M. Greve: Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren

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Titel
Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren.


Autor(en)
Greve, Michael
Reihe
Europäische Hochschulschriften. Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 911
Erschienen
Frankfurt/M. u.a. 2001: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
DM 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mouralis, Guillaume

Die als Doktorarbeit vorgelegte Studie von Michael Greve behandelt einen relativ neuen Gegenstand der zeitgeschichtlichen bzw. politikwissenschaftlichen Forschung, nämlich die Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die bundesrepublikanische Strafjustiz. Die Anzahl von Dissertationen zu diesem Thema nimmt seit kurzem zu 1. Im Anschluss an zahlreiche Arbeiten, die sich mit diesem Thema im Rahmen einer allgemeineren Fragestellung (Vergangenheitsbewältigung oder -politik) auseinander gesetzt haben, hat M. Greve den «justitiellen und rechtspolitischen Umgang mit den NS-Verbrechen in den sechziger Jahren» gründlich untersucht. Im Sinne von Norbert Freis «Umkehrung der Perspektive»2 versucht er, die strafrechtliche Leistung bei der Vergangenheitsbewältigung zu historisieren. Dabei ist es ihm gelungen, seine Argumentation auf drei eng miteinander verbundenen Ebenen zu führen : Berücksichtigt werden sowohl die strafrechtliche Praxis (insbesondere die Rechtsprechung), die sozial-historischen Merkmale des Juristenstandes als auch die vor allem vom Bundestag ausgeübte Rechtspolitik.

Das Buch ist in fünf Kapiteln gegliedert, die dem geschichtlichen Zeitablauf grob entsprechen. Das erste Kapitel befasst sich mit dem « Beginn systematischer Strafverfolgung », wobei der Verfasser die Gründung der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958 und die Reaktionen darauf im justitiellen bzw. politischen Kontext zu beleuchten versucht. Der Druck aus dem Ausland soll bei der Entscheidung der Justizministerkonferenz von Bad Harzburg (Oktober 1958) eine wichtige Rolle gespielt (51) und die ostdeutsche „Braunbuch-Kampagne“ den Anstoß für diese Entscheidung gegeben zu haben. Der rechtspolitischen Absicht, eine systematische Strafverfolgung in Gang zu bringen, standen jedoch zahlreiche Hindernisse im Wege: Neben der auf den außerhalb der damaligen BRD begangenen Verbrechen beschränkten Zuständigkeit der Zentralen Stelle trugen die mangelnde Bereitschaft der Strafverfolgungsbehörden, die allgemeine Einstellungspraxis und nicht zuletzt die Verjährung von Totschlag 1960 dazu bei, dass die Ergebnisse geringfügig blieben.

Das zweite Kapitel ist der gescheiterten Auseinandersetzung mit den NS-Justizverbrechen gewidmet. Dabei handelt es sich um ein zentrales Problem: Man konnte von den Staatsanwälten und Richtern kaum erwarten, daß sie die NS-Verbrechen ernsthaft verfolgen würden, wenn ein Teil der Zunft in das NS-Regime verwickelt war und die betreffenden Juristen zwischen 1933 und 1945 dem Justizapparat (und a fortiori den Sondergerichten) 1945 angehörten. Denn diese Angehörigkeit brachte häufig eine schweigende Zustimmung mit den Grundsätzen des NS-Regimes mit sich. Zudem wurden mit der Revision der von den Alliierten geführten Teilsäuberung der Justiz in den fünfziger Jahren die meisten Richter und Staatsanwälte wieder eingestellt. Abgesehen von einigen Ausnahmen wurden weder die Justizverbrechen - hauptsächlich die zahlreichen Todesstrafen – strafrechtlich bewältigt noch die « belasteten » Richter bzw. Staatsanwälten aus dem Dienst entfernt.

Nach dem BGH-Urteil 1956 im Fall Huppenthoken und Thorbeck (105) waren einerseits alle Versuche, die Justizverbrechen zu verfolgen, gescheitert, wie es das „Rehse-Urteil“ zehn Jahre später noch bestätigt hat. Andererseits fehlte der politische Wille, eine gründliche Säuberung des Standes durchzuführen. Darauf weist die Neufassung des deutschen Richtergesetzes 1961 hin. Als Antwort auf die ostdeutsche „Braunbuchkampagne“ gegen die „NS-Blutrichter“ entschied der Gesetzgeber nur, dass die belasteten Richter freiwillig in den Ruhestand gehen könnten, wobei die Einschätzung der Belastung den Betroffenen oblag.

Im dritten Kapitel („Zur Strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Gewaltverbrechen“) untersucht der Autor die höchste Rechtsprechung in bezug auf NS-Verbrechen und die kritische Auseinandersetzung mit dieser Judikatur. Das Hauptmerkmal dieser Rechtsprechung war die Ausnutzung der mildernden Rechtskategorien. „Nach dem Ulmer Einsatzgruppenprozess und der Einleitung systematischer Ermittlungen zeichnete sich in der NS-Gewaltverbrechen-Judikatur die Tendenz ab, NS-Verbrecher immer häufiger als Gehilfen statt als Täter zu qualifizieren“ (145). Die Kritik an dieser Judikatur wurde nach dem „Staschinskij-Urteil“ (19. Oktober 1962) deutlich als der BGH die Qualifizierung eines eigenhändigen Mörders als Täter in einer totalitären Gesellschaft - in dem Fall ging es um die Sowjetunion - zum Ausnahmefall machte (172). Trotz der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung – auch in Juristenkreisen - haben weitgehend die Schwurgerichte NS-Verbrecher als Gehilfen verurteilt, was die Zumessung von milderen Strafen erlaubte.

Der Autor verdeutlicht im vierten Kapitel („Schlussstrich oder Weiterverfolgung? Der rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen“), dass 1964/1965 eine wichtige Wende eingetreten zu sein scheint. Der Druck aus dem Ausland, wie auch die bevorstehende Verjährung von Mord, führten nach 1962 zu einer gewissen Intensivierung der Strafverfolgung. Zwei rechtspolitische Entscheidungen gaben einen entscheidenden Anstoß zur Fortsetzung der Strafverfolgung von NS-Verbrechen: Nach der zweiten Verjährungsdebatte stimmte der Bundestag einem Gesetz (23.3.1965) zu, demzufolge die Verjährung von Mord auf den 8.5.1969 verschoben wurde (formell handelt es sich nicht um eine Verlängerung der zwanzigjährigen Frist, sondern um eine Verschiebung des Anfangstermins vom 8.5.1945 auf den 8.5.1949). Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg, deren Zuständigkeit auf die im Inland verübten NS-Verbrechen in Dezember 1964 erweitert wurde (300), ist nach dem 2. Verjährungsgesetz gründlich reorganisiert worden: Sie wurde mit mehr Angestellten (bis zu 50 Staatsanwälten) und höheren finanziellen Mitteln ausgestattet. Ihre Bedeutung als Informationsstelle stieg auch dadurch, dass die Beschaffung von Beweismaterial (vor allem in den Ostblockländern) zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben wurde (345-346).

Trotz der allgemeinen Tendenz, die Verfolgung von NS-Verbrechen zu intensivieren, blieb in der ersten Hälfte der sechziger Jahren sowohl in der justitiellen Praxis als auch auf der politischen Ebene umgekehrt die Neigung bestehen, diese Verbrechen zu exkulpieren und sogar zu amnestieren. Wie im 5. Kapitel aufgeführt, hatte das in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts einige Erfolge. Zwar wurde 1969 ein zweites Mal die Verjährung von NS-Verbrechen vom Bundestag (dieses Mal um 10 Jahre) verschoben, aber kurz davor fand eine „Amnestie durch die Hintertür“ (358) statt: Durch die Neufassung des § 50 Abs. 2 des Strafgesetzbuches (1. Oktober 1968) profitierten alle Gehilfen zum Mord, „die ohne Täterwillen handelten und deren Taten weder grausam und heimtückisch waren“ (360), von einer Veränderung der Verjährungsfristen. Da sie in diesem Fall höchstens zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt werden konnten, sollten nun ihre Verbrechen seit dem 8. Mai 1960 verjährt sein. Die Folgen dieser „versteckten Amnestie“ waren erheblich. Sie führte vor allem zugunsten vieler Schreibtischtäter zu zahlreichen Verfahrenseinstellungen. Bei der Staatsanwaltschaft Berlin wurde beispielsweise die Aufklärungsarbeit der Tätigkeit des RSHA und seines Umfeldes fast aufgegeben (388).

Diese gründliche Arbeit, die sich auf eine breite Dokumentation stützt, füllt eine Lücke der zeitgeschichtlichen Forschung . Man hätte dennoch eine kohärentere Argumentation, d. h. ein deutliches Herausstellen der Verbindungen zwischen den verschiedenen Ebenen (Praxis, Sozialgeschichte des Standes und Rechtspolitik) und vielleicht die Berücksichtigung einer weiteren Ebene erwarten können. So kann man sich fragen, wie sich die „Rechtspolitik“ in den breiteren Rahmen der Vergangenheitspolitik (im Sinne von N. Frei) einbezieht. Bei der allgemeinen Gliederung hätten die wichtigsten Wendepunkte (1958, 1965, 1969) klarer betont und beleuchtet werden können.

Hinzu kommen einige Unklarheiten, was zum Beispiel die Statistik betrifft: Es fehlt eine zusammenfassende Zahlentabelle (Anzahl der Vorermittlungen der Zentralen Stelle, der Anklageerhebungen, der tatsächlichen Verurteilungen und der Verfahrenseinstellungen). Durch die Aufschlüsselung aller Daten nach Verbrechenskomplexen und Zeiträumen hätten die besonderen Merkmalen der untersuchten sechziger Jahren hervorgehoben werden können).

Manchmal ist der Kontext einiger politischen und vor allem justitiellen Entscheidungen unzureichend erläutert. Warum z. B. hat der BGH nach einer zögernden Rechtsprechung das für die künftige Exkulpation der Justizverbrechen entscheidende „Huppenthoken-Urteil“ gerade 1956 gefällt?

Auch hätte eine vergleichende Fragestellung die Auseinandersetzung mit einigen, aus der Sicht des Rezensent entscheidenden Fragen ermöglicht: Warum hat sich die Bundesrepublik auf Dauer geweigert, den internationalen, zum ersten Mal im Londoner Abkommen 1945 definierten, Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit in ihr Strafgesetzbuch einzubeziehen. Dieser hätte dank seiner zwei Hauptmerkmale (Rückwirkende Anwendung und Unverjährbarkeit) viele Probleme gelöst. Man hätte sich die Verjährungsdebatten und die dubiöse Deutung der „damaligen Verhältnisse“ zum Vorteil der Angeklagten erspart. Die Instrumentalisierung des „Rechtsstaates“ als Milderungs- und sogar Exkulpierungswerkzeug zum Vorteil zahlreicher Massenmörder ist einer der erstaunlichsten Aspekte dieser Geschichte. Demzufolge fehlen dem Buch von M. Greve Rückblicke in die Frühgeschichte einiger lähmender „rechtsstaatlicher“ Bestimmungen wie z. B. die Verjährungsregeln (und die damit verbundene Entscheidung einer Verjährungsruhe bis 1945). Es wäre auch interessant gewesen (war aber vielleicht im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich), Vergleichspunkte vorzulegen: Ist z. B. die Säuberung weiterer Beamtengruppen (Polizisten, Lehrer, usw.) genauso misslungen wie die der Juristen? Kann man das Fehlen an Bereitschaft und die skandalösen Entscheidungen der bundesrepublikanischen Justiz nur als ein „deutsches“ Problem verstehen? Die Säuberung der Richter und Staatsanwälte in einigen vom NS-Reich besetzten Ländern ist lange Zeit gleichfalls bescheiden gewesen, obwohl sie wahrscheinlich auf Dauer strenger war 3. Wenn man andere Länder betrachtet, stellt man fest, daß die fünfziger Jahre ebenso ein Jahrzehnt des Vergessens bzw. der Amnestien waren 4. Eine Intensivierung der Strafverfolgung in den sechziger Jahren fand nach Kenntnis des Rezensenten vor allem in der BRD statt. Wenn überhaupt, wurden Nachkriegsverfahren in einst okkupierten Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden viel später wiedereröffnet.

1 Ein Überblick der laufenden Dissertationen und Projekten bietet Michael Greve auf seiner Webseite (http://www.michael-greve.de/main.htm) an.
2 Frei, N.: Die Rückkehr des Rechts. Justiz und Zeitgeschichte nach dem Holocaust – eine Zwischenbilanz, in: Bauerkämper u. a. (Hrsg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990, Bonn 1998, S. 419.
3 Im französischen Fall siehe z. B. : Rousso, H.: L’Epuration. Die politische Säuberung in Frankreich, in : Henke, K.-D. und Woller, H. (Hrgs.) : Politische Säuberung in Europa, DTV, München 1991, S. 192-240 ; Kaplan, A.: Intelligence avec l’ennemi. Le procès Brasillach, Gallimard, Paris 2001.
4 Rousso, H., op. cit.

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