U.A.J. Becher u.a. (Hgg.): Deutschland und Polen im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Deutschland und Polen im zwanzigsten Jahrhundert. Analysen, Quellen, didaktische Hinweise


Herausgeber
Becher, Ursula A.J.; Borodziej, Wlodzimierz; Maier, Robert
Reihe
Studien zur Internationalen Schulbuchforschung 82/C
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 9,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Juergen Boemelburg, Deutsches Historisches Institut

Die vorliegende Quellensammlung ist als Lehrerhandreichung und Studienbuch konzipiert und möchte zentrale Themen und Probleme der deutschen und polnischen Geschichte aufbereiten. Der Umfang des präsentierten Materials, die damit verbundene Frage der Auswahlkriterien und die Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts legen jedoch auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Band nahe.

Die Darstellung setzt sich aus drei deutlich von einander abgesetzten Textsorten zusammen: Auf einführende analytische Überlegungen von deutschen und polnischen Fachhistorikern (ca. 10% des Umfangs) folgen didaktische Überlegungen (20%) und ein Quellenteil (70%), der 205 Text- und Bildmaterialien (darunter auch literarische Quellen, Plakate, Karikaturen, Karten, Briefmarken) umfaßt. Didaktische Überlegungen und Materialienteil sind durch ein Verweissystem eng aufeinander bezogen. Einführend gibt Włodzimierz Borodziej Einblicke in die Tätigkeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Ein erheblicher Teil der präsentierten Materialien wurde für die vorliegende Sammlung aus dem Polnischen übersetzt bzw. lag nur in schwer zugänglichen Übersetzungen vor.

Ein Glossar mit Kurzinformationen zu wichtigen Personen und Begriffen, eine Zeittafel, Listen mit Unterrichtsmaterialien zu deutsch-polnischen Themen, mit ausgewählter Kinder- und Jugendliteratur sowie weiterführender wissenschaftlicher Literatur, eine Aufstellung audiovisueller Medien und ein kommentiertes Verzeichnis von Internet-Adressen machen den Band auch als Suchwerkzeug benutzbar.

Die Handreichung ist in vier Themenblöcke mit Einzelproblemen aufgeteilt: 1) Weltkrieg und Grenzen, 2) Bevölkerungsprobleme (darunter Frauenrollen und Frauenrechte, Migrationen, Minderheiten und die jüdische Bevölkerung in Deutschland und Polen), 3) Strukturprobleme (u.a. demokratischer, autoritärer und totalitärer Staat und Phasen kommunistischer Herrschaft) und 4) äußerer politischer Rahmen (darunter „Erbfeindschaften“/ Stereotypenforschung, die Teilung Europas nach 1944, Ostpolitik und Koexistenz der Systeme sowie die deutsch-polnische Interessengemeinschaft in den 1990er Jahren). Die Aufteilung erscheint als sinnvoll, da so einzelne deutsch-polnische Aspekte in die Unterrichtspraxis einfließen können. Deutlich erkennbar ist das Bemühen der Autoren und Herausgeber, über thematische Aspekte dem Leser auch Informationen über polnische Geschichte und deutsch-polnische Beziehungen zu vermitteln. Dies ist sinnvoll, da in den Lehrplänen kaum Platz für eine gesonderte Beschäftigung mit Polen besteht und kaum Wissen vorausgesetzt werden kann.

Naturgemäß von einzelnen Interessenschwerpunkten geleitet ist die Quellenauswahl: Auch hier sollen dem deutschen Publikum vielfach Informationen über die verwickelten deutsch-polnischen Beziehungen vermittelt werden. Lehrreich ist in diesem Kontext ein Blick auf die polnische Ausgabe (Polska i Niemcy 2001)1, die parallel erschienen ist. Neben dem unveränderten Abdruck der fachwissenschaftlichen Einführungen enthält diese auf die polnische Unterrichtspraxis zugeschnittene didaktische Einführungen und eine deutlich abweichende Quellenauswahl: Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, während auf allgemeine Informationen zur deutschen Zeitgeschichte verzichtet wird, da die Hg. wohl zu Recht davon ausgehen, daß hier in Polen ausreichend Wissen vorhanden ist. Nachgezeichnet wird in der polnischen Quellensammlung insbesondere der deutsch-polnische Verständigungsprozeß seit den 1960er Jahren – hier unterstellen die Hg. einen Informationsbedarf bei polnischen Jugendlichen. Die Auswahl zeichnet darüber hinaus ein nuanciertes Bild von deutschen und polnischen Einstellungen im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Letzteres Ziel wird in der deutschen Ausgabe sicher auch erreicht, nur wird auf eine Nachzeichnung des deutsch-polnischen Verständigungsprozesses verzichtet. Nachzufragen wäre, ob hier auf deutscher Seite nicht auch ein Bedarf besteht.

Problematisch wird die Auswahl an den Stellen, wo die aus dem Polnischen übersetzten Materialien dem deutschen Leser nicht oder nur schwer verständlich sind. Ein extremes Beispiel bildet ein polnisches Gedicht aus dem Jahre 1914, das die für Polen vertraute Situation beschreibt, in der polnischsprachige Soldaten auf Polen in anderen Armeen schießen (S. 123). Leider ist die Übersetzung einem deutschen Leser gänzlich unverständlich, da der verdeckte Anspielungshorizont auf das polnische Vaterland (im Polnischen weiblich) einem deutschen Leser entgeht: Daß mit „Die, welche nie verging…“ Polen gemeint ist, bleibt selbst dem aufmerksamen Leser verborgen.

Fragwürdig erscheint die Auswahl folgender Materialien: M 16 (warum eine österreichische und keine deutsche Deklaration aus dem Ersten Weltkrieg, die zudem aufgrund der habsburgischen Titulatur schwer verständlich ist?) und M 86 (die Zuordnung des Gemäldes „Der Sturm“ von Felix Nußbaum zum Kontext deutscher und polnischer Vertreibung ist unklar). Manche Materialien scheinen entbehrlich (M 109, M 129, M 155).

In wenigen Fällen sind die gegebenen Erläuterungen unglücklich gewählt: So sollte zu Jan Józef Lipski (S. 279) eher dessen Rolle als Kritiker antideutscher Stereotypen in Polen und Befürworter der deutsch-polnischen Verständigung als dessen Gründerrolle einer Splitterpartei vermerkt werden. Die Zuweisung des Davidsterns zum Arsenal deutscher Aggression (S. 338) durch eine polnische satirische Zeitschrift 1921 verdient eine zeithistorische Erläuterung.

Nur hingewiesen werden kann auf Akzentsetzungen, die wissenschaftlich problematisch erscheinen: So ist die polnische Stellungnahme gegen den Marschallplan (S. 91, 315) wohl weniger antideutschen Stereotypen als der Einbindung in die sowjetische Politik geschuldet. Die Behauptung „Der Zweite Weltkrieg steht in der Kontinuität der deutsch-polnischen Beziehungen“ (S. 38) ist durch die Forschung nicht abgedeckt.

Grundsätzlich unterrepräsentiert sind in dem Band die Beziehungen zwischen der DDR und der VR Polen, was jedoch auch dem wissenschaftlichen Forschungsstand entspricht.

Bei einem Neudruck sollten kleinere Fehler behoben werden: So muß es S. 34 „Ostpreußen“ (nicht Westpreußen) heißen, weiterhin S. 228 „Reichsgau Wartheland“. Einige Fehler bei polnischen Personen- und Ortsnamen sollten ebenfalls korrigiert werden.

Diese Kritik an einzelnen Details darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß die vorliegende Dokumentation zur deutsch-polnischen Zeitgeschichte durchweg gelungen ist. An manchen Stellen ist selbst der Kenner verblüfft: So in der eindrucksvollen Gegenüberstellung nationalsozialistischer Pädagogik und polnischer Pädagogik im Widerstand (S. 158-160) oder in den Belegen für das Schüren antideutscher Einstellungen zur Systemstabilisierung durch polnische Kommunisten noch in den 1980er Jahren (S. 221/222). Insgesamt ist der facettenreichen Materialsammlung eine intensive Nutzung in Schule und Studium wie auch eine interessierte Aufnahme durch weniger mit deutsch-polnischen Fragen vertraute Historiker zu wünschen.

1 Ursula A.J. Becher, Włodzimierz Borodziej, Krzysztof Ruchniewicz (Hg.), Polska i Niemcy w XX wieku. Wskazówki i materiały do nauczania historii. Poznań 2001.

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