L. Hölscher: Datenatlas zur religiösen Geographie

Titel
Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg


Herausgeber
Hölscher, Lucian
Erschienen
Berlin 2001: de Gruyter
Anzahl Seiten
4 Bde., 3056 S.
Preis
€ 348,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Richard van Dülmen bemühte die Meteorologie, um den Blick der Geschichtswissenschaft auf Religion und Konfession in der Neuesten Geschichte zu beschreiben. Religion und Konfession hätten sich wie eiszeitliche Gletscher bis in das 19. Jahrhundert vorgeschoben, wo sie unter der strahlenden Sonne des bürgerlichen Wertehimmels langsam und stetig abgeschmolzen seien 1. Für Generationen von nationalliberalen Historikern hatten die konfessionalisierten Religionen im Zeitalter der politischen Moderne keinen Platz, zumindest keinen legitimen. Religion war politisch nur zur Festigung von Untertanentreue dem christlichen Herrscher gegenüber denkbar und philosophisch nur als Propädeutikum für eine universalistische Ethik begründbar , nicht aber als eine historisch geprägte soziale und kulturelle Praxis. Besonders für den liberalen Protestantismus erschien die politische Moderne als die endliche Konkretion des von der Religion zwar immer schon Gemeinten, aber auch immer schon Verfehlten.

Dass der Protestantismus - in seinem liberalen wie in seinem positiven Aggregatzustand - nicht nur ein ideelles Gebäude aus Urteilen und Sätzen war, sondern auch eine bestimmte religiöse Praxis, ist eine durchgängige Vermutung der historischen Protestantismusforschung, die ihre Gegenstände bisher vor allem in Vereinen, Personen und in intellektuellen Debatten fand 2. Hinter den historischen Formen des Protestantismus, der positiven Orthodoxie und dem liberalen Kulturprotestantismus standen nicht nur ideelle Konstruktionen von Kirche, Gesellschaft und Staat, sondern auch ganz bestimmte religiöse und kirchliche Praxen. Freilich gingen im Protestantismus religiöse Praxen gerade nicht in kirchlichen Praxen auf, was der ultramontane Katholizismus von sich behauptete.

Ursprünglich dienten Kirchenvisitationen der Selbstvergewisserung der evangelischen Kirchenleitungen über die religiöse Praxis der Gemeinden. Im 19. Jahrhundert entstand jedoch das Bedürfnis nach statistischen Erhebungen der „Äußerungen kirchlichen Lebens“, wie die religiös-kirchliche Praxis jetzt begrifflich-distanzierend umschrieben wurde. Sie wurden seit 1858 von der Eisenacher Kirchenkonferenz, einer Vorläuferorganisation der EKD, nach gleichförmigen Standards erhoben. Mit den neuen quantifizierenden Methoden hofften die Kirchenleitungen, die wachsende Anonymität sozialer Beziehungen besser verstehen und ihr entgegenwirken zu können. In einigen Gliedkirchen wurden diese Daten schon früher erhoben: in der bayerischen Pfalz seit 1818, im übrigen Bayern seit 1827, in Westfalen seit 1850. In den übrigen Landeskirchen setzen die Erhebungen bis 1880 ein. Die statistischen Erhebungen waren damit ein Krisenphänomen im Protestantismus. Sie entstanden aus der verbreiteten Wahrnehmung, dass die Stabilität kirchlicher Gemeinden durch Bevölkerungswachstum und Migration gefährdet war.

Die Bochumer Arbeitsgruppe um Lucian Hölscher und seine Mitarbeiter Tillmann Bendikowski, Claudia Enders und Markus Hoppe hat diese Daten in insgesamt 27 Archiven über 15 Jahre lang gesammelt und jetzt veröffentlicht. Auf ungefähr 3000 Seiten, in vier Bänden und auf über 50 Karten präsentieren sie die Daten zur religiösen Geographie Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Für den Zeitraum von ungefähr 1850 bis 1945 wurden die Daten zu den sechs Indikatoren Abendmahlsteilnahme, Taufe, Trauung, Beerdigung, Konfessionswechsel und kirchliche Wahlen gesammelt. Relativ vollständig ist der Zeitraum von 1880 bis 1930 abgedeckt, gut, wenn auch nicht mehr flächendeckend die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg. Der Berichtsraum ist im wesentlichen identisch mit der heutigen Bundesrepublik, umfasst also nicht die preußischen Ostprovinzen, deren Daten in den polnischen und russischen Archiven noch erhoben werden müssen. Um die Daten statistisch in Perspektive setzen zu können, werden die absoluten Zahlen durch prozentuale Angaben ergänzt. Dies ist nicht nur in der Abendmahlsstatistik besonders hilfreich, sondern auch in der Tauf- und Trauungsstatistik, wo nach dem Konfessionsstand der Eltern beziehungsweise der Brautleute differenziert wird. In der Beerdigungsstatistik finden sich darüber hinaus erstmals flächendeckende Angaben zur Praxis der Feuerbestattung.

Worüber aber geben die Daten zu den sechs Parametern religiöser Praxis Auskunft? Was wissen wir, wenn wir wissen, dass im sächsischen Grimma 1900 58,9 % der Evangelisch-Lutherischen das Abendmahl empfingen, 1920 dagegen nur noch 37,6 %? Die Daten können in doppelter Weise gelesen werden, und wir wissen daher zweierlei:

a. Die Daten zur religiösen Praxis können, weil sie flächendeckend und über einen längeren Zeitraum gesammelt wurden, mit anderen aussagekräftigen Datenreihen kombiniert werden. Vor allem der Wahl- und Milieuforschung erlauben diese Daten eine Korrelation mit Daten zur politischen Wahlgeschichte und zur Vereins- und Organisationsgeschichte. Durch diese Daten lassen sich die religiösen Hintergründe des agrarisch-konservativen genauso wie diejenigen des städtisch-liberalen Milieus genauer bestimmen. Der Faktor Religion bleibt nun nicht mehr auf eine irgendwie bedeutungsvolle Hintergrundsemantik beschränkt, sondern kann sehr viel genauer mit dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel korreliert werden. Auch der Erfolg der Kirchenaustrittsbewegung kann jetzt flächendeckend und über einen längeren Zeitraum untersucht werden. Der immer wieder allgemein behauptete Einfluss der Religion auf die moderne Gesellschaft auch nach der Französischen Revolution lässt sich jetzt für den Protestantismus präzisieren und trennscharf differenzieren.

Eugen Rosenstock war einer der ersten, der den Zusammenhang zwischen sakramentaler Vergemeinschaftung und politischen Prozessen herausgestellt hat. Er ging sogar so weit, den modernen Staat nicht aus der Französischen Revolution oder der Aufklärung, sondern aus der Papstrevolution im 11. Jahrhundert und der anschließenden Aufwertung der sakramentalen Gemeinschaft abzuleiten: "So kann man ohne Übertreibung sagen, dass aus den sieben Sakramenten das gesamte bürgerliche Wesen des modernen Staatsbürgers entstanden ist. Die Tauf- und Beerdigungsregister wurden die ersten Geburts- und Sterbestatistiken. Die Vollziehung der Ehe vor einem Priester (...) schafft den ersten Standesbeamten, die Priesterweihe den ersten Beruf im modernen Sinne, die Firmung bereitet die Schulentlassung vor. Der Osterbeichte entstammt die jährliche Steuererklärung unserer Schulden an den Staat."3

b. In seiner Einleitung favorisiert Lucian Hölscher einen anderen interpretatorischen Zugriff auf die Daten zur religiösen Praxis. Er benutzt das Konzept der "religiösen Geographie", setzt also stärker auf eine interne Interpretation der gesammelten Daten. Die Herausgeber knüpfen damit an die ältere französische Forschungstradition der "géographie religieuse" an, wie sie von Gabriel LeBras und Fernand Boulard in den 1930er und 1940er Jahren entwickelt wurde und die im "Atlas de la pratique religieuse des catholiques en France" von 1980 ihr eindrucksvolles Ergebnis fand 4. Unter der religiösen Geographie eines Landes verstehen sie "die quantitative Verteilung religiöser Institutionen, Verhaltenweisen und Gesinnungen im politisch-sozialen Raum" (Bd. 1, 1). Dahinter steht die Einsicht, dass der Aspekt der räumlichen Distanz religionsgeschichtlichen Untersuchungen nicht äußerlich bleiben darf, sondern im Gegenteil besondere Aufmerksamkeit verdient. Der "weiche" Faktor Religion wird auf diese Weise in sechs Datenreihen zur religiösen Praxis konkret fassbar und anschaulich. Religion differenziert sich hier intern entlang der genannten Indikatoren religiös-kirchlicher Praxis (Abendmahl, Taufe, etc.), vor allem aber regional im Vergleich der deutschen Landeskirchen. Damit sind die beiden wichtigsten Vergleichsebenen genannt, für diese Datensammlung immenses Material bereit stellt: der Vergleich eines Indikators innerhalb einer Landeskirche mit einem anderen, dann aber auch der regionale Vergleich zwischen verschiedenen Landeskirchen. Um den interregionalen Vergleich zu erleichtern, sind mehrere Karten mit Indikatoren für 1910 abgebildet. Auch die Abendmahlsbeteiligungen innerhalb der Landeskirchen werden in Karten wiedergegeben. Ergänzt werden diese Karten durch Graphiken für jeden der sechs Parameter in jeder Landeskirche und in allen Kirchenkreisen, eine immense darstellerische Leistung, die die Lesbarkeit der Daten enorm erleichtert.

Generell bestätigen diese Bände die Vermutung, dass es in Deutschland ein Nord-Süd-Gefälle in der Kirchlichkeit gab. Doch blieb dies nicht das einzige Gefälle. Gerade das Kartenmaterial belegt, dass das Kirchlichkeitsgefälle zwischen der Bundesrepublik und der DDR weitaus älter war als die deutsche Teilung seit 1949. So lag schon im 19. Jahrhundert die Abendmahlsteilnahme in Hessen weit über derjenigen in Thüringen. Zwischen Hannover und den beiden Mecklenburgs war der Unterschied ähnlich stark. Die Entkirchlichung Ostdeutschlands war sehr viel älter als die DDR. In den mittel- und ostdeutschen Gebieten bestand schon vor 1945 eine deutlich höhere Bereitschaft für alternative, nicht-christliche Weltanschauungen.

Lucian Hölscher sieht im Zeitalter der Aufklärung die formative Periode des säkularen Trends der Entkirchlichung. Im 18. Jahrhundert wurde die Kirchenzucht abgeschafft, was protestantische Aufklärer als Fortschritt an Freiheit feierten. Der soziale Sinn von Abendmahl und Beerdigung, Taufe und Trauung wandelte sich mit dem neuen Schwerpunkt auf der individuellen Lebendigkeit der religiösen Gesinnung gründlich. Seit der Aufklärung, der großen Zäsur für das kirchlichen Leben schlechthin, wurden Abendmahl, Taufe etc. zur religiösen Sitte, die von Individuen übernommen werden konnte, aber nicht musste. In der Folge ging die Kirchlichkeit zurück, ohne dass von einem durchgehenden und linearen Prozess der Entkirchlichung gesprochen werden kann 5. Aber auch dies war kein linearer Prozess. Von Phasen relativer Stabilisierung wie nach 1871 und nach dem Zweiten Weltkrieg unterbrochen, gingen die Indikatoren religiös-kirchlicher Praxis vor allem im Ersten Weltkrieg dramatisch zurück, ohne danach auf das Vorkriegsniveau zurückzukehren. Krieg und Not lehrten also auch im Protestantismus aufs Ganze gesehen gerade nicht beten, wie es der Volksmund meinte. Nicht jede Krise von Staat und Gesellschaft stärkte die Religion.

Entzaubert wird auch die Ansicht, dass Gläubige in der Diaspora frömmer waren als in Kerngebieten einer Konfession. Lucian Hölscher unterscheidet zwei Typen von Diaspora: Nur dort, wo die religiöse Praxis sehr alt war und die Diaspora auf das Zeitalter der Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert zurückging, wirkte der Effekt der stärkeren Mobilisierung einer Minderheit - wie etwa in den protestantischen Gemeinden in der bayerischen Oberpfalz oder in Schwaben. Wo dagegen protestantische Gemeinden erst im 18. oder im 19. Jahrhundert unter den Bedingungen weitgehender politischer und religiöser Toleranz Fuß fassten, erreichten die Indikatoren längst nicht so hohe Werte.

Das Phänomen der Diaspora muss von konfessionellen Mischzonen unterschieden werden, wo katholische und evangelische Gebiete eng beieinander lagen. In den Mischzonen ließ der konfessionelle Zusammenhalt früher und stärker nach als in den rein konfessionellen Gebieten: so vor allem in Oberschwaben und am Neckar, im Ruhrgebiet und im Bergischen Land, im sächsischen Vogtland und im östlichen Thüringen, in Schlesien und in Westpreußen, alles Gebiete in der Nähe von großen Flüssen. Hölscher spitzt diesen Zusammenhang zu und vermutet einen Zusammenhang zwischen der Entfaltung konfessioneller Minderheiten und dem Verlauf großer Flüsse, wofür der Niederrhein, der obere Neckarraum und das Rhein-Main Gebiet mit seiner Häufung von freireligiösen Gemeinden nach 1848 sprechen.

Es gab auch Gegenkräfte zum Rückgang beim Abendmahl und beim Kirchgang. Erst im 19. und im frühen 20. Jahrhundert setzte sich die kirchliche Sitte der Beerdigung flächendeckend durch. Im Kontext von Tod und Todeserfahrungen gewann die evangelische Kirche eindeutig an Deutungskompetenz, die sie bei anderen Indikatoren kirchlichen Lebens verloren hatte. "Faktisch hat sich die protestantische Kirche - darauf deutet auch der rapide Anstieg des Durchschnittsalters der Kirchen- und Abendmahlsbesucher hin - aus einer Gemeinschaft der Lebenden zu einer Gemeinschaft der dem Tod entgegen gehenden verwandelt." (17) Die Daten zur religiös-kirchlichen Praxis im deutschen Nationalstaat deuten auf einen Funktionswandel des Protestantismus in der entwickelten nationalen Industriegesellschaft mit ihren neuen Friktionen und ihrem Wertewandel hin.

Die notorische Nähe des Protestantismus zur Ideengeschichte wird in den vorliegenden vier Bänden mit einem Datensatz konfrontiert, der seine verschiedenen Strömungen in der religiös-kirchlichen Praxis verortet. Der Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland stellt die Beschäftigung mit den evangelischen Kirchen zwischen 1880 und 1945 auf eine völlig neue empirische Basis, gleichsam vom Kopf der großen kirchlich-politischen Ideen auf die Füße einer kleinteilig erfassten sozialen Praxis. Er erschließt eine bisher vernachlässigte Quellengattung und wird in Zukunft zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel für Historiker, die sich mit den evangelischen Kirchen beschäftigen. Durch diese Datensammlung dürfte - so viel steht zu erwarten - die kirchliche Vergemeinschaftung im Protestantismus langfristig neue, vor allem aber schärfere Konturen gewinnen; und damit eine der großen prägenden Kräfte der neuesten deutschen Geschichte.

Anmerkungen

1 Vgl. Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd. 3, München 1994, 114.
2 Vgl. Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994; Claudia Lepp, Protestantisch?liberaler Aufbruch in die Moderne. Der deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes, Gütersloh 1996; Ursula Krey, Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen, Gütersloh 1996, 350-381.
3 Eugen Rosenstock, Die Europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena 1931, 154.
4 Vgl. Gabriel LeBras, Statistique et histoire religieuse, in: Revue d'histoire de l'eglise de France 18. 1931, 425-49. Fernand Boulard, Matériaux pour l'histoire religieuse de Peuple français, Hg. Y.-M. Hilaire, Paris 1982ff.; Atlas de la pratique religieuses des catholiques en France. Hg. F. A. Isambert u. J.-P. Terrenoire, Paris 1980.
5 Vgl. hierzu schon: Lucian Hölscher, Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und Protestantische Kirche im 19. Jahrhundert, in: HZ 250. 1990, 595 - 630.

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