F. Weil: Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit

Cover
Titel
Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit. Zwei sächsische Betriebe in der DDR während der Honecker-Ära


Autor(en)
Weil, Francesca
Erschienen
Köln 2000: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
248 S., broschiert
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Müller, Universität Konstanz

Auch über ein Jahrzehnt nach dem Ende der DDR zeichnet sich kein Ende des Booms wissenschaftlicher Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Facetten dieser Gesellschaft ab. Bezüglich ihrer Wirtschafts- und Sozialordnung hat gerade die zeithistorische Forschung den Auftrag, der schlichten Dichotomie von funktionierender westlicher Marktordnung versus dysfunktionaler östlicher Zentralplanwirtschaft einen stärker differenzierenden und historisierenden Blick entgegenzustellen. Dieser Forderung wird in jüngster Zeit v.a. über eine verstärkte Hinwendung zu mikrohistorischen Perspektiven Rechnung getragen 1. In diesem Kontext ist auch eine Studie der Leipziger Historikerin Francesca Weil zu zwei sächsischen Betrieben in der Ära Honecker zu verorten. Zurecht verweist Weil darauf, daß die Analyse menschlichen Handelns und Verhaltens im Betriebsalltag ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der DDR-Gesellschaft darstellt - insbesondere wenn man bedenkt, wie betriebszentriert der DDR-Alltag war. Mit der Definition von Betrieb als “sozialer Raum” sowie “konkretes Handlungssystem” schließt die Autorin an Modelle der neueren Unternehmensgeschichte (hier Thomas Welskopp) an: Betriebe werden hier immer von einer “Doppelwirklichkeit” von formellen und informellen Strukturen geprägt und als Arenen “einer eigenständigen endogenen Interessenpolitik” wahrgenommen (10).

Gegenstand der Arbeit sind zwei mittelgroße Betriebe der chemischen Industrie aus dem Leipziger Raum: der VEB Goldring Markkleeberg (kurz Goldring) und der VEB Leipziger Arzneimittelwerk (kurz LAW). Beide VEB wiesen strukturelle Ähnlichkeiten in ihrer Stellung innerhalb der Zentralplanwirtschaft auf. Beide waren typische Frauenbetriebe (mehr als 70% der Beschäftigten). Große Unterschiede gab es jedoch bezüglich des jeweiligen ökonomischen Erfolges: Während Goldring im Untersuchungszeitraum immer erfolgreich die Planvorgaben erfüllen konnte, hangelte sich das LAW ökonomisch von Krise zu Krise und mußte als ein Sorgenkind des DDR-Produktionssystems eingestuft werden. Auffällig und wichtig sind die gegensätzlichen Entwicklungen bei den Betriebsleitungen. Während Goldring von personellen Stetigkeit geprägt war - über 14 Jahre lang amtierte ein einziger Leiter -, zeichnete sich das LAW durch einen häufigen Wechsel aus: In 20 Jahren standen dem Werk sechs verschiedene Direktoren vor.

Die Autorin geht in ihrer vergleichenden Studie der Frage nach, “inwieweit sich Veränderungen im Sozialverhalten von Betriebsangehörigen in der DDR zwischen politischen, ökonomischen, sozialen, kollektivbezogenen sowie frauenspezifischen Postulaten und realsozialistischem Arbeitsalltag von Anfang der 70er Jahre bis 1989 vollzogen haben” (5). Methodisch baut Weil ihre Arbeit sowohl aus einer Analyse der Aktenbestände als auch aus Erkenntnissen schriftlicher und mündlicher Befragungen ehemaliger Betriebsangehöriger auf.

Die Studie umfaßt neben der Einleitung und der Zusammenfassung sieben analytische Kapitel: In den ersten fünf wird die Zeit der Ära Honecker bis zur Wende behandelt. Pro Kapitel wird der Einfluß jeweils einer der Faktoren Politik, Ökonomie, Soziales, Kollektiv und Geschlecht auf den Betriebsalltag diskutiert. In weiteren zwei Kapiteln wird der Betriebsentwicklung und den Veränderungen im Betriebsalltag während des Transformationsprozesses nach 1989 nachgegangen.

In den ersten Kapiteln fällt auf, daß in beiden Betrieben das Verhältnis von Politik, Ökonomie und Sozialem stark vom Faktor Ökonomie dominiert war. Ökonomischer Erfolg, wie im Fall Goldring, ging mit geringer politischer Einflußnahme von außen und relativ großer betrieblicher Handlungsautonomie einher. Ökonomischer Mißerfolg hingegen, wie beim Beispiel LAW, erhöhte den politischen Druck von Partei und Gewerkschaft. Unabhängig davon kann in beiden Betrieben der Aufbau und die Pflege illegaler, schattenwirtschaftlicher Beziehungsstrukturen zu anderen Betrieben beobachtet werden. Diese waren zur Flexibilisierung des starren Planes notwendig und trugen damit zum jeweils relativen ökonomischen Erfolg bei. Den allgemeinen Niedergang der 80er Jahre konnten diese Strategien vielleicht abbremsen, nicht aber das Problem ausbleibender Investitionen und Strukturveränderungen kompensieren (65).

Wichtiger Bestandteil des sozialistischen Wirtschaftens in den VEB war der Einsatz mikropolitischer, motivationsfördernder Maßnahmen wie sozialistischer Wettbewerb, Kollektivarbeit oder Brigadenbildung von Seiten der Partei und der Gewerkschaft. Mit ihrer Hilfe sollte die Produktivität gesteigert und die sozialistische Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden. Vor allem im LAW versuchten Partei- und Gewerkschaftsvertreter hierüber den Betriebsalltag zu beeinflussen und die Leistungsbereitschaft zu fördern. Im VEB Goldring fanden entsprechende Aktivitäten eher auf dem Papier statt; die Fäden der Betriebsführung liefen viel stärker in den Händen des Direktors zusammen. In beiden Fällen war der meßbare Erfolg der staatlichen Wirtschaftspolitik jedenfalls bescheiden. Im Alltag der Beschäftigten und hier v.a. ihrer Selbstwahrnehmung spielten z.B. die Kollektivstrukturen trotzdem eine wichtige Rolle. Sie entwickelten sich zu Alltags- und Interessengemeinschaften.

Ein wichtiger Teil der Untersuchung nimmt die Situation der Frauen in den Betrieben ein. Die offizielle Frauenpolitik der DDR folgte weitgehend demographischen und arbeitskraftpolitischen Notwendigkeiten, nicht unbedingt emanzipatorischen Idealen. Trotzdem wurde mit der hohen Frauenerwerbsquote auch die Unabhängigkeit und das Selbstbewußtsein vieler Frauen gestärkt (138, 152). Francesca Weil stellt aber auch die Grenzen dieser emanzipatorischen Tendenzen heraus: weibliche Berufswahl blieb auf traditionelle Frauenberufe beschränkt, Lohndiskriminierung war weiterhin nachweisbar und nur wenige Frauen stiegen in Leitungspositionen auf (125). So standen beide Frauenbetriebe weiterhin und ausnahmslos unter der Leitung von Männern. Weil weist darüberhinaus am schwierigen Umgang mit Teilzeitarbeit nach, wie Fraueninteressen im Zweifelsfall hinter den Produktionsinteressen der Betriebe zurückstehen mußten. Die Autorin widerspricht auch der These, daß Frauen zur eigenen Interessenausübung weniger informelle Beziehungen pflegten als Männer (148f.). Insgesamt dominierten aber pragmatische Überlegungen und Handlungsweisen den Frauenalltag, widerständiges Verhalten kann Weil nicht nachweisen.

In der Erinnerung der Beschäftigten spielen die schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen eine geringere Rolle, wichtiger scheinen subjektive Sinnmuster gewesen zu sein, wie etwa das Gefühl, etwas im Leben zu leisten (154). In diesem Zusammenhang benutzt Weil den Begriff “Betriebsklima” und verweist damit implizit auf die Sinndeutungsmeinschaft Betrieb: So habe im VEB Goldring die Herausbildung einer festen Stammbelegschaft ein “harmonisches Betriebsklima” begünstigt (156); und wegen den permanenten ökonomischen Schwierigkeiten und des häufigen Direktorenwechsels habe die LAW-Leitung wenig Möglichkeiten besessen, “direkt auf das Betriebsklima einzuwirken” (157). Weil hinterfragt oder systematisiert den Begriff aber an keiner Stelle und versäumt damit, z.B. im Anschluß an historische Arbeiten zu Wirtschafts- oder Unternehmenskultur 2, die kulturelle Dimension sozialer Beziehungen stärker herauszuarbeiten. So bleibt unklar in welcher Beziehung ökonomische Leistung, “Betriebsklima” und Leistung der Direktoren zueinander standen.

Interessant an dem Buch sind nicht zuletzt die Kapitel zur Wendezeit. Im Ergebnis dieser Umbruchszeit ist es so, daß der bisher ökonomisch erfolgreichere Betrieb VEB Goldring den Wandel der institutionellen Rahmenbedingungen nicht überlebte und Ende 1991 endgültig geschlossen werden mußte. Hingegen konnte das kriselnde LAW, “dessen ökonomische Ausgangssituation 1989/90 faktisch weitaus komplizierter war als die des Goldring, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen fortbestehen und seine Existenz sichern” (183). Auch wenn Investorenentscheidung hier eine große Rolle spielten, führt Weil auch eine in DDR-Zeiten ausgeprägten “Überlebensstrategie” beim LAW an, die das Zurechtfinden in der neuen Wirtschaftsordnung erleichtert habe.

Weil unterstreicht mit ihrer Studie die Beobachtung der “Arbeitszentriertheit” der DDR-Gesellschaft auch noch für die späten Jahre der Honecker-Ära. Viel stärker als in der Bundesrepublik blieb die Arbeit selbst für größere Gruppen “das zentrale Lebensfeld” (196). Dieses Lebensfeld funktionierte weniger als Produkt von Herrschaftsansprüchen, sondern eher als teilautonome Handlungs- und Wertegemeinschaft. Das trug sowohl zu gesellschaftlicher Stabilität als auch zur Erleichterung des Lebens in den Systemgrenzen bei. Den siechenden Verfall der ökonomischen Basis und damit verbundene Veränderungen im Alltag (z.B. der zunehmende Rückzug ins Private) verschweigt Weil aber ebenfalls nicht. Damit argumentiert sie gleichzeitig gegen die These, Harmonie und Kollegialität seien nur eine nostalgische Verklärung aus Sicht der Nachwendezeit. Vielmehr seien sie Bestandteile einer erfahrenen Arbeitswelt gewesen (197).

Insgesamt liefert Francesca Weil mit ihrem Buch eine informative, kompakte und gut lesbare Studie zum Betriebsalltag zweier VEB, die vor allem über ihre vergleichende Perspektive gewinnt. Generalisierbar sind Ergebnisse einer qualitativen Fallstudie naturgemäß kaum. Jedoch zeigt Weil, daß es sich lohnt, volkseigene Betriebe als eigenständige ökonomische und soziale Handlungssysteme ernstzunehmen. Die Frage danach, warum manche Betriebe unter den institutionellen Bedingungen der DDR erfolgreich wirtschaften konnten und warum dies anderen nicht gelang, scheint auch für ein Gesamtverständnis der Zentralplanwirtschaft von erheblicher Bedeutung zu sein. Die Autorin liefert hier keine Antworten, aber liefert immerhin einiges an neuem Material und präsentiert neue Sichtweisen.

Anmerkungen:
1 Zum aktuellen Stand der wirtschaftshistorischen DDR-Forschung vgl. folgende Sammelbände: Peter Hübner, Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter in der SBZ - DDR, Essen 1999; Renate Hürtgen, Thomas Reichel (Hg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, Berlin 2001.
2 Vgl. Anne Nieberding, Clemens Wischermann: Unternehmensgeschichte im institutionellen Paradigma, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 43 (1998), S.35-4

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension