Titel
Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945).


Autor(en)
Werner, Uwe
Erschienen
München 1999: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XII+473 S.
Preis
DM 98,-
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Hering, Staatsarchiv Hamburg

Die Anthroposophie (Weisheit vom Menschen) ist ein von Rudolf Steiner (1861-1925) begründeter Schulungsweg zur Weckung des im Menschen verborgenen „höheren Menschen“ durch Entwicklung eines „höheren Bewußtseinszustands“ seiner Seele. 1933 gab es in Deutschland zwei Anthroposophische Gesellschaften, Waldorfschulen, Eurythmieschulen, heilpädagogische Heime, den Forschungsring der biologisch-dynamischen Landwirtschaft mit seinen Betrieben, anthroposophische Arztpraxen, eine pharmazeutische Fabrik, diverse Verlage und die religiöse Erneuerungsbewegung Christengemeinschaft.

Als Folge der nach dem Ersten Weltkrieg als Krise erfahrenen sozialen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen erschien die Suche nach einer neuen Spiritualität erforderlich zu sein. Es gab damals viele Ansätze zu einer religiösen Erneuerung in beiden großen Konfessionen, wie z.B. die Volkskirchen- oder die liturgische Bewegung. Die evangelischen Theologen Friedrich Rittelmeyer (1872-1938) und Emil Bock (1895-1959) sahen in der Anthroposophie Steiners, der bereits 1913 sein Zentrum im Goetheanum in Dornach (Schweiz) errichtet hatte, den Schlüssel für einen religiösen Neubeginn. Nach einem Kurs bei Steiner 1921 wurde im folgenden Jahr die Christengemeinschaft gegründet; am 16. September 1922 wurden durch Rittelmeyer erste Menschen-Weihehandlungen zelebriert. Kurz darauf entstanden Gemeinden in einigen deutschen Städten.

Basierend auf umfangreichen Forschungen in 50 öffentlichen und 35 privaten Archiven sowie Sammlungen – erstmals konnten Unterlagen aus dem Archiv des Goetheanums in Dornach ausgewertet werden – hat jetzt Uwe Werner eine Monographie über „Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus“ vorgelegt. Ihm geht es darum, „die handelnden Menschen, hier namentlich die Anthroposophen, möglichst genau zu verstehen“, die Menschen „an ihren eigenen Maßstäben und Absichten“ zu messen. Die Anthroposophen selbst haben nach 1945 ihr Verhalten im „Dritten Reich“ nicht thematisiert (S. 3). Aufgrund der Quellenlage konnten die Vorgänge im nationalsozialistischen Machtapparat recht gut rekonstruiert werden. Schwierig dagegen war es, die anthroposophische Seite der Abläufe zu ermitteln, weil sich die meisten der führenden Anthroposophen der Überwachung und Bespitzelung bewusst waren und sich deshalb nicht offen kritisch über den Nationalsozialismus geäußert haben (S. 2).

Werner gliedert seine chronologisch angelegte Arbeit in drei Teile: Die Jahre 1933 bis 1936, die das „Ringen um die Existenz der Anthroposophischen Gesellschaft“ bis zu ihrem Verbot am 1. November 1935 umfassen, die Verhandlungen um ihre Wiederzulassung und die Schließung der Waldorfschulen (1936/37 bis 1939/40) sowie die Kriegsjahre 1940/41 bis 1945, in die die Aktion der Gestapo vom 9. Juni 1941 gegen die Anthroposophen und das Schicksal der anthroposophischen Heilpädagogik sowie der Weleda AG fallen. Ein umfangreicher Dokumentenanhang mit wichtigen Quellen und vierzehn Kurzbiographien ergänzen die Darstellung, die durch ein Personenregister erschlossen wird.

Die ca. 7.000 Anthroposophen in Deutschland standen 1933 – im Gegensatz zu sogenannten „Nichtariern“, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftlern, Pazifisten oder Freimaurern – nicht im Zentrum nationalsozialistischer Angriffe. Dennoch wurde posthum gegen Rudolf Steiner eine Rufmordkampagne entfesselt. Neben einer später dementierten jüdischen Herkunft wurden ihm okkulte Machenschaften nachgesagt, die durch ihren Einfluss auf Generalstabschef Helmuth von Moltke (1848-1916) 1914 zum Verlust der Marneschlacht beigetragen hätten. Jüdische Mitglieder zogen sich schon sehr früh aus ihren Ämtern zurück, einige emigrierten. Polizeiberichte ergaben kein negatives Bild. Die Gestapo Karlsruhe fasste im März 1934 zusammen: „Der Bericht ergibt keine Tatsachen, die ein polizeiliches Einschreiten rechtfertigen könnten.“ (S.61). Es gab in der Tat eine ganze Reihe von Übereinstimmungen mit dem Nationalsozialismus, wie die Berufung auf Goethe, die Anbindung an den deutschen Idealismus und das pädagogische Konzept der personalen Entfaltung durch Charakter- und Willensbildung gegen Intellektualismus und Materialismus. Dennoch wurde von nationalsozialistischer Seite auf die ein bis zwei Prozent „nicht arischer“ Mitglieder, auf die pazifistische Einstellung Steiners und die internationale Ausrichtung der Anthroposophen – weil ihr Hauptsitz in der Schweiz lag – verwiesen. Am 1. Juni 1934 wurde polizeiintern das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft beschlossen, das aber erst 1935 umgesetzt wurde.

In der Folgezeit wurde versucht, die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder anthroposophischen Wirkens zu erhalten, was nach und nach immer schwieriger wurde. 1938 gab es noch fünf der acht Waldorfschulen, 1941 wurde auch die Dresdner Schule als letzte geschlossen. Nützlich für die Anthroposophen waren die Kompetenzstreitigkeiten im staatlichen Bereich sowie zwischen Partei und Staat. 1935 wurde die Zuständigkeit für die Christengemeinschaft vom Freimaurer-Referat der Geheimen Staatspolizei zum Reichskirchenministerium verlagert, was für diese von Vorteil war. Eine Zäsur stellte der Flug von Rudolf Heß (1894-1987) nach England am 10. Mai 1941 dar. Hatte Heß zuvor die Anthroposophen noch geschützt – insbesondere die ca. 1000 Betriebe, die im Reichsverband für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise zusammengeschlossen waren – so folgte nunmehr aufgrund der alten Vorwürfe eine große Aktion, in deren Verlauf 1.400 Anthroposophen verhört, verwarnt und einige auch inhaftiert wurden. Die Ärzte, Sanatorien und heilpädagogischen Heime blieben jedoch zumeist unbehelligt. Die Heilmittelfirma „Weleda“ wurde 1941 still gelegt, doch konnte dieser Beschluss nicht umgesetzt werden, was vermutlich mit den Schweizer Eigentumsrechten zusammenhing.

Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnten die Anthroposophen und die Christengemeinschaft wieder aktiv werden, bereits am 20. Mai 1945 wurde die Menschenweihehandlung wieder zelebriert. Die versprengten Anthroposophen sammelten sich, im Oktober 1945 konnten – wie die meisten staatlichen– auch die Waldorfschulen wieder eröffnet werden. Allein die biologisch-dynamische Arbeit war beeinträchtigt, da sich viele Höfe und Güter im Osten Deutschlands befanden und verloren gingen.

Wer aufgrund des Titels eine umfangreiche Untersuchung der Anthroposophen im „Dritten Reich“ erwartet, wird enttäuscht, da die Darstellung Werners, wie er selbst in der Einleitung schreibt, lediglich „die Unterdrückung der Anthroposophischen Gesellschaft, von anthroposophischen Einrichtungen und der Christengemeinschaft durch die nationalsozialistischen Machthaber untersucht“ (S.1). Dies ist eine klare Verengung seiner Fragestellung auf die Verfolgungsgeschichte von Anthroposophen und ihren Organisationen. Wieweit es (aktive) Partizipation im „Dritten Reich“ und Unterstützung des Nationalsozialismus von ihrer Seite aus gegeben hat, bleibt offen. Gab es in den Schriften Steiners Punkte, die eine – zumindest partielle – Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Ideologiekonglomerat ermöglichten und/oder so von Anthroposophen verstanden wurden? Wie äußerte er sich z.B. über Juden? Gab es rassistische Denkansätze? Werners knappe Bemerkungen dazu und zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wirken eher apologetisch. Kritische Positionen zum Verhalten an anthroposophischen Einrichtungen (insbesondere der Waldorfschulen) werden zwar kurz erwähnt, finden aber keinen Eingang in die Konzeption der insgesamt eher institutionengeschichtlichen Studie und werden nicht weiter ausgeführt. Unbefriedigend ist ein pauschaler Satz wie: „Da man insgesamt wußte, daß nur wenige Anthroposophen dem Nationalsozialismus verfallen waren, war die ‚Vergangenheitsbewältigung‘ kein Thema“ (S. 364). Sinnvoll wäre es auch gewesen, grundlegende Informationen zur Lehre Steiners und ihrer weltanschaulichen Einordnung zu geben sowie den Text auch durch ein Sachregister zu erschließen. Leider sind auch nicht alle Quellenangaben exakt: Die Signaturen der im Staatsarchiv Hamburg und Staatsarchiv Würzburg benutzten Unterlagen beispielsweise sind unvollständig, bei den ausländischen Archiven vermisst man jegliche Nennung von Beständen und ausgewerteten Akten. Ein wenig mehr Sorgfalt wäre hier zu erwarten gewesen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass trotz dieser sehr umfangreichen Aufarbeitung ihrer Verfolgungsgeschichte die Geschichte der „Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus“ noch aussteht.

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