H.-H. Dirksen: "Keine Gnade den Feinden unserer Republik"

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Titel
"Keine Gnade den Feinden unserer Republik". Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945-1990


Autor(en)
Dirksen, Hans-Hermann
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen 10
Erschienen
Anzahl Seiten
939 S.
Preis
DM 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Anke Silomon

Mit seiner Arbeit über die „Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR“ wurde der Rechtsanwalt Hans-Hermann Dirksen 1999 an der juristischen Fakultät der Universität Greifswald promoviert. Wie dem Klappentext zu entnehmen ist, beschäftigt er sich seit einigen Jahren mit der „Verfolgung kleinerer Religionsgemeinschaften während des Kommunismus“, doch ist im Literaturverzeichnis nur einer von „einigen“ wissenschaftlichen Aufsätzen aufgeführt, der wie seine Dissertation die Zeugen Jehovas [ZJ] in der DDR zum Thema hat. So bleibt offen, ob mit „Kommunismus“ lediglich der treffender als „real-existierender Sozialismus“ zu bezeichnende SED-Staat gemeint ist und ob Dirksen auch über andere Religionsgemeinschaften in kommunistischen Systemen gearbeitet hat. Diese Frage stellt sich – zumindest gilt das für die Rezensentin – bei der Lektüre von Vorwort und Einführung, da die stellenweise wenig neutrale, eher für den Sprachgebrauch der jeweiligen staatlichen Systeme charakteristische Wortwahl auf eine mangelnde Distanz zum Forschungsgegenstand hindeutet. Auffällig ist dies, weil Dirksen keineswegs grundsätzlich auf die Verwendung von Anführungszeichen zur begrifflichen und sprachlichen Differenzierung verzichtet.

Er weist eingangs auf den „äußerst bemerkenswerten“ Umstand hin, daß die ZJ in unmittelbarem Anschluß an ihre Verfolgung unter dem Nationalsozialismus der „unbarmherzigen Verfolgung durch das kommunistische Regime“ ausgesetzt gewesen seien und konstatiert, die ZJ hätten „in beiden deutschen Diktaturen zu den am stärksten verfolgten Gruppen“ gehört. Während für die NS-Zeit erst in den vergangenen sechs Jahren „objektive Forschungen“ – angeführt werden vier Veröffentlichungen – in Gang gekommen seien, stünde die entsprechende Aufarbeitung der DDR-Geschichte noch aus. Dirksens Anliegen ist es, die „Dokumente der Verfolgung von Jehovas Zeugen in der DDR zu sammeln und zu ordnen, wie auch die Erinnerungen der Zeitzeugen festzuschreiben“, um dem Vergessen einer Religionsgemeinschaft entgegenzuwirken, die wie „kaum eine andere religiöse oder gesellschaftliche Organisation in der DDR [...] vierzig Jahre lang geschlossen ein so standhaftes widerständiges Verhalten gezeigt“ habe. (S. 8f.)

In seiner Einführung skizziert er Forschungsstand, Quellenlage sowie das in der SBZ bzw. DDR gegebene Verständnis von Religionsfreiheit. Während die westdeutschen Medien auf das 1950 von der SED ausgesprochene Verbot der ZJ in der DDR und die ersten „Schauprozesse“ noch mit ausführlicher Berichterstattung reagiert und damit die „Weltöffentlichkeit“ zumindest ansatzweise informiert hätten, seien die ZJ in den 70er Jahren in Vergessenheit geraten. Dirksen führt dies auf das Bestreben der bundesdeutschen Politik zurück, eine „friedliche Koexistenz“ mit der DDR nicht durch „Mißtöne“ zu stören. Hingegen seien in DDR-Zeitungen zahlreiche „im propagandistischen Stil“ gegen die ZJ „hetzende“ Artikel erschienen, anfangs, um das Verbot der Religionsgemeinschaft zu legitimieren, später, um dessen Richtigkeit zu bestätigen.

Weitere Publikationen habe es in der DDR nicht gegeben – bis auf einzelne, die zur Unterstützung des „‚Zersetzungskampfes’ des MfS gegen diese Glaubensgemeinschaft“ veröffentlicht worden seien. Dirksen nennt Günther Papes in der Bundesrepublik verfaßtes Buch „Ich war Zeuge Jehovas“, das sein ebenfalls aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschiedener Bruder Dieter 1961 in Ost-Berlin veröffentlicht habe. Die westdeutsche evangelische Kirche habe das „Werk“ „unter der Auflage gesponsert, am Schluß ein Kapitel über den segensreichen Weg zurück in den Schoß der Kirche anzufügen“ (Günther Pape ist zum Katholizismus übergetreten). Ferner habe der ehemalige ZJ Manfred Gebhardt „gegen Bezahlung“ als Herausgeber der „umfangreichen“ Publikation „Die Zeugen Jehovas“ (Leipzig 1970) fungiert, bei der es sich um ein „propagandistisches Auftragswerk des MfS“ handele. (S. 31-34)

Insgesamt sei die Forschungslage heute noch als desperat zu beurteilen, wenngleich die Zugänglichkeit der Quellen durch den Zusammenbruch der DDR eine erhebliche Verbesserung erfahren habe. 1 Dirksen wertet nicht nur zahlreiche Bestände aus dem Bundesarchiv, mehreren Landesarchiven und – in besonderem Umfang – aus der schriftlichen Hinterlassenschaft des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit aus, sondern hat auch mehr als 250 (ihm teils von den Betroffenen überlassene) Strafurteile eingearbeitet, diverse Verfahrensakten bei Staatsanwaltschaften (im Kontext von Rehabilitierungsverfahren) eingesehen, und er kontaktierte etwa 100 Zeitzeugen, in der DDR verurteilte ZJ, aus deren einzelnen Erlebnissen er eine „Gesamtverfolgungsgeschichte“ rekonstruiert. Doch habe auch er das „völlig offene“ Forschungsgebiet der „Haftbedingungen“ nicht berücksichtigen können, weil in den Lebenserinnerungen der Befragten die Schilderung des „Zusammenhalts und der Organisation unter den Glaubensbrüdern wie auch der Verkündigung der Glaubenslehren unter den Mitgefangenen“ im Vordergrund stünde. (S. 37)

Der Hauptteil der Untersuchung ist in die vier großen Abschnitte „Historie“, „Aufbau“, „Staatsterror“ und „Zersetzung“ untergliedert, während in einem Anhang die „Frage der Rechtsbeugung“ erörtert und die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse in Verbindung mit einigen „Zahlen und Fakten“ zu den ZJ präsentiert wird. Die angefügte Zeittafel (1945-1990) ist ebenso leserfreundlich wie die jeweils separaten Verzeichnisse der Personen, Orte und Sachworte – allerdings fehlen im Personenverzeichnis aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen einige Vornamen. Der erste Abschnitt widmet sich der Entwicklung der zu Beginn der 1870er Jahre in den USA entstandenen Religionsgemeinschaft der ZJ, ihres Organisationssystems sowie ihrer Grundlehre bis zur Gegenwart.

Die Lehre bzw. die Glaubensansichten der ZJ werden zwar ausführlich erläutert, doch geht Dirksen auf manche – zumindest in den aktuellen Debatten als befremdend oder sogar inakzeptabel kritisierte – Besonderheiten, wie etwa die Ablehnung von Bluttransfusionen, die Haltung zur Sexualität oder die Rolle der Frau, gar nicht ein. Natürlich sind diese für das Thema seiner Arbeit nicht von solcher Relevanz wie das Verhältnis der ZJ zur weltlichen „Obrigkeit“ (1962 Relativierung: Respekt vor dem Staat, jedoch Vorrang des Gehorsams gegenüber Gott), ihre politisch abstinente Haltung (keine Wahlteilnahme, politisches Engagement oder Parteizugehörigkeit) und die Verweigerung des Wehrdienstes, denn die Bindung an diese Glaubensgrundsätze ließ die ZJ zum „Feindobjekt“ des SED-Staates werden. Doch eröffnen die oben genannten Spezifika ihrer Lehre Deutungsansätze für die bis heute geringe gesellschaftliche Akzeptanz.

Die Wiederbegründung des Evangelisierungswerks der ZJ in der SBZ nach Kriegsende wird im Kapitel „Aufbau“ detailliert nachgezeichnet. Dabei erläutert Dirksen, wie sich die Lage für die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft, denen in der SBZ noch ohne Schwierigkeiten der Status „Opfer des Faschismus“ zugebilligt wurde, im Zuge ihrer aktiven öffentlichen Missionstätigkeit schrittweise verschlechterte. Die SED reagierte mit politisch motiviertem Mißtrauen, überwachte und behinderte Arbeit und Gottesdienste der ZJ und ergriff in Umsetzung des Politbürobeschlusses vom 13.9.1949 erste Maßnahmen: Entziehung von „amtlichen Räumen“ und Anmeldepflicht für die Veranstaltungen der ZJ, Verbot der Aufnahme von ZJ in die DDR-Massenorganisationen, Überprüfung ihrer Äußerungen auf Verstöße gegen „gesetzliche Strafbestimmungen“. Es kam zu Vertriebsverboten, Beschlagnahmungen und Strafverfahren wegen „Verbreitung nichtlizenzierter Zeitschriften“ wie dem „Wachtturm“ sowie zu Verhaftungen von ZJ, gegen die diese mit wenig Erfolg Rechtsmittel einlegten. (S. 199, 236, 242)

Der in Teil 3 dargestellte „Staatsterror“ habe mit dem Eindringen des MfS in das „Bibelhaus“ der ZJ in Magdeburg, einer zeitgleich durchgeführten Verhaftungsaktion von etwa 400 Mitgliedern und dem offiziellen Verbot der ZJ im August 1950 eingesetzt. Dirksen schildert die „systematische“ gerichtliche Strafverfolgung der ZJ anhand eines für weitere geplante Verfahren „als Vorlage“ dienenden Prozesses vor dem Obersten Gericht der DDR (Anklage: „Organisation, Spionage, antidemokratische Hetze, Kriegshetze, Übergang in die Illegalität“), nennt die entsprechenden „Rechtslenkungsmechanismen“ zur Strafverfolgung der ZJ und beschreibt ausführlich viele gegen Mitglieder der Glaubensgemeinschaft in verschiedenen Bezirken der DDR geführte Strafverfahren. Genau geht er darauf ein, mit welchen geheimdienstlichen Methoden die DDR-Staatssicherheit zwischen 1950 und dem Mauerbau 1961 gegen die verbotenen ZJ vorging und versuchte, in ihre Überwachungsaktionen ebenfalls die ZJ und deren Aktivitäten im Westen einzubeziehen. Die in Vorahnung der Grenzerrichtung von den ZJ in der DDR organisierte „zentrale Leitung“ sei nach 1961 vom MfS mit dem Ziel der „Liquidierung“ mit dem „Zentralen Operativen Vorgang“ „Sumpf“ bearbeitet und im Laufe des Jahres 1966 acht, von der SED interessanterweise „propagandistisch in der Öffentlichkeit völlig ungenutzte“ Strafverfahren gegen leitende „staatsfeindliche“ ZJ geführt worden. (S. 301, 313, 320, 356, 680f., 713)

Im 4. Kapitel skizziert Dirksen die mit neuen Methoden gegen die ZJ beginnende „Zersetzungs“-Tätigkeit des MfS, die strafrechtliche Verfolgung der Wehrdienstverweigerer von der Einführung der Wehrpflicht 1962 über das Inkrafttreten der Bausoldatenregelung 1964 bis hin zum 1982 geänderten Wehrdienstgesetz. Da es nach 1966 nicht mehr zu „strafrechtlichen Verurteilungen“ von ZJ gekommen sei, habe sich das MfS darauf verlegt, die Einleitung von „Ordnungsstrafverfügungen“ anzustoßen. (S. 787) Die sich Mitte der 80er Jahre mit der Politik Gorbatschows abzeichnenden Entspannungstendenzen seien den ZJ nicht zugute gekommen. Ihre staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft habe das neue Amt für Kirchenfragen des DDR-Ministerrats erst am 14.3.1990 ausgesprochen. Wie das endgültige Urteil hinsichtlich des Status der ZJ im wiedervereinigten Deutschland ausfällt, wird die Zukunft erweisen.

Dirksen hat eine ungemein materialreiche und als Bestandsaufnahme zu würdigende Untersuchung vorgelegt. Die grundlegenden Fragen, warum die ZJ in der DDR verfolgt wurden und wie ihr Verhalten in der DDR zu bewerten sei, beantwortet Dirksen jedoch auf nicht einmal 10 von fast 1000 Seiten, die sich wie eine Ode an die Lehre der ZJ lesen: Die politische Neutralität der ZJ, ihre religiöse Verkündigung, kein irdisches System habe dauerhaften Bestand sowie ihre Anziehungskraft für Jugendliche, Frauen und sogar SED-Mitglieder habe ihre „Verfolgung“ ausgelöst, erkläre aber nicht, daß sie „dermaßen hart und lange vom SED-Regime verfolgt“ wurden wie keine andere Gruppierung. Der Grund dafür sei ihr kompromißloser Widerstand, der wiederum aus der Überzeugung von „jedem einzelnen“ ZJ resultiere, „daß seine Handlungsweise seinem Gott wohlgefällig war“. So sei auch die Motivation der ZJ für ihr Verhalten nur mit dem Wissen um ihr unbedingtes Festhalten an den biblischen Geboten der Liebe zu Gott und der Nächstenliebe zu verstehen. Sie hätten die SED, die „anderen politischen Parteien“ und die Kirchen auf ihre „Verfehlungen“ hingewiesen und sich nur widersetzt, wenn sie die „religiösen Freiheitsrechte“ mißachtet sahen. Diese hätten sie – fern jedes Verlangens nach „persönlichen Vorteilen“ – schützen wollen, damit „andere Menschen [...] diesen biblischen Lebensweg kennenlernen, um zu der Schlußfolgerung zu gelangen, daß es auch für sie keinen besseren Lebensweg gibt“. (S. 857f., 861-864)

Dirksens Arbeit haftet ein Makel an: Seine Perspektive ist – nahezu ohne jeden vergleichenden Seitenblick auf die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften oder gar die zahlreichen Gruppen in der DDR – streng auf die „Verfolgung“ der ZJ konzentriert, so daß ein Gesamtbild gezeichnet wird, das den generellen (!) Umgang der SED mit „Andersdenkenden“ nicht adäquat wiedergibt.

1 Nicht im Literaturverzeichnis genannt ist eine im Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung erarbeitete Studie von Gerald Hacke: Zeugen Jehovas in der DDR: Verfolgung und Verhalten einer religiösen Minderheit, Dresden 2000.

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