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Titel
Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute


Autor(en)
Hirschfelder, Gunther
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Campus Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 25,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Thoms, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Zunächst oft belächelt, hat sich das Gebiet der „Ernährungsgeschichte“ seit den 1970er Jahren zu einem Gebiet entwickelt, das bisher zwar nicht den Anspruch erheben kann, eine eigenständige Disziplin zu sein, doch auf dem Wege zur Institutionalisierung ist. Nach dreißig Jahren intensiver Arbeit ist nunmehr offenbar ein Punkt erreicht, an dem es nicht nur möglich, sondern offenbar auch nötig scheint, eine vorläufige Gesamtbilanz zu ziehen. Dafür sprechen zumindest die in den letzten Jahren erschienenen, zum Teil monumentalen Überblicke über die Geschichte der Ernährung in Europa (2). Hier reiht sich auch die zu besprechende Arbeit des Bonner Volkskundlers Gunther Hirschfelder ein, die sich laut Untertitel zum Ziel gesetzt hat, auf rund 250 Seiten eine „Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute“ zu liefern.

Dabei geht Hirschfelder im wesentlichen chronologisch vor: Vorgeschaltet ist ein einleitendes Kapitel, das vor allem den Charakter der Ernährung als vom Menschen jeweils zu erlernendes kulturelles System unterstreicht und zudem ihren Charakter als soziales Totalphänomen betont, an dem sich vielfältige Aspekte des gesellschaftlichen Miteinanders untersuchen lassen. Da sich kulturelle Prozesse nur aus einer historischen Perspektive erschließen, wird daraus auch die Notwendigkeit abgeleitet, sich mit der Geschichte dieses hochkomplexen Systems zu befassen. Als geradezu prädestiniert dazu bezeichnet Hirschfelder seine eigene Disziplin, die Volkskunde, als wichtig aber auch die Wirtschafts- die Agrar- und Kulturgeschichte (S.13f).

Die Länge des Zeitraums wird mit dem weiten Zurückreichen von Traditionen begründet, die angekündigte Beschäftigung mit ganz Europa aus Problemen mit der bekannten Komplexität und Vielfalt der deutschen Küche, die sich Uniformierungsprozessen bis heute widersetzt. Zudem trügen Region, ja selbst Nation heute vielfach weniger zur Identifikation bei als (soziale) Gruppen, weswegen Hirschfelder eine Beschäftigung mit ganz Europa anstatt mit einzelnen Regionen angemessener erscheint (S. 15). Mit der zentralen Bedeutung der Gruppe rechtfertigt er die Konzentration auf die Mahlzeit, in der sich die soziale Realität des Essens und Trinkens realisiert (S. 19).

An diese einführenden Erläuterungen schließen sich 19 jeweils rund 20 Seiten lange Kapitel an, die sich mit der Ernährung in den einzelnen Epochen beschäftigen und gewöhnlich nach einigen Bemerkungen zu grundlegenden historischen Entwicklungen Ausführungen zu Landwirtschaft, Verarbeitung und Zubereitungsmethoden folgen lassen. Ausgehend von der Entfremdung des modernen Menschen von den Grundlagen seiner Ernährung beschäftigt sich Hirschfelder mit der Ur- und Frühgeschichte, den frühen Hochkulturen, der griechischen Antike und dem Imperium Romanum, wobei z.T. faszinierende Ergebnisse der modernen Archäologie vorgetragen werden. Dennoch kann die Darstellung aufgrund der vielerorts defizitären Quellenlage insbesondere hinsichtlich der Gestaltung der Mahlzeiten oft nur spekulieren und muß sich auf die Darstellung der üblichen Grundnahrungsmittel und vielleicht noch einzelner Zubereitungsarten beschränken. Hier erweist sich die Konzentration auf die Mahlzeit als problematisch und dem Autor bleibt oft nichts anderes, als redundant das Fehlen gesicherter Erkenntnisse zu konstatieren. Für die griechische und römische Zeit können dann allerdings auch illustrative Schilderungen zwar nicht der einzelnen Speisen, wohl aber der Verzehrssituationen als solcher herangezogen werden. Da die Quellen mit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit deutlich stärker fließen, verdichtet sich in den entsprechenden Kapiteln auch die Darstellung, verstärkt werden nun auch bildliche Darstellungen eingebunden. Eindrucksvoll deutlich wird auf diesen ersten 170 Seiten die enorme Abhängigkeit der Menschen von einem durch Anbaumöglichkeiten, Klima, Saison und Witterung beschränkten und höchst schwankenden Nahrungsmittelangebot.

Mit dem Übergang zur Neuzeit, so Hirschfelder, erfüllte sich nach der Französischen Revolution dann aber endlich der Traum der Menschen, satt zu werden (S. 169). Verantwortlich werden dafür v.a. die Industrialisierung mit der daraus folgenden langfristigen Verbesserung des Lebensstandards sowie die Intensivierung und Rationalisierung der Landwirtschaft gemacht. Den daraus folgenden rasanten Veränderungen bei Anbau, Verarbeitung und Vertrieb wie Essgewohnheiten sind das neunte und zehnte Kapitel gewidmet, während sich die letzten beiden Kapitel mit der Ernährung von 1914 bis 1945 bzw. zwischen 1945 und der Gegenwart auseinandersetzen. Hier, in Bereichen, in denen man sich auf inzwischen gut erforschtem Boden bewegt, in denen zudem die entscheidenden Veränderungen des vorindustriellen Nahrungssystems stattfanden (Einführung der Kartoffel, des Kaffees), in denen sich eine Wissenschaft von der Ernährung entwickelte, kurz, in denen eine vorher nie gekannte Dynamik Platz griff, hätte man sich freilich mehr gewünscht als die schematisch vorgesehenen 20 Seiten.

Hirschfelder wird nicht müde, die kulturellen Beharrungskräfte und die Langsamkeit und Schwerfälligkeit von Veränderungen im Ernährungssystem zu betonen. Dies steht im Widerspruch zur auch von ihm gesehenen Dynamik, die sich schließlich auch positiv als ungeheure Anpassungsfähigkeit des Ernährungssystems an die Veränderungen der Lebenswelt lesen läßt. Tatsächlich zeigt gerade die Entwicklung der letzten fünfzig Jahre ein Auseinanderbrechen der traditionellen Systeme, das sich kaum noch in herkömmlichen Kategorien fassen läßt. An dieser Stelle erweist sich der volkskundliche Blick auf zweifellos gerade beim Essen langlebige Traditionen als hinderlich. Tatsächlich kann der Ernährung als sozialem Totalphänomen nur ein interdisziplinärer Zugriff gerecht werden.

Hinzu kommt ein zweites: Wenn tatsächlich langlebige kulturelle Muster die Ernährung bestimmen, warum sollte sich eine Geschichte der Ernährung dann an den „klassischen“ Epochengrenzen orientieren? Warum sind politische Ereignisse wie die Französische Revolution, der Erste Weltkrieg und die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Tschecheslowakei dann überhaupt von Bedeutung? Kann man sich für eine Geschichte der Ernährung überhaupt an den gängigen historischen Zäsuren und Epochengrenzen orientieren oder muß man nicht vielmehr eigenständige, vom Politischen mitunter unabhängige Verläufe annehmen?

Unter dem Stichwort der Grenzen mag man auch die Frage stellen, ob es im Hinblick auf die neueren ernährungshistorischen Forschungen, die eindrucksvoll die Konstanz regionaler Kostmuster und ihre Dominanz sogar über soziale Differenzierungen belegen 3 überhaupt umsetzbar ist, ganz Europa in den Blick zu nehmen, ein Europa zudem, dessen Grenzen über den Ural hinaus verschwimmen (S. 16). Ein solches Verfahren birgt allein unter dem Gesichtspunkt der Quellenkenntnis und -verfügbarkeit Probleme, zudem bei so beschränktem Raum. Es hat zur Folge, daß Belege und Zitate dann - allen Beratern zum Trotz - letztlich eklektisch, wenn nicht sogar willkürlich sind. So, wie Montanaris Arbeit eine Geschichte der europäischen Ernährung sein will, aber hauptsächlich auf der Basis der südeuropäischen Entwicklung argumentiert, ist Hirschfelders Arbeit eher eine Geschichte der Ernährung in Deutschland. Allerdings helfen die gelegentlichen Seitenblicke auf die Situation im europäischen Ausland erheblich bei der Einordnung der deutschen Entwicklung.

Jene, die sich länger und intensiver mit der historischen Ernährungsforschung auseinandergesetzt haben, mögen einen umfassenderen Überblick über die Entwicklung und Forschungsstand der ernährungshistorischen Forschungen vermissen. Ihnen dürfte wohl auch ein systematischer Zugriff und eine Beschränkung auf ausgewählte Elemente des kulturellen Systems der Ernährung angemessener und sinnvoller erscheinen. Hier und da hätte eine Überprüfung der logischen Stringenz und der sprachlichen Form gut getan (s. nur S. 151/152). Hirschfelder selbst ist sich bewußt: „Wer einen umfassenden Überblick liefern will und sich mit so vielen unterschiedlichen Epochen und Räumen beschäftigt, der tritt leicht ins Fettnäpfchen (S. 7)“, und, so läßt sich hinzufügen, der ist leicht zu kritisieren. Tatsächlich ist daran zu erinnern, daß Hirschfelders eigentliches Arbeitsfeld bisher die historische Alkoholforschung war und der „Mut, eine lose Materialsammlung zu einer Monographie zu verdichten“ auf das Drängen Dritter zurückgeht (S. 7). Angesichts der häufig beklagten Tendenz zu immer mehr Spezialistentum mit all seinen Auswüchsen ist der Mut zu einer Gesamtdarstellung anerkennenswert, zumal wenn diese sich ganz offenbar nicht allein an den eingefleischten Ernährungshistoriker, sondern an ein breiteres Publikum wendet. Dem ersteren öffnen sich in jedem Fall Blicke über den Tellerrand seines engeren Forschungsgebietes, für den Nichtfachmann aber dürfte die Lektüre in jedem Fall anregend sein, zumal das Buch äußerst ansprechend und originell bebildert ist.

Anmerkungen:
[1] So die auf sieben erfolgreiche Tagungen zurückblickende „International Commission for Research into European Food History“ sowie der „Internationale Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens“ mit einem regelmäßig erscheinenden Mitteilungsblatt.
[2] Hier sollen nur genannt werden: Flandrin, Jean-Louis, Montanari, Massimo (Hg.): L’Histoire de l’alimentation, Paris 1996, engl: Food. A culinary History from Antiquity to the Present, New York 1999; Montanari, Massimo: La Fame e l’abbondanza, Rom 1993, dt.: Der Hunger und der Überfluß, München 1993; Kiple, Kenneth F. and Kriemhild Conee Ornelas (ed.): Cambridge World History of Food, Cambridge University Press 2000.
3 So Spiekermann, Uwe: Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg, Gerhard Neumann und Alois Wierlacher (Hg.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997, S. 247-282.

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