M. Wanitschke: Methoden und Menschenbild des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR

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Titel
Methoden und Menschenbild des Ministeriums für Staatssicherheit.


Autor(en)
Wanitschke, Matthias
Erschienen
Köln u.a. 2001: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
€ 41,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Beleites

Das Ministerium für Staatssicherheit gehört inzwischen zu den am besten erforschten Bereichen der DDR. Es gibt Publikationen über Aufgaben und Struktur, über Handlungsfelder und Arbeitsmethoden, vielfältige Darstellungen einzelner geheimpolizeilicher Aktionen, Zeitzeugenschilderungen Betroffener und neuerdings auch ein opulentes Werk der Rechtfertigungsliteratur früherer MfS-Offiziere. Die prinzipiell gute Quellenlage sowie das öffentliche Interesse am Geheimdienst der SED schufen gute Forschungsbedingungen. Während die Organisations- und Wirkungsgeschichte bisher in großer Breite dargestellt wurde, finden sich über die Motivation der zuletzt 91000 hauptamtlichen und 174000 inoffiziellen Mitarbeiter bisher fast nur Mutmaßungen.

Die Dissertation des katholischen Theologen Matthias Wanitschke über das Menschenbild der MfS-Mitarbeiter ließ daher Raum für größere Erwartungen. Wanitschke hat beruflich mit dem Nachlaß des MfS zu tun: Nach zwei Jahren Tätigkeit in der Erfurter Außenstelle der Gauck-Behörde ist er seit 1996 Mitarbeiter des Thüringer Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und für dessen politische Bildungsarbeit zuständig. So verfolgt er mit seiner Arbeit entsprechende Ziele: Zunächst will er „an eigenen und originalen Texten sowie an Beispielen das manipulative Treiben des SED-Geheimdienstes darstellen“. Außerdem „will [er] den Leser auffordern, jedes politische Konzept daran zu bemessen, ob es sich um einen demokratischen Rechtsstaat handelt, der den Bürgern die individuellen Freiheitsrechte gewährt und schützt. Das eigentliche Ziel der Arbeit besteht darin, anhand der funktionalistischen Methoden des Geheimdienstes auf ein kollektivistisches Herrschaftskonzept hinzuweisen.“ (S. 35)

Seine Ausgangsthese, „daß der Mensch prinzipiell frei ist, selbstbestimmt zu handeln, und daß das MfS deshalb nur probieren konnte, den Einzelnen an seinen Schwachpunkten zu packen, um ihn zu einem funktionierenden Glied des kollektivistischen Staates zu demoralisieren“ (S. 14), wirkt zunächst einigermaßen banal, beinhaltet aber schon zwei Thesen: Eine über den Menschen an sich, die zweite über die Aufgabe des MfS. Um es vorweg zu nehmen: Dieses stark von Orwell beeinflußte Bild von der Aufgabenstellung des MfS wird zwar mehrfach und in verschiedenen Abwandlungen wiederholt, nicht jedoch nachgewiesen. Ohnehin hat ihn Orwells „1984“ stark beeinflußt, da er beim Lesen des 1948 entstandenen Romans „eine in vielen Punkten zutreffende Analyse der SED-Diktatur“ entdeckte (S. 256). So endet denn seine Arbeit auch tatsächlich in einem mit „Resümee“ überschriebenen Schlußkapitel mit einem zweiseitigen Orwell-Zitat.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil wendet sich der „geheimdienstlichen Bearbeitung andersdenkender Bürger“ zu. In kurzer Form und verbunden mit Beispielen werden das Vorgehen des MfS gegen DDR-Bürger sowie die dabei angewandten Methoden erläutert. Außerdem finden die dabei entstandenen Aktenvorgänge Erwähnung. Ein zweites Kapitel beschäftigt sich unter der Überschrift „Die staatliche Verführung der Bürger zur inoffiziellen Mit-Täterschaft“ mit der Rekrutierung und Einbindung inoffizieller Mitarbeiter (IM). Wanitschke geht auf die Motivationslage der IM und das Beziehungsgeflecht zwischen IM und hauptamtlichen Mitarbeiter ebenso ein wie auf die verschiedenen Methoden der Werbung von IM sowie bei deren dauerhafter Anbindung an das MfS. In einem zusammenfassenden Abschnitt am Ende des Kapitels blickt er zwar auf das Menschenbild des MfS, verfällt aber selbst in eine allzu vereinfachende und fatal an die Freund-Feind-Differenzierung des MfS erinnernde Einteilung in „angepaßte“ oder „andersdenkende“ Menschen.

Die „staatliche Abrichtung der Täter im Agenten-Kollektiv“ ist Thema des dritten Teils, der sich mit den hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern befaßt. Alle Kapitel werden mit anschaulichen Beispielen illustriert. Diese Stärke wird aber zugleich zur fundamentalen Schwäche der Arbeit. Sie läßt keine analytische Untersuchungsmethode erkennen: Assoziativ und oberflächlich werden einige Methoden des MfS beschrieben. Auch wird der aktuelle Forschungsstand wahrgenommen, aber weder systematisch erfaßt und dargestellt noch tatsächlich verwertet. Lediglich im ausufernden Anmerkungsapparat wird auf andere Arbeiten eingegangen. Sie werden referiert, doch nur an wenigen Stellen findet eine Abgrenzung statt. Die Anmerkungen nehmen, kleiner gedruckt als der sonstige Text, fast die Hälfte der 400 Druckseiten ein. Dennoch stößt man auf der Suche nach einem Nachweis für eine Behauptung oder ein Zitat häufig lediglich auf einen oder mehrere willkürlich lange Gedankenfäden oder schlicht auf die Fortsetzung des Zitats.

Was an den Kapitelüberschriften schon auffällt, nimmt im Text extreme Ausmaße an: Wanitschke ist fasziniert von Begriffen. Begründungen für die Auswahl oder zumindest eine gewisse Stringenz bei deren Verwendung fehlen jedoch. So wird der IM bei ihm nicht nur „bürgerlicher Agent“, sondern auch noch „bürgerlicher Mit-Täter“, „mittätiger Bürger“, „inoffizieller Mit-Täter“, „ehrenamtlicher Agent“ oder „inoffizieller mit-tätiger Agent“ genannt. Der von der MfS-Repression Betroffene ist bei ihm „Bürger“, „andersdenkendes Opfer“ und „bürgerliches Opfer“, der hauptamtliche MfS-Mitarbeiter ist „Agent“, „hauptamtlicher Agent“, „Täter“, „bevollmächtigter Führer“, „behördlicher Führer“, „Führungsoffizier“, „Ver-Führungsoffizier“ oder gar „MfS-Beamter“, und das MfS an sich wird als „Geheimdienst“, „Geheimpolizei“, „politische Polizei“, „politische Geheimpolizei“, „Gedankenpolizei“, „Gesinnungspolizei“, „Behörde“, „Gedankenpolizei-Behörde“ und „DDR-Agentenbehörde“ bezeichnet.

Auch die Umschreibungen für die Aktenformen des MfS sind in einer Weise überzogen und pauschal, wie sie selbst bei der ersten öffentlichen Wahrnehmung der Archive im Dezember 1989 von schockierten Stasi-Auflösern nicht zu hören waren: Da wird die Operative Personenkontrolle (OPK) zur „individuellen Gedankenkontrolle“ und der Operative Vorgang (OV) gar zur „gezielten ‚Gehirnwäsche‘“ (S. 68). Wer bei seiner Begrifflichkeit immer gleich ins oberste Fach greift, beraubt sich jeglicher Differenzierungsmöglichkeiten und verharmlost gleichermaßen härtere Formen der Repression. Obwohl Wanitschke sich durch kursive Schreibweise von „problematischen Ausdrücken der MfS- und DDR-Sprache“ und „konspirativen Begriffen“ (S. 33) distanzieren will, übernimmt er an anderer Stelle – kursiv geschrieben, aber unkommentiert – mißverständliche Ausdrücke des MfS: So bestehe das gemeinsame Merkmal verschiedener Aktenarten darin, „daß eine oder mehrere Personen zunächst planmäßig beobachtet wurden, um dann innendienstlich zu entscheiden, ob das oder die Opfer angeworben oder liquidiert werden sollten“ (S. 67). Die häufige Rede vom „Liquidieren“ in den Stasi-Unterlagen entsetzte seit 1990 zu Recht viele Betroffene und Wissenschaftler beim Lesen der Akten und ließ einen schweren Verdacht aufkommen. Bald wurde aber deutlich, daß das MfS beim Abschluß von Bearbeitungs- oder Beobachtungs-Akten immer vom Liquidieren der Vorgänge sprach, in der Regel aber nicht die physische Liquidierung der Menschen meinte. Einen Hinweis darauf sucht man indes vergebens. Ärgerlich – aber leider ein häufiger Fehler im Bereich der politischen Bildung – ist es, wenn Behauptungen aufgestellt werden, die weder belegt noch richtig sind, beispielsweise daß in der DDR „selbständiges Denken zum Straftatbestand erklärt“ worden sei (S. 34).

Das Buch geht von einem ausgesprochen simplen Menschenbild aus, auch deshalb hält sich der Erkenntnisgewinn in engen Grenzen. Die tatsächlichen Verstrickungen von Inoffiziellen Mitarbeitern in der Realität der Zusammenarbeit mit dem MfS werden ebensowenig thematisiert wie das Hauptarbeitsfeld des MfS in den siebziger und achtziger Jahren: Der immer wieder gescheiterte Kampf gegen die Ausreisebestrebungen zahlreicher DDR-Bürger. All diese vom MfS als Gegner betrachteten Personen schlicht unter den Begriff des „Andersdenkenden“ zu subsumieren geht an der Realität weit vorbei. Möglicherweise unter dem Einfluß von George Orwell wird die Tätigkeit der MfS-Mitarbeiter in weiten Teilen so beschrieben, als wäre diesen in jeder Minute bewußt gewesen, daß sie mit manipulativen Methoden ein moralisch verwerfliches Ziel verfolgten. Das Problem liegt aber darin, daß viele der Mitarbeiter wohl tatsächlich an ein höheres und moralisch anstrebenswertes Ziel glaubten. Man wird sich der Realität – aber auch der Fragestellung des zu besprechenden Buches – nicht nähern können, wenn man davon ausgeht, daß es nur eine, praktisch gottgegebene und zwangsläufig für alle gültige moralische Vorstellung gibt. Die hier einschlägige Problematik der Überzeugungstäter wird auf diese Weise nicht berührt. Ebenso realitätsfern wie wenig überzeugend ist auch die Darstellung der Besonderheit des Inoffiziellen MfS-Mitarbeiters als einer ganz einzigartigen, mit anderen Denunzianten und Zuträgern nicht vergleichbaren Spitzel-Kategorie (S. 158).

Verlag und Autor gleichermaßen anzukreiden ist die sprachliche Rohfassung der Arbeit. Grammatikalische Problemsätze wie: „Dem Abteilungsleiter standen zwei Stellvertreter zur Seite, drei Frauen besorgten die Schreibarbeiten, einer fuhr den Dienstwagen“ (S. 65) sind leider keine Ausnahme. Die gesamte Arbeit ist zudem von einer ausufernden Weitschweifigkeit geprägt. Die Lesbarkeit wird zusätzlich durch die unzähligen kursiv gedruckten „problematischen Ausdrücke“, nicht als solche gekennzeichnete Großzitate und lange Passagen in hellgrüner Schrift erschwert. Der laxe Umgang mit Quellen macht selbst bei den Illustrationen nicht Halt: Bilder und Faksimiles werden zwecks Einpassung hemmungslos gedehnt, gestaucht oder zwischen den Text gequetscht. Die Summe all dieser Schwächen läßt die Lektüre des Buches über weite Strecken zu einem leidvollen Unterfangen werden. Dieses auf sich zu nehmen, kann leider niemandem empfohlen werden.

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