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Titel
Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977


Autor(en)
Koenen, Gerd
Erschienen
Anzahl Seiten
553 S.
Preis
€ 25,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Kraushaar, Hamburger Institut für Sozialforschung

Eine Historisierung der 68er-Bewegung, die inzwischen länger zurückliegt als für deren Akteure der Zweite Weltkrieg und die NS-Zeit, ist gewiß nicht einfach, jedoch längst überfällig. Wer nicht bereit ist, sich ihr zu stellen, läuft Gefahr, einer Mythologisierung wie einer Instrumentalisierung dieser mit positiven ebenso wie mit negativen Projektionen besetzten Protestbewegung Tür und Tor zu öffnen. Die Frage allerdings, wie die Revolte der 68er, die unbestreitbar in vielerlei Hinsicht auch gegen den Staat insgesamt gerichtet war, bewertet werden kann, ist ganz offensichtlich hochgradig politisiert.

Diese Politisierung tangiert zweifelsohne auch die in den letzten Jahren in Gang gekommene Aufgabe der Historisierung. Die Aufgeregtheit, mit der 2001 etwa die Debatte über die politische Vergangenheit von Bundesaußenminister Joschka Fischer geführt wurde, und der kaum zu bremsende Drang, mit der sie rasch zu einer Dekaden- und Generationenfrage entgrenzt worden ist, spricht jedenfalls gegen die Annahme, daß die Voraussetzungen für eine solche Historisierung besonders günstig seien. Dies spiegelt sich auch in den Wortmeldungen zweier hochrangiger Politiker wieder, die kaum entgegengesetzter hätten ausfallen können. Während der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der am Ende der vierziger Jahre sogar einmal Bundesvorsitzender des SDS war, die 68er-Bewegung als ausufernde “Massenpsychose” abqualifiziert hat, wußte sie Bundespräsident Johannes Rau, der Mitte der fünfziger Jahre, also zur Hochzeit der Adenauer-Ära, zu den führenden Oppositionellen zählte, als Anstoß für eine Gesellschaft zu würdigen, die sich offener und ehrlicher mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt habe.

Nun hat der Publizist Gerd Koenen, der, wenn er zwischen diesen beiden Voten wählen sollte, sich ganz gewiß für die Position des Ex-Kanzlers entscheiden würde, kaum daß die Fischer-Debatte abgeflaut war, einen Band vorgelegt, in dem der Anspruch erhoben wird, dieses mit einer Kette von Konflikten und Zusammenstößen versehene Kapitel der jüngeren Zeitgeschichte erstmals als “zusammenhängend beschriebene Generationsgeschichte” zu erzählen. Ein Bewußtsein davon, auf welch problematisches Terrain er sich damit wohl begeben würde, schlägt sich bereits in den ersten Sätzen nieder, in Sätzen, die wie ein unfreiwilliges Damoklesschwert über dem gesamten Buch schweben: “Sich zum Historiker der eigenen Lebensgeschichte zu machen, wenn man selbst Akteur gewesen ist,” leitet Koenen seine Überlegungen ein, “ist ein zweifelhaftes, wenn nicht unmögliches Unternehmen.

Das vorliegende Buch ist denn auch keine wissenschaftliche Darstellung, sondern ein aus Texten, Berichten und Erinnerungen gemischtes Bild jenes eigentümlichen ‘roten Jahrzehnts’.” (9) Doch wer glaubt, daß aus der Einsicht in einen möglichen Rollenkonflikt zwischen dem Historiker auf der einen und dem Akteur bzw. Zeitzeugen auf der anderen Seite zugleich auch die Gewißheit resultieren müsse, diesen beherrschen zu können, der dürfte sich am Ende enttäuscht sehen.

Koenen, der laut Klappentext “das volle Programm des linksradikalen Aktivismus absolviert” hat, besitzt keinerlei Scheu, eine Gesamtschau jener Phänomene zu präsentieren, die nicht nur unter dem Rubrum “1968" zu fassen, sondern mehr noch den siebziger Jahren zuzuordnen sind. In einer geradezu obsessiven Deutungswut hat er die Heterogenität der Strömungen, Fraktionen und Organisationen eingekreist, um sie gliedern, ordnen und unter bestimmte Bedeutungsdächer bannen zu können. Keines der wesentlichen Kapitel aus dem Dschungel der Bewegungs- und Organisationsgeschichte hat er ausgespart - weder das der Undogmatisch-Antiautoritären noch das der Dogmatisch-Ideologieversessenen, weder das der K-Gruppen noch das der Spontis, weder das der Frauenbewegung noch das der RAF und der anderen bewaffneten Gruppierungen. Alle kommen sie vor und nehmen ihren Platz in diesem überdimensionierten Bild ein, das einem jugendbewegten Sittengemälde der damaligen Zeit nahe kommt. Dabei hat sich Koenen, der beispielsweise auch das Risiko eingeht, mit wenigen Strichen über das kaum erforschte und historisch nur unzureichend gesicherte Gelände der RAF-Gründung hinwegzugehen, jedoch möglicherweise verhoben.

Das Argumentationsschema, dem seine Darstellung folgt, ist im Grunde ganz simpel: Der 68er-Bewegung und den ihr in den siebziger Jahren folgenden Bewegungen und Organisationen wird in den unterschiedlichsten Varianten Irrealität vorgeworfen. So abwechslungsreich die Beschreibungsmuster auch sein mögen, es ist immer wieder dieselbe Matrize, die den Beurteilungen zugrunde gelegt wird. Ob von Autismus und Voluntarismus, von Schwindel und Wahn, von Suggestion und Mystifikation, von Virtualität und Phantasmagorie, von Simulation und Halluzination, von einem Medien- oder Phantasieprodukt, von einem Spukschloß oder einem Münchhausen-Projekt die Rede ist, es läuft alles auf dieses eine grundsätzliche Verdikt hinaus - die radikale Linke sei seinerzeit einem so gut wie vollständigen Realitätsverlust erlegen. Die Gefahr, daß der Autor damit jedoch vielleicht Opfer seiner eigenen Reaktionsbildung geworden sein könnte, sieht er nicht. Es spricht vieles dafür, daß es die Selbststilisierung zum Renegaten ist, die Koenen eine differenziertere Sichtweise auf die jüngere Zeitgeschichte verwehrt.

Obwohl er die Inanspruchnahme dieser insbesondere von Arthur Koestler verkörperten Rolle explizit ablehnt (28), läßt sich seine Grundposition mit einer Haltung identifizieren, die dieser faktisch zumindest nahe kommt. Denn Koenen ist jemand, der seine früheren politischen Positionen einerseits zwar um 180 Grad gedreht hat, sich andererseits aber in mancher Hinsicht gleich geblieben ist. Ganz offensichtlich ist ihm die gesamte undogmatisch-antiautoritär-spontaneistische Linie heute ebenso fremd wie damals. Diese Strömung, die nicht zuletzt auf die ästhetische Avantgarde der Situationisten zurückzuführen ist, aus der die “Subversive Aktion” mit Dieter Kunzelmann und Rudi Dutschke hervorgegangen ist, wird entweder ignoriert oder aber kaum anders als aus der Perspektive der damaligen Boulevardpresse betrachtet.

Die Mitglieder der “Kommune I”, die seinerzeit das wohl wichtigste Experiment eines radikal veränderten Soziallebens durchgeführt haben, werden als ebenso randalesüchtige wie triebgesteuerte “Idioten der Familie” diffamiert. Die Beschreibung des “Kommunistischen Bundes Westdeutschlands” (KBW), zu dessen Führungscrew Koenen jahrelang gezählt hat, fällt dagegen immer noch wie eine verspätete Würdigung aus. Im entsprechenden Abschnitt heißt es, der KBW sei den Bewegungen gegenüber gerade nicht “als selbstproklamierte ‘Partei des Proletariats’” aufgetreten, sondern habe “eine vernünftige Mitte zwischen dem Aufbau einer festen, gutgeschulten Kaderorganisation und einem breiten Spektrum verschiedener ‘Massenaktivitäten’” gehalten. (428)

Auf alles politisch Libertäre reagiert Koenen - als habe er sich von seinen autoritären Dispositionen immer noch nicht ablösen können - mit einem kategorischen Unverständnis. Dadurch erzielt er allerdings auch einen ganz bestimmten Effekt: Je negativer er im nachhinein alle mit dem KBW konkurrierenden Strömungen und Organisationen beschreibt, desto stärker relativiert sich zugleich auch der nicht mehr abzuleugnende politische Unsinn, den die maoistischen Gruppierungen seinerzeit propagiert haben.

Daß Koenen zwingende Gründe gehabt haben dürfte, seine eigene politische Vergangenheit, die durch die Entscheidung für einen der finstersten Fälle totalitärer Herrschaft, den Maoismus, bestimmt gewesen ist, im nachhinein als negativ zu bewerten und als Irrweg zu bezeichnen, ist einleuchtend, nicht jedoch der Umstand, dieses Ergebnis umstandslos zu verallgemeinern und dem Publikum dergestalt als Gesamtresultat anzupreisen, als habe es niemals eine Alternative dazu gegeben. Die Pauschalität, die sich in den negativen Einzelurteilen ebenso wie in der Gesamtbewertung durchhält und die lediglich durch eine einschränkende, im letzten Kapitel nachgeschobene Teilwürdigung abgemildert wird (470), verleiht dem Band insgesamt einen ideologischen Anstrich.

Eine andere nicht unbedeutende Frage, die durch den von Koenen gewählten zeitlichen Rahmen aufgeworfen wird, ist die nach einer angemessenen historischen Interpunktion. Die Entscheidung, um das Jahrzehnt 1967 bis 1977 eine Klammer zu ziehen und nun vom “Roten Jahrzehnt” zu sprechen, bietet wahrscheinlich mehr Nach- als Vorteile. Denn dieser von Arthur Koestler übernommene Topos (1) könnte eine problematische Verengung der Forschungsperspektive zur Folge haben. Im Zentrum stünde dann die Bedeutung des Linksradikalismus für die Geschichte der Bundesrepublik, die internationalen Zusammenhänge jedoch, die vielleicht das wichtigste Signum des 68er-Phänomens ausmachen, spielten darin eine bloß untergeordnete Rolle.

Der von Ralf Dahrendorf im Zusammenhang mit der Fischer-Debatte unternommene Versuch, möglichst scharf zwischen der 68er-Bewegung auf der einen und den Strömungen der siebziger Jahre auf der anderen Seite zu unterscheiden (2), ist in seiner Absicht allerdings leicht zu durchschauen und in dieser Rigorosität historisch nur schwer aufrechtzuerhalten. Weder die RAF noch die K-Gruppen, weder die Frauen- noch die Ökologiebewegung sind ohne die Vorgeschichte der 68er-Bewegung zu begreifen. Bei den Organisationen ebenso wie den Bewegungsformen handelt es sich um Zerfalls- bzw. Entmischungsprodukte der außerparlamentarischen Opposition.

Zwar wäre es verfehlt, eine zu enge Kontinuität in programmatischer Hinsicht unterstellen zu wollen, jedoch ist sie in personeller Hinsicht so stark, daß eher Vorsicht geboten ist, sich dadurch nicht zu falschen Schlußfolgerungen verleiten zu lassen. Im Gegensatz zu Dahrendorf, dem es offenbar darauf ankommt, eine Interpretation der 68er-Bewegung von Dogmatismus und Terrorismus freizuhalten, um sie letztlich dem positiven Erbe der bundesdeutschen Demokratie zurechnen zu können, wäre auf dem zwar komplexen, aber nicht zu leugnenden Gesamtzusammenhang zu insistieren.

Im Gegensatz zu Koenens Darstellung spricht vieles dafür, daß die 68er-Bewegung, die in ihrem Kern ganz unzweifelhaft eine Jugendrebellion war, in der Bundesrepublik eine Parallelerscheinung zur Großen Koalition gewesen ist. Sie entstand erst nach deren Bildung um die Jahreswende 1966/67 in West-Berlin, sprang im Juni 1967 auf Westdeutschland über, breitete sich von einer Universität zur anderen aus und nahm im Frühjahr 1968, vor allem im Zuge der Anti-Notstandsbewegung, flächendeckende Züge an, bevor sie im Herbst 1969 nach der Bildung der sozialliberalen Koalition in sich zusammenfiel. Als Zeitraum sollten deshalb, von einer Darstellung der Inkubations- und Folgezeit einmal abgesehen, lediglich die Jahre 1967 bis 1969 in Betracht gezogen werden.

(1) Koestler, Arthur, Das rote Jahrzehnt, Wien/Zürich 1991.
(2) Dahrendorf, Ralf, Argumente von ‘68 können Militanz nicht verteidigen, in: Die Welt vom 18. Januar 2001.

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