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Titel
Mitteldeutschland. Begriff, Geschichte, Konstrukt


Herausgeber
John, Jürgen
Erschienen
Rudolstadt 2001: Hain Verlag
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
DM 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner

Wo liegt „Mitteldeutschland“? Die denkbare Antwort, es sei in „Ostdeutschland“ zu suchen, dürfte staunendes Unverständnis hervorrufen. Und doch ist sie so falsch nicht. Zur Lösung dieser irritierenden Dialektik trägt ein Blick in die Geschichtsbücher bei. Sie erhellen die Hintergründe dieser seltsamen Geographie: NS-Herrschaft, Zweiter Weltkrieg, Flucht und Vertreibung, Jalta und Potsdam, um nur Stichworte zu nennen. Hier liegen die Ursachen dafür, daß das historische Ostdeutschland heute in Polen liegt und, was den nördlichen Teil Ostpreußens angeht, dieser nunmehr zur Russischen Föderation gehört. Deutschlands Mitte ist also nicht nach Osten gerückt, sondern der Osten ging schlichtweg verloren.

Man könnte sich damit begnügen und festhalten, daß die alte Mitte mit Sachsen, Thüringen und Anhalt heute an den Rand gerückt ist und zusammen mit dem Nordteil der zwischen 1949 und 1990 bestehenden DDR, den jetzigen Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, umgangssprachlich als „Ostdeutschland“ bezeichnet wird. Das geographische Zentrum der Bundesrepublik ist hingegen irgendwo im Dreieck zwischen Eisenach, Göttingen und Kassel zu suchen. Indes zeigt die Landkarte auch in den neuen deutschen Grenzen Spuren des dramatischen Geschehens: Die merkwürdige Randlage der Bundeshauptstadt Berlin etwa oder auch die Reihe der geteilten Städte an Oder und Neiße geben Hinweise darauf.

Spuren zeigen sich auch darin, daß es in der DDR eine „Mitteldeutsche Zeitung“ und einen „Mitteldeutschen Verlag“ gab und daß sich die heutigen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eine gemeinsame Sendeanstalt leisten, den „Mitteldeutschen Rundfunk“. Eben dieser Sender bereitete 1999 ein Fernsehprojekt „Geschichte Mitteldeutschlands“ vor. Der zu dem Zweck berufene Wissenschaftliche Beirat nahm sich des „Mitteldeutschland“-Problems im Februar 1999 auf einer Tagung in Leipzig an.

Der vorliegende Band präsentiert die dort vorgetragenen Diskussionsbeiträge in einer bearbeiteten Fassung. Als Herausgeber legte Jürgen John, Inhaber des Lehrstuhls für Moderne Regionalgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Wert auf die Feststellung, daß es um eine „kritische- analytische“ Auseinandersetzung mit dem „Mythos Mitteldeutschland“ (S. 13) gehe. Er selbst sowie Karlheinz Blaschke (Dresden), Michael Dreyer (Jena), Oliver Lemuth (Jena), Gotthard Lerchner (Leipzig), Klaus Jürgen Matz (Mannheim), Lutz Niethammer (Jena), Willi Oberkrome (Freiburg), Klaus Erich Pollmann (Magdeburg), Dietmar von Recken (Bielefeld), Karsten Rudolph (Bochum), Werner Rutz (Bochum), Reinhard Schiffers (Bonn), Günther Schönfelder (Leipzig), Hannes Siegrist (Leipzig), Michael Simon (Mainz), Manfred Straube (Leipzig), Mathias Tullner (Magdeburg) und Justus H. Ulbricht (Weimar) kommen dem in ebenso anregender wie verschiedenartiger Weise nach.

Was spricht überhaupt dafür, die südlichen drei „neuen“ Bundesländer unter dem Begriff „Mitteldeutschland“ zu subsumieren? Hat man es mit einer historisch gewachsenen Region oder mit einer fiktiven Sinnordnung zu tun, fragt John (S. 17) und gibt damit gewissermaßen auch das Leitmotiv für die hier versammelten Beiträge vor. Auf sie im einzelnen einzugehen, ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich. Im ersten Teil des Bandes geht es um „Mitteldeutschland“-Bilder, um Regionalismus und regionale Identitätsstiftung. Der Herausgeber leitet ihn mit einer umfangreichen Studie zu „Gestalt und Wandel der ‚Mitteldeutschland’-Bilder“ ein, die zugleich einen umfassenden Überblick zum Diskussions- und Forschungsstand gewährt. Hier wird deutlich, wie und weshalb der Begriff „Mitteldeutschland“ nach 1918 eine Konjunktur erlebte.

Auch ist zu erfahren, daß in besonderem Maße wirtschaftliche Erwägungen und Interessen die entsprechenden Debatten anstießen. Offenbar befördern gerade Krisen- und Umbruchzeiten generell ein intensiveres Nachdenken über die Neuordnung regionaler Zusammenhänge und Gebietsreformen. Aus den folgenden Beiträgen sollten Lutz Niethammers problematisierenden Überlegungen zur „kollektiven Identität“ genannt sein, bei der er drei grundlegende Konstruktionstypen unterscheidet: (1.) Ideologien politischer Homogenisierung, (2.) Konstruktionen kultureller Differenz und (3.) Diagnosen mißlingender Massenzivilisation.
Auch Hannes Siegrists Überlegungen zur Diskontinuität des Regionalen, zur dynamischen Geschichte des „Regionen-Machens“ (S. 108) verdienten vertiefende Diskussion.

Die Beiträge des zweiten Teils kreisen um die Frage nach dem Realitätsgehalt oder auch nach dem Imaginären „mitteldeutscher Geschichtswege“. Das weite Themenfeld reicht von geographischen, sprachwissenschaftlichen und volkskundlichen Aspekten über Wirtschaft, Religion und Kultur bis hin zu Politik und Verwaltung. Die hierzu ausgebreiteten Argumente sprechen trotz mancher notwendigen Relativierung insgesamt aber für die mehr oder weniger ausgeprägte Relevanz des mitteldeutschen Regionalzusammenhangs. Sehr deutlich wird das in Manfred Straubes Hinweis auf die „reale historische Substanz“ (S. 205) des thüringisch-sächsischen Kernbereichs der Region. Gleichwohl könnten, so gibt er zu bedenken, die heutigen drei Bundesländer nur als „ein zu überwindendes Zufallsprodukt angesehen werden“ (ebd.), das durch eine neue Länderstruktur mit den Freistaaten Sachsen und Thüringen sowie dem ehemaligen preußischen Regierungsbezirk Merseburg im Süden Sachsen-Anhalts ersetzt werden sollte.

Karlheinz Blaschke sieht mit der Reformation, der Kultur des Barock, mit Aufklärung und Goethezeit wirkungsmächtige Faktoren am Werk, die den mitteldeutschen Raum „aus der allgemeinen deutschen Kulturlandschaft herausgehoben“ hätten (S. 228). Ein Essay Karsten Rudolphs zur demokratischen Bewegung in Sachsen, Thüringen und Anhalt zwischen 1848 und 1933, insbesondere zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, liefert u.a. mit Hilfe der historischen Wahlforschung weitere Argumente für regionale Besonderheiten sozialmoralischer Milieus.

Der dritte Teil des Bandes bietet vergleichende Einblicke in regionale Neugliederungspläne zur Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus wie auch nach 1945 und seit 1990. Im Rahmen des „Problems Mitteldeutschland“ zielt das Interesse der Autoren hier besonders auf Thüringen. Eingeleitet wird die Reihe dieser Beiträge durch eine komparative Studie, in der Klaus-Jürgen Matz den Umgang von so unterschiedlichen Bundesstaaten wie Indien und Belgien, USA und Komoren, Nigeria und Schweiz mit ihrer regionalen Binnengliederung untersucht. Einen Neugliederungsdiskurs wie in Deutschland gebe es, abgesehen vom Sonderfall Nigeria, ansatzweise nur in Brasilien. Ansonsten seien die Binnengrenzen „normalerweise äußerst stabil und dauerhaft“ (S. 294). Den Abschluß bildet eine Betrachtung von Werner Rutz zu den seit 1990 entwickelten Konzepten einer Ländergliederung des sächsisch-thüringischen Raumes. Daß die Diskussionen hierüber und letztlich auch die Entscheidungen unter beträchtlichem Zeitdruck standen, entsprach den Zeitumständen. Der Verf. lenkt den Blick auf denkbare und vielleicht auch besser begründete Alternativen.

Dem Thema angemessen, werden die meisten der Beiträge, von denen hier nur einige exemplarisch hervorgehoben wurden, durch Karten ergänzt. Insgesamt sind es mehr als 60. Sie vermitteln genauere geographische Vorstellungen von den verschiedenen Konzepten und Planungen. Allerdings erfordert die kleine Beschriftung scharfe Augen oder ein gute Brille. Der Anhang enthält Verzeichnisse der verwendeten Abkürzungen, der Karten und Autoren.

„Mitteldeutschland“ gehört seit den neunzehnhundertfünfziger Jahren zu den von der Forschung eher vernachlässigten Themenfeldern. Dem hier vorzustellenden Bd. kommt nicht zuletzt deshalb Bedeutung zu, weil er ältere Diskussionen aufnimmt, resümiert und mit jüngeren „Mitteldeutschland“- Konzeptionen in Beziehung setzt. Die Beiträge sind eigenständig, interdisziplinär und gehen das Thema aus sehr verschiedenen Perspektiven, teils auch kontrovers an. Damit bietet das Buch alle wesentlichen Voraussetzungen, um den Forschungsdiskurs zu beleben, „ohne interessengebundene Hintergedanken und affirmative Absichten“ (S. 14), wie der Herausgeber betont. Vielleicht läßt sich sein Hinweis auf eine noch ausstehende „umfassende“ monographische Darstellung als Versprechen an das interessierte Publikum deuten.

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