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Titel
Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Cornelißen, Christoph
Reihe
Schriften des Bundesarchivs 58
Erschienen
Düsseldorf 2001: Droste Verlag
Anzahl Seiten
757 S.
Preis
€ 50,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Etzemüller, assoziiert am Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Gerhard Ritter zählt zu den wichtigsten bundesdeutschen Historikern der Nachkriegszeit, doch bislang gab es keine Biographie, die sein gesamtes Werk und Leben darstellte. Diese Lücke hat Christoph Cornelißen nun mit seiner voluminösen und gut lesbaren Habilitationsschrift geschlossen. Cornelißen stellt in drei Teilen „Lehrjahre und akademische Kultur bis 1933“, „Historisch-politisches Denken und Handeln 1933-1945“ und „Revision und Traditionspflege seit 1945“ dar, in denen er Kontinuität und Wandel der Fragestellungen sowie der politischen Zielsetzungen von Ritters historiographischer Arbeit nachspürt, dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem seine Texte entstanden sind und auf den sie Bezug nahmen, der Resonanz seines Werks und schließlich den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, dem methodischen Postulat der „Objektivität“ gerecht werden zu können.

Zunächst beschreibt Cornelißen Elternhaus, Sozialisation, Studium und den Beginn der wissenschaftlichen Karriere Ritters, der erst nach dem Ersten Weltkrieg die Oberlehrer- mit der Professorenkarriere vertauschte. Dabei amalgamierten sich dann Herkunft, Kriegserfahrungen und der Impetus, die deutsche Bevölkerung politisch zu erziehen, zu dem, was in der Folge den „politischen“ Historiker Gerhard Ritter ausmachen sollte. Seine „grundsätzliche Bejahung des autoritär fundierten politischen Systems im Kaiserreich“ (S. 41) und das ständige Klagen über die „Vermassung“ der Gesellschaft bilden dabei zwei Konstanten seiner Weltsicht. Ständig war er als Wissenschaftler in politischer Mission unterwegs, sei es, daß er gegen „das Elend der Konfessionshistorie“ zu Felde zog, sei es in der Konkurrenz mit Franz Schnabel um die Deutung des Freiherrn von Stein als einem Ahnherrn der Weimarer Republik bzw. autoritärer Ordnungsvorstellungen, sei es nach dem Kriege in der Auseinandersetzung um das Institut für Zeitgeschichte in München. Ohne auch nur im entferntesten Nationalsozialist zu sein, wird man ihn doch zu den Totengräbern der Republik zählen müssen. So sprach er sich 1923 nur deshalb gegen den „Hitlerputsch“ aus, weil er kühl die Chancen auf einen Erfolg kalkulierte und negativ einschätzte. Ihm ging es nicht um die Verteidigung der Demokratie, „sondern [um] die Erhaltung des Machtsstaates bzw. die Rückgewinnung von dessen früherer Machtfülle“ (S. 151).

Diese spezifische Sichtweise auf die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen machte ihn zum „Opfer seiner eigenen ‚Wahrnehmungsfallen‘“ (S. 245) und führte ihn, ohne daß er kollaborierte, nahe an das „Dritte Reich“ heran. Cornelißen macht deutlich, daß Ritter nicht von Anfang an der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus war, als der er sich nach dem Kriege erfolgreich stilisierte. Ritters scharfe Kritik an Otto Scheels Vortrag über den „Volksgedanken bei Luther“ auf dem Zürcher Historikertag von 1938 bekam seine ungeplante politische Dimension erst durch die Diskussion nach der Tagung, sie „kann nicht als Äußerung einer demokratischen Grundhaltung verstanden werden“ (S. 259). Seine Luther- und Friedrich-Interpretationen blieben ambivalent, sie wurden durchaus als Kritik am „Dritten Reich“ begriffen, wirkten, durch den Kontext bedingt, jedoch gleichzeitig regimestabilisierend — und wurden auch so verstanden. Seine politische Theorie blieb bis an sein Lebensende widersprüchlich: Er setzte auf den Nationalstaat und eine handlungsfähige staatliche Autorität, die den Individuen sittliche Freiheit gewährleisten solle, schätzte jedoch die konkrete Sicherung individueller Freiheitsrechte relativ gering ein. Nirgends war von einem Widerstandsrecht die Rede. Ritters Ethik war, „pointiert ausgedrückt, die politische Ethik des Frontkämpfers aus dem Ersten Weltkrieg, nicht die des Widerständlers“ (S. 326). Auf diese Weise legte er „geradezu strukturell ‚Mißverständnisse‘“ in seinem Werk an (S. 271), die es kompatibel mit dem Nationalsozialismus und nach 1945 angreifbar machten, obwohl er auf seine — nicht zentrale — Teilnahme am Widerstand des 20. Juli verweisen konnte.

Nach dem Kriege stieg er in der westdeutschen Geschichtswissenschaft in eine der führenden Positionen auf. Er redete zwar einer gewissen Revision politischer und historischer Überzeugungen das Wort, doch „die gleiche politisch-historische Haltung, [die ihn] ab 1933 gegen die ‚Kollaboration‘ mit dem Nationalsozialismus weitgehend immunisiert hatte, [führte] ihn nach dem Zweiten Weltkrieg in eine befremdlich wirkende Ferne zu den politischen Neuansätzen der frühen Nachkriegsjahre“ (S. 291). Dasselbe gilt für wissenschaftliche Innovationen. Cornelißen stellt zwar immer wieder den „modernen“ Historiker Ritter vor, der seit den 1920er Jahren parteien-, struktur- und sozialgeschichtlich gedacht habe, doch ist das meist Programm geblieben. Nach wie vor beherrschten ihn die Sorge vor „‚der stumpfen Herde des Massenmenschentums‘“ (S. 408), die ihn im Rückgriff auf den Freiherrn von Stein und das „Dritte Reich“ weiterhin sozialkonservative, obrigkeitsstaatliche Ordnungsvorstellungen predigen und, trotz rhetorischer Zugeständnisse, sozialhistorische Ansätze wie die der französischen „Annales“ ablehnen ließen. Da Ritter als führender Funktionär des deutschen und internationalen Historikerverbandes wie in seinem historiographischen Werk in erster Linie ein konsequenter Vorkämpfer deutscher Nationalpolitik war, mußte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ausländischen Kollegen scheitern. Je stärker er im Zuge der „Fischer-Kontroverse“, der „Spiegel-Affäre“ oder Debatten wie der mit Ludwig Dehio oder Geoffrey Barraclough deshalb in die Kritik geriet, je mehr er sich als einsamer, nicht einmal mehr von seinen deutschen Kollegen unterstützter Verteidiger der deutschen Geschichte verstand, desto stärker versteifte er sich auf seine Weltsicht, bis er 1967, 79jährig, starb und sein Werk rasch in Vergessenheit geriet.

Leider darf man von dieser erfreulich differenziert argumentierenden, aber nichts beschönigenden Biographie keine „kulturgeschichtliche“ Analyse des Wissenschaftsbetriebes erhoffen, obwohl Cornelißen gerade im ersten Teil gewisse Erwartungen hierauf weckt. Denn tatsächlich hat er den Akzent auf eine konventionelle (ideengeschichtliche) Darstellung von Ritters Denken und dessen (wissenschafts-)politischen Handeln gelegt. Er korreliert vor allem die Ereignisgeschichte und das wissenschaftliche Werk. Das mag dem Umstand geschuldet sein, daß Cornelißen die erdrückende Masse des Ritter‘schen Nachlasses, seiner Schriften und zahlreicher weiterer Nachlässe und Aktenbestände durcharbeiten und überhaupt erstmals in die Form einer lesbaren Biographie bringen mußte. Das geleistet zu haben, ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst. Es mag auch an der — wie üblich nicht weiter begründeten — Ablehnung „der radikalen Vertreter postmoderner Geschichtsauffassungen“ liegen (wer und was immer das sein soll), die „durch die Verwischung der Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen über das Ziel hinausgeschossen sind“ (S. 5). Dadurch hat er wichtige Aspekte aus Ritters Wissenschaftlerleben nicht näher in den Blick genommen. Was bedeutet es z.B. für die Wissenschaftskultur und damit Ritters Wissenschaftsverständnis, daß er 1921 zu seinem öffentlichen Habilitationsvortrag in Heidelberg vor seinen Kollegen mit dem Eisernen Kreuz am Revers erscheinen und sich ausrechnen konnte, daß dieses Bekenntnis zur Nation positiv vermerkt und nicht als ideologische Voreingenommenheit gewertet würde (anders als etwa ein Bild des Papstes)? Es sei verfehlt, deshalb die Rede eines „Reaktionärs“ zu erwarten, schreibt Cornelißen zutreffend dazu, mehr aber nicht. Auch benutzt er die Begriffe privates, soziales und materielles Kapital, ohne aber Klientel- und Heiratsbeziehungen oder Lesekreise und Stammtische auf ihre Verbindung zur Wissenschaftsproduktion hin zu untersuchen. Die Analyse des „materiellen Kapitals“ erschöpft sich vorwiegend in einem Referat von Gehaltszetteln; Ritters Ehefrau findet nur an wenigen Stellen Erwähnung, bei ihrer Eheschließung, vom Lehrer Oncken angebahnt, da das Junggesellendasein die physische Arbeitskraft Ritters ruiniere, und als „stille Mitarbeiterin“, sprich als Schreibkraft. Gerade am Beispiel Ritters könnte man detailliert die konstitutive Bedeutung einer besonderen protestantischen bürgerlichen Kultur, Lebensweise und politischen Haltung für die Formierung historiographischer Erkenntnis untersuchen, und die damit zusammenhängende Frage, was von Historikern je nach eigener Lebenslage als „objektive Wissenschaft“ verstanden wird und was nicht 1. Cornelißen beläßt es bei Andeutungen, die sich zudem nur auf den ersten Teil beschränken. Da er für den Wert „kulturgeschichtlicher“ Mosaiksteine wenig Sinn erkennen läßt, kann er sein Vorhaben, „zu zeigen, wie das Ineinanderwirken spezifischer theoretischer Vorannahmen, politischer und gesellschaftlicher Einstellungen sowie allgemeiner kultureller Rahmenbedingungen und konkreter Erfahrungen einer Lebensgeschichte aus den ‚Geschäften‘ eine bestimmte Form von Geschichtswissenschaft in Deutschland hat entstehen lassen“ (S. 2), nicht vollständig einlösen. Das gelingt ihm nur auf der Ebene tiefgehender ideengeschichtlicher Analysen von Ritters Texten.

Zwei Dinge macht Cornelißens Studie klar: Erstens, daß es wichtig ist, sich mit Gerhard Ritter zu beschäftigen, obwohl sein Werk heute weitgehend vergessen ist, denn er prägte die deutsche Geschichtswissenschaft nun einmal maßgebend. Zweitens, daß es richtig ist, daß Ritters wissenschaftliches Werk vergessen ist, selbst wenn Cornelißen an einer Stelle den Hinweis gibt, daß „ein kritischer Rückbezug auf die Werke seiner [Ritters] Generation wieder ratsam“ erscheine, weil das helfen könne, die Fragen des Einsatzes militärischer Macht und ihrer Unabdingbarkeit für die Politik zu problematisieren (S. 648). Ansonsten wird gerade durch die äußerste Fairneß, die Cornelißen Ritter angedeihen läßt, immer wieder deutlich, wie erstaunlich ressentiment- und wertgeladen sich Ritter privat und in seinen wissenschaftlichen Publikationen äußerte, wie stark offenbar jede seiner Beobachtungen durch Vorurteile gesteuert war und wie zeitgebunden sein Werk nicht zuletzt dadurch ist. Das gezeigt und die Person Ritters mit Leben erfüllt zu haben, wird Cornelißens Buch noch lange als maßgebliche Biographie Ritters bestehen lassen. Und endlich einmal schließt neben dem Personen- auch ein Sachregister ein derartiges Werk!

Anmerkung:
1 Ich bin nämlich nicht, wie Cornelißen, der Meinung, daß man von einem klassischen Postulat der „Objektivität“ (die Anführungszeichen von C.) ausgehen kann. Vielmehr finden sich in seinem Buch Hinweise zuhauf, daß Objektivität kein gegebener Maßstab ist, an dem man Abweichungen der wissenschaftlichen Praxis messen kann, sondern je Lebenslage, Schichtzugehörigkeit und Zeit von Historikern jeweils anders konstruiert wird — im Rahmen der vagen Definition, daß Objektivität Ideologiefreiheit und Freiheit von willkürlich subjektiven Wertungen bedeutet. Deshalb konnten Historiker wie der durch und durch protestantisch und deutschnational geprägte Ritter „konfessionelle“ (faktisch: katholische) und ausländische Deutungen der deutschen Geschichte, denen aus „natürlichen Gründen“ einfach das „innere Verständnis“ für die „deutschen Fragen“ (des protestantisch geprägten kleindeutschen Reichs) fehlte, besten Gewissens für nichtobjektiv, d.h. ideologiegebunden erklären und die eigene Arbeit für „objektiv“ halten (ausführlicher: Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, München 2001, S. 296-309).

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