H. Haftendorn: Deutsche Außenpolitik seit dem 2. Weltkrieg

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Titel
Deutsche Außenpolitik seit dem 2. Weltkrieg. Zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung


Autor(en)
Haftendorn, Helga
Erschienen
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität Köln

Deutsche Historiker haben eine merkwürdige Neigung zu prägnanten ersten Sätzen, die sie nicht von Romanautoren unterscheidet, deren Beginn angeblich schon das Ganze enthält.
„Am Anfang war Napoleon“, markierte Thomas Nipperdey den Auftakt seiner Geschichte des langen 19. Jahrhunderts, Hans-Ulrich Wehler replizierte mit seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte: „Im Anfang stand keine Revolution.“ Zu wenig bemerkt wurde, daß Arnulf Baring bereits 1969 die Außenpolitik der Bundesrepublik begann: „Im Anfang war Adenauer –so läßt sich der Beginn der Bundesrepublik kurz kennzeichnen.“ Dem widerspricht Helga Haftendorn programmatisch: „Im Anfang waren die Alliierten – und nicht Adenauer, wie die deutsche Zeitgeschichtsforschung bis heute behauptet.“ Natürlich hat dieser Introitus seinen Charme als ikonenhaftes Leitbild, und es hängt immer von der Leitfrage in einem komplexen Wirkungszusammenhang ab, wie er ausgefüllt wird.

Bei Haftendorn jedenfalls ist klar, daß 1945 mit den Ende der NS-Herrschaft erst einmal die Alliierten allein das Sagen hatten (Von daher ließe sich bei erinnerungspolitischem Hintergrund sehr wohl auch formulieren: am Anfang war Hitler...). Es geht ihr um die Herausbildung und Erweiterung von Handlungsspielräumen. Diese setzten sich nicht geradlinig fort, sondern gingen manch verschlungene Wege. Vor allem waren sie sektoral sehr ungleich. In Wirtschaftsfragen – siehe Wirtschaftswunder, siehe westeuropäische Integration – errang die Bundesrepublik recht schnell internationale Anerkennung, in sicherheitspolitischen Fragen dauerte es länger, ja bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes (und danach),so ließe sich argumentieren, war und blieb die Einbindung Deutschlands ein zentrales Anliegen der Mitglieder des westlichen Staatensystems.
Das Paradox, daß der – dennoch auch bei Haftendorn für die ersten Jahrzehnte im Vordergrund stehende - erste Kanzler die Handlungsfähigkeit, sprich (begrenzte) Souveränität durch europäischen Souveränitätsverzicht durchsetzte, ist auch sonst schon beobachtet worden. Es blieb aber eine Maxime bundesdeutscher Einbettung und damit Erweiterung von Einfluß.

Trotz ihres markanten ersten Satzes bleibt die emeritierte Politikwissenschaftlerin von der FU Berlin, der wir bislang einen ganzen Kranz von gewichtigen Darstellungen zu Teilaspekten von bundesdeutscher Außenpolitik verdanken, einer personenbezogenen Narratio ohne jeden theoretischen Anspruch verpflichtet. Der Staat werde halt durch seine wichtigsten Repräsentanten vertreten, wenn auch manchmal Außenpolitik aus innenpolitischen Motiven gemacht werde – so etwa bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens 1992. Merkwürdig ist es dann aber doch, wenn irgendwer auf den Umschlag des Buches die Szene von 1990 in Arys am Kaukasus mit Gorbatschow, Kohl und Genscher gesetzt hat, die ja ikonengleich samt Holzklötzen und Strickjacken bis ins Haus der Geschichte in Bonn gedrungen ist und vor allem eines signalisierte: Diese Männer brachten die deutsche Vereinigung. Dabei erwähnt auch Haftendorn dank ihrer im allgemeinen vorzüglich gelungenen Einbettung der USA in internationale Handlungszusammenhänge, daß diese unter George Bush und James Baker sowohl was die Zustimmung zur Einheit an sich als auch zum Verbleib in der NATO wichtige (wenn nicht gar zentrale) Vorarbeit geleistet hatten – und wo bleiben eigentlich die Bürgerbewegungen samt anderen innergesellschaftlichen Bedingungen für die Vereinigung?

Im Moment gibt es vier brauchbare wissenschaftliche Gesamtdarstellungen zur deutschen Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die jeweilige Gegenwart: Wolfram Hanrieder (1995) analysiert am scharfsinnigsten, Christian Hacke (1993/2000) schreibt am stärksten essayartig mit großen Bögen, Gregor Schöllgen (1999) informiert am knappsten. Haftendorns Band ist demgegenüber der einzige, der die „deutsche Außenpolitik“ auch als die der DDR begreift. Allerdings ist dieser nur ein Kapitel gewidmet, das die sehr viel stärkere Bezogenheit des „zweiten deutschen Staates“ auf die Bundesrepublik zum Thema macht, aber dennoch dort ähnliche Erweiterungen des Aktionsraums sieht wie den oben genannten. Jedoch ist gerade das DDR-Kapitel recht additiv und breitet viel allgemeines Handbuchwissen aus.

Das Buch umfaßt zwei völlig unterschiedliche Teile und ist – bei formal konventioneller Gliederung in zehn Kapitel - vor allem im zweiten Teil innovativ. Die ersten Kapitel, die bis etwa 1970 reichen, sind in knappen, prägnanten Sätzen geschrieben, fassen großzügig und informiert in oft hohen Bögen– etwa bei den Außenministerkonferenzen zur deutschen Frage – die Entwicklungen zusammen. Dabei ist gerade dieser Zeitraum am besten und archivnah erforscht. Dann aber reiht Haftendorn in den Kapiteln des zweiten Teils ganz anders große, eher sektorale Kapitel aneinander, die jeweils in Teilen eigenständige und innovative Forschungen bilden (bzw. eigene der Autorin zusammenfassen – so zur NATO-Strategie der sechziger Jahre). Leider zerreißen diese sektoralen Kapitel wichtige Handlungszusammenhänge, um dafür wieder andere erst ins Bewußtsein zu heben. Hier werden einzelne Ereignisabläufe aus den zeitgenössisch publizierten Quellen, aus Memoiren etc. rekonstruiert und gute Schneisen geschlagen – wobei manchmal erstaunlicherweise auch jüngere Forschungsliteratur fehlt.

Im Einzelnen sind in diesem zweiten Teil zu nennen: die in einem günstigen internationalen Zeitpunkt ergriffene Chance in der Deutschland- und Ostpolitik ab 1969: Sie sicherte den Status quo in der deutschen Frage, sie überwand damit die internationale Isolierung im Westen (die zumindest drohte), sie erreichte aber zunächst wenig menschliche Erleichterungen. Weitgehend Neues gibt Haftendorn zur Eingliederung in die Weltwirtschaft von den fünfziger Jahren bis zur sich gegenwärtig durchsetzenden Globalisierung. Spannend sind die Darstellungen über die Rüstungskrise um die Mittelstreckenraketen, wobei sie selbst deutlich hinter Helmut Schmidts Linie steht, aber kaum die Rolle von Friedensbewegungen erwähnt; der Sturz des Kanzlers und die Ablösung durch Helmut Kohl wird nur am Rande erwähnt. Gut gelungen und innovativ ist aber hier die Einbettung der Rüstungsfrage in die innerwestliche Wirtschaftskrise. Ganz knapp benannt (im DDR- Kapitel) wird die „Nebenaußenpolitik“ der SPD in den achtziger Jahren, vergleichsweise kurz die völlig neuen Vereinbarungen der Ära Gorbatschow (in der Rüstungsfrage – Schmidt war danach mit seiner Londoner Rede von 1977 eben in etwa da, wo das INF- Abkommen Reagan- Gorbatschow zehn Jahre später landete).

Recht gelungen ist das genuin historische Kapitel über die Entwicklung der europäischen Integration von der Einheitlichen Europäischen Akte bis in die unmittelbare Gegenwart Anfang 2001 und bis zu den Fragen der Osterweiterung der EU. Die deutsche Einheit wird – mal mit, mal ohne Fragezeichen – als „Glücksfall der Geschichte“ nahe an den internationalen Verhandlungssträngen und damit in der multilateralen Einbettung der Verhandlungen breit geschildert. Schließlich tauchen in den neunziger Jahren die eher unübersichtlich werdenden neuen Fragen und „Herausforderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts“ auf.

Mit Karl Kaiser summiert Helga Haftendorn: „Deutschland ist wieder eine große Macht geworden“ – aber eben als Mitproduzent, nicht allein als Konsument von internationaler Ordnung. Zur nach wie vor nötigen Selbstbeschränkung der frühen Jahre seien neue Elemente der Selbstbehauptung hinzugekommen – so erklärt sich auch der in sich schwer verständliche Titel der Arbeit. Es liegt eine trocken geschriebene, informierte und informierende Studie vor, die einen großen Überblick wagt, ohne jedoch den wenig vorgebildeten Leser immer hinreichend an die Hand zu nehmen. Dann muß es wohl im Kern bei den Fachgenossen bleiben, die eine ganze Menge an neuen Deutungen im Rahmen des Mainstreams zur Kenntnis nehmen können.

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