeinflusste. Damit relativiert Freudiger die Bedeutung des sogenannten Staschynskij-Urteils des Bundesgerichtshofes 1962, das dennoch für die nachfolgende Definition von Täter und Gehilfe entscheidend war. Der sowjetische KGB-Agent Staschynskij hatte 1959 in München einen Mord an zwei Exilukrainern weisungsgemäß ausgeführt, lief allerdings kurze Zeit später in den Westen über und wurde nun unter Mordanklage gestellt. In einer Grundsatzentscheidung zum politischen Mord entschied der Bundesgerichtshof, dass Staschynskij nicht Täter, sondern bloß Tatgehilfe gewesen sei. Zwar hielt der BGH in der Urteilsbegründung ausdrücklich fest, dass derjenige, der "einverständlichen Eifer" zeige, sich nicht darauf berufen könne, nur Tatgehilfe zu sein. Aber in der Folgezeit gingen westdeutsche Gerichte dazu über, allein Hitler, Himmler und Heydrich als Täter zu definieren und die Angeklagten als bloße Gehilfen einzustufen, deren Strafen damit deutlich reduziert werden konnten.
Eine Verurteilung aufgrund von Mord in Täterschaft erfolgte daher in der Regel nur dann, wenn dem Angeklagten "innere Bejahung" der Taten, also subjektiver Täterwille, bzw. Exzesstaten oder Morde über den Auftrag hinaus nachgewiesen werden konnten. Für Wehrmachtsverbrechen dagegen führte diese Begründung in grotesker Verkehrung zur Verfahrenseinstellung, da – so die Begründung der Justiz – der 1965 vom Bundestag beschlossene Verjährungsfristbeginn 1949 nicht gälte. Exzesstaten wären auch von der Wehrmacht verfolgt worden, könnten daher nicht als Staatsverbrechen behandelt werden, die während des NS-Regimes nicht geahndet worden wären. Das hieß, dass Exzessmordtaten, die von Wehrmachtssoldaten begangen worden waren, verjährt waren!
Am häufigsten wurden NS-Gewaltverbrecher wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. In den Euthanasie-Verfahren wurden bis 1949 noch zwei Drittel aller Verurteilten als Täter eingestuft, nach 1950 lag hingegen der Anteil der Tatgehilfen über 80 Prozent. Entscheidend war auch hier der subjektive Täterwille, wobei im Laufe der sechziger Jahre die Kriterien immer mehr zugunsten der Angeklagten ausgelegt wurden. Langjährige Parteimitgliedschaft zum Beispiel war kein Beleg für judenfeindliche Einstellung, was wiederum "Rassenhass" als "niedrigen Beweggrund" für eine Mordtat begründet hätte. Wille zur "Tatherrschaft" wurde ein bedeutsames Kriterium, war aber vage genug, so dass Gerichte allein Hitler und Himmler die Tatherrschaft zubilligen konnten. Schließlich verwandelten sich selbst Einsatzkommandoführer in bloße Befehlsempfänger, die auf milde Strafen hoffen durften. Hier war dann exkulpierend vom "Rädchen in einem von anderen gesteuerten Räderwerk" die Rede. Von Interesse ist auch Freudigers Befund, dass ehemalige Juristen als Angeklagte eher mit der Annahme "innerer Anständigkeit" rechnen konnten als nicht akademisch ausgebildete, denen die Gerichte sehr viel rascher antisemitische Einstellungen und "Rassenhass" unterstellten.
Diese Ergebnisse sind nicht überraschend, sondern oft vermutet und behauptet worden, aber bisher noch nicht in einer solchen gründlichen, systematischen Studie verifiziert worden. Freudigers Dissertation ersetzt daher nicht konzise Überblicksdarstellungen wie zum Beispiel von Adalbert Rückerl2, sondern bietet eine nützliche, kenntnisreiche und vor allem juristisch kontextualisierende Handreichung für Historiker und Juristen. Warum daher der Verlag auf ein Personenregister verzichtet hat, ist völlig unerfindlich.
Zwei Einschränkungen allerdings sind dabei zu beachten. Erstens: Der Analyserahmen bezieht sich vornehmlich auf die juristische Dimension; die politischen Entwicklungen wie die Verjährungsdebatten, die zu wesentlichen Änderungen der Strafrechtspraxis führten, bleiben bei Freudiger blass. In dieser Hinsicht besitzt die neuere Studie von Michael Greve, die ebenfalls als Dissertation an der Universität Hannover angenommen worden ist, einen breiteren und fundierteren Horizont.3 Zweitens: Die Urteilsbegründungen stellen keine historisch-wissenschaftlichen Tatbeschreibungen dar, sondern sind ausschließlich Feststellungen des Gerichts zu den jeweiligen Tätern und deren Taten. In Freudigers Analyse dienen die ausführlichen Urteilswiedergaben als Voraussetzung, um demgegenüber die rechtliche Würdigung der geschilderten Taten klarer zu fassen. Die langen Passagen aus den Urteilen dürfen daher nur als juristischer Text gelesen werden. Das ist für die Dissertationsfassung nachvollziehbar, für die Veröffentlichung hätte sich hier ein erhebliches Kürzungspotential angeboten, zumal die meisten vorgestellten Urteile bereits in Rüters Sammlung publiziert worden sind. Wer gesichertes Wissen über die Taten der Einsatzkommandoführer, Euthanasieärzte und KZ-Wächter im historischen Kontext braucht, muss daher weiterhin über die Urteile hinaus auf die entsprechende Fachliteratur zurückgreifen.

Anmerkungen:
1 Christian Frederic Rüter (Hg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1965, Bd. I-XXII, Amsterdam 1968 ff. Die jüngst erschienenen Bände XXIII-XXVI, die den Zeitraum 1966 bis 1967 umfassen, hat die Autorin nicht mehr berücksichtigen können.
2 Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982.
3 Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt am Main u. a. 2001. Zum Beispiel basieren Freudigers Ausführungen zur Novellierung des § 50,2 StGB auf einem älteren Forschungsstand als bei Greve, der die mittlerweile zugänglichen Akten des Bundesjustizministeriums ausgewertet hat und die in der Literatur (auch bei Freudiger) immer noch vorherrschende Verschwörungstheorie korrigiert.

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