W. Freitag (Hg.): Geschichte der Stadt Gütersloh

Titel
Geschichte der Stadt Gütersloh.


Herausgeber
Freitag, Werner
Erschienen
Anzahl Seiten
513 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Großbölting, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

In einer Zeit, in der sich historisches Wissen auf dem Markt der Informationsangebote nur noch vereinzelt behaupten kann, vermag es die Stadtgeschichte wie nur wenige andere Teildisziplinen, eine Brücke zu schlagen zwischen aktueller Lebenswelt und historischem Interesse. Auf diesen Zusammenhang verweist schon die Genese der im folgenden anzuzeigenden Gütersloher Stadtgeschichte. Herausgeber Werner Freitag und die Gütersloher Oberbürgermeisterin deuten jeweils kurz an, wie sich im Fall dieser Publikation öffentliches und fachwissenschaftliches Interesse gegenseitig befruchtet haben: Das Team um Werner Freitag hat in Vortragsreihen, einer Geschichtswerkstatt, einem Symposion und gar einer „historischen Stadtrallye“ für Kinder und Jugendliche einerseits die Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit getragen und damit Interesse für das Projekt geweckt. Andererseits hat die Stadtgeschichte selbst vom Bürgerengagement profitiert: Nicht nur die Finanzierung ist mäzenatischem Engagement zu verdanken, sondern auch ein Teil der Dokumentationsarbeit wurde von geschichtsinteressierten Bürgern Güterslohs beigesteuert.

Entstanden ist ein Buch, welches den Spagat zwischen Publikumsorientierung und fachwissenschaftlichen Standards souverän meistert: Das Gros der leserfreundlich geschriebenen und treffend illustrierten Beiträge thematisiert Problemstellungen, die an aktuelle Forschungskontexte und dabei insbesondere an die Bürgertumsforschung anschließen und am Exempel Gütersloh vertiefend diskutiert werden. Insgesamt zielen die Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge chronologisch organisieren, weniger auf eine umfassende, gleichsam „flächendeckende“ Darstellung, sondern konzentrieren sich auf Perioden der Stadtgeschichte, die von einem besonders rasantem Entwicklungstempo gekennzeichnet waren.

Da Gütersloh erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts urbane Strukturen ausbildete und auch rechtlich erst 1825 mit der Einrichtung des westfälischen Provinziallandtags durch obrigkeitlichen Erlaß zur Stadt erhoben wurde, sind die insgesamt sechs Beiträge perspektivisch auf das „lange 19. Jahrhundert“ konzentriert. Im Mittelpunkt des Interesses der Autorinnen und Autoren steht die Frage, wie das Heidedorf Gütersloh sich zu einem urbanen Stadtzentrum entwickelte, welches an Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft und kultureller Prägung deutlich auch traditionsreiche Nachbarstädte wie Rheda, Rietberg oder Wiedenbrück überflügelte.

Einleitend lädt Eckard Möller zu einem fiktiven Spaziergang durch das Gütersloh des Jahres 1912 ein (S. 19–62). Dieser Part wirkt vor allem dank seiner anschaulichen Schilderung und einer Bebilderung, die die städtische und städtebauliche Entwicklung in vielen Facetten dokumentiert. Auch wenn er vor allem auf das heimische Gütersloher Publikum zielt, so sensibilisiert Möllers Skizze doch auch andere für die sozialräumlichen Kontexte.

Gütersloh im Spätmittelalter, so folgert Werner Freitag aus seinem Überblick zu Siedlungsstruktur und genossenschaftlich-kommunalistischer Organisation der Pfarrgemeinde sowie den Bauernschaften, unterschied sich zunächst kaum von anderen Siedlungen der Zeit (S. 63–108). Das zentrale Kirchdorf und die umliegenden Bauerschaften bildeten lediglich eine locker gefügte Wirtschaftsgemeinschaft, die allein durch die kirchliche Pfarreistruktur stärker zusammengebunden wurde. Erst seit dem 17. Jahrhundert verdichteten sich die Anzeichen dafür, daß sich aus dem Kirchdorf ein urbanes Zentrum entwickelte: Mehr und mehr vollzog dieses den Aufstieg zum Gewerbedorf und Wohnort von Dorfbürgern. Die weitere Entwicklung gewann ihre Dynamik aus der protoindustriellen Leinenkonjunktur. Der Profit aus der Garnproduktion verblieb bei den immer zahlreicher werdenden reichen Kaufleuten im Dorf. Wenn auch zu diesem Zeitpunkt die rechtliche Erhebung zur Stadt noch ausstand, so war doch mit dieser Entwicklung der immense Wandel der Wirtschafts- und Sozialstruktur im folgenden Jahrhundert bereits vorstrukturiert (S. 103).

Das „lange“ 19. Jahrhundert und damit den für das wirtschaftliche, politische und kulturelle Profil der Stadt zum Teil bis heute prägenden Zeitabschnitt thematisieren Heike Vieregge und Katrin Minner in drei Beiträgen. Dabei skizziert Vieregge „Wirtschaftswachstum und urbanes Profil“ Güterslohs (109–215), analysiert Minner „Die Stadt und ihre Bürger“ (S. 215–315), bevor dann beide Autorinnen gemeinsam der politischen Kultur der Stadt zwischen tendenziell liberalem Bürgertum und konservativer Erweckungsbewegung nachgehen (S. 315–384). Dabei gelingt es den beiden Historikerinnen überzeugend, Gütersloher Spezifika und die methodischen wie inhaltlichen Ergebnisse der seit ca. 1 ½ Jahrzehnten so reichen Bürgertumsforschung zu verbinden. Güterslohs Aufstieg vom Dorf zur Industriestadt ist vor allem von einer enorm hohen Geschwindigkeit geprägt, mit der sich die Wirtschafts- und Sozialverhältnisse änderten. Getragen war die Entwicklung bis Anfang der 1860er Jahre vorrangig von wirtschaftsbürgerlichen Honoratioren, die mit dem Wohl der Stadt auch ihr eigenes auf das Engste verknüpft sahen. Danach trat an ihre Stelle eine mehr und mehr professionalisierte kommunale Leistungsverwaltung, während in Handel und Industrie das „alte“ gemeinbürgerliche Engagement immer nur dann aufflammte, wenn handfeste Eigeninteressen damit verbunden waren (S. 200).

Parallel zum bürgerlichen Engagement in Wirtschaft und Politik bildete sich in Gütersloh eine spezifische Kultur- und Lebensform der bürgerlichen Bevölkerungsgruppe heraus. Es gelingt illustrativ, an Beispielen wie den bürgerlichen Verkehrs-und Heiratskreisen, den bürgerlichen Frauenrollen in der Stadt oder anhand von Ehrungen, Ehrenzeichen und den damit verbundenen Ehrvorstellungen dem bürgerlichen Habitus Konturen zu verleihen. Insbesondere die Passagen zur bürgerlichen Selbstdarstellung in Bild, Daguerreotypie und Fotografie, aber auch in der Architektur überzeugen durch reiches Quellenmaterial und klare Analyse (S. 238–247).

Auch wenn das Gütersloher Bürgertum weite Segmente des Stadtlebens trug und sein Signum tief in das architektonische Gesicht der Stadt einzeichnete, so erwuchs ihm doch mit der Erweckungsbewegung im ländlichen Minden-Ravensberg ein starker Kontrapart. Die (mehr in der Theorie als in der Praxis) sozial-exklusive, konfessionsübergreifende Idee einer liberalen Bürgergesellschaft sah sich konfrontiert mit dem Neupietismus, der sozialübergreifend, aber konfessionsgebunden auf die individuelle Bußfertigkeit zielte. In der Regel fasste die Erweckung vor allem im ländlichen Raum Fuß, in Gütersloh aber schlossen sich ihr seit den 1830er Jahren auch Teile des Bürgertums an, so daß der konservative Protestantismus auch politisch an Gewicht gewann.

Exemplarisch dafür erinnert die Autorin an den Verlauf der 1848er Revolution in Gütersloh: Bereits im März des Jahres 1848, und nicht erst im Herbst, unterlag liberaler Bürgergeist einem konservativen, auf den Monarchen konzentrierten Untertanengeist. Justizrat Groneweg ließ die Stadtverordnetenversammlung über eine Adresse an den König beraten, in der repräsentative Verfassung und Volksvertretung, Presse- und Vereins- sowie Religionsfreiheit gefordert wurden – und scheiterte. Weitere Reibungspunkte zwischen Bürgertum und Erweckungsbewegung ergaben sich aus anstehenden Pfarrerwahlen und den Formen bürgerlicher Geselligkeit und Festivitäten; insbesondere das Schützenfest war Anlaß intensiver Auseinandersetzungen. Seit den 1850er Jahren verlor der bürgerliche Liberalismus in dieser anhaltenden Kontroverse beständig an Boden. Erst die Formierung von Zentrum und Arbeiterparteien sowie die sinkende Attraktivität des christlichen Konservativismus mischte die städtischen Machtverhältnisse im letzten Jahrhundertdrittel neu.

Hans Walter Schmuhl arbeitet in seinem abschließenden Beitrag zu „Zustimmung, Resistenz und Ausgrenzung“ in Gütersloh während des Nationalsozialismus heraus, was aus vielen vergleichbaren Lokal-, Regional-, aber auch Milieustudien bekannt ist (S. 403-447): Eine zunächst randständige nationalsozialistische Ortsgruppe eroberte nach und nach durch aufsehenerregende Demonstrationen den öffentlichen Raum für sich und traf insbesondere, aber nicht nur in der Wählerschaft der bürgerlichen Mitte auf breite Resonanz. In Gütersloh boten selbst die politischen Exponenten des Bürgertums anläßlich der Kommunalwahl 1933 der NSDAP die Hand, wenn sie diese zum Beitritt in einen „evangelischen Bürgerblock“ zu bewegen suchten (S. 409).

Auch wenn es den Nationalsozialisten selbst in der protestantischen Mittelstadt nicht gelang, in den Wahlen vor der sogenannten Machtergreifung eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen, so brach doch im Sog der Entwicklung in Berlin, aber auch wegen der vor Ort zu beobachtenden Selbstgleichschaltung der bürgerlichen Eliten, ein lokalpolitisches Kräftefeld nach dem anderen zusammen: Der Magistrat gleichgeschaltet und die Stadtverordnetenversammmlung in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, die Parteien verboten und die Vereins- und Verbandsstrukturen des „roten“ und „schwarzen“ Milieus zerschlagen beziehungsweise in die Binnenstrukturen zurückgedrängt... Doch werden hier die einzelnen Stationen allzu schematisch abgearbeitet, so daß die besonderen Chancen, die sich auf diesem Feld für die Stadtgeschichte ergeben, nur ansatzweise ausgeschöpft werden: das Verhältnis der lokal besonders verdichteten Vergesellschaftungsformen zur politischen Umformung im Nationalsozialismus – als Träger, als Mitläufer wie auch als Opponenten – in den Kommunikations- und Sozialräumen der Stadt genauer auszuleuchten. 1

Die Nachkriegsgeschichte wird indes nur knapp gestreift, ein Blick auf die Jahre in der „Zusammenbruchgesellschaft“ beschließt den Band. Ungewollt (und vielleicht auch nur vorläufig) leistet die Stadtgeschichte Gütersloh damit einem Trend Vorschub, der bereits des öfteren beklagt wurde: Insgesamt nämlich sind Städte und Urbanisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts meist besser bekannt als die Entwicklung im 20. Jahrhundert. Natürlich verblaßt das kommunale Kolorit mit der steigenden Regelungskompetenz der nationalen Staatsapparate und übernationalen Bürokratien oder auch wegen der wachsenden Vernetzung der einzelnen Orte in einer sich globalisierenden Verkehrswirtschaft. Und dennoch ist die neoliberale Vorstellung vom durch und durch mobilen und deshalb sozial wie räumlich ungebundenen Menschen eine Mär. Weiterhin prägt der unmittelbare Sozialraum entscheidend die individuelle Lebenswelt, präformiert Möglichkeiten und Dispositionen, Berufs- und Alltagsverbringung und entscheidet damit über ein großes Quantum von „Leid“ und „Glück“ in der Individualbiographie. Auch unter den Auspizien der sich auflösenden, zerfasernden, ja gar – wie von einigen Forschern prophezeit wurde – sterbenden Stadt bleibt es deshalb spannend, Stadtgeschichte zu betreiben.

Dem einleitenden Wunsch des Herausgebers nach einer Fortsetzung der Stadtgeschichte Güterslohs, in der dann neben dem politischen Neubeginn nach 1945 auch die Integration der Flüchtlinge, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, die „wilden“ 60er Jahre thematisiert würden, mag man sich nicht nur wegen des allgemeinen Interesses an der Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts gerne anschließen, auch die Lektüre des ersten Bandes ist ein gewichtiges Argument dafür (S. 15). Der Band verweist über seine spezifischen Darstellungen und Analysen hinaus darauf, sich von der (durchaus nachvollziehbaren) Fixierung auf die faszinierenden Metropolen zu lösen und stärker Klein- und Mittelstädte zu thematisieren, um damit den urbanen Lebensraum in der Provinz historiographisch stärker zu erschließen.

Anmerkungen:
1 Zu den Möglichkeiten des regionalen und lokalen Zugriffs vgl. zum Beispiel die auf das katholische Bevölkerungssegment zugeschnittene Studie von Norbert Fasse, Katholiken und NS-Herrschaft im Münsterland. Das Amt Velen-Ramsdorf 1918–1945, Bielefeld ²1997.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension