C. Schulte: Die jüdische Aufklärung

Titel
Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte


Autor(en)
Schulte, Christoph
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eli Bar-Chen

Der Begriff „Haskala“ stammt aus der hebräischen Wurzel „Sechel“: auf Deutsch ein Synonym für Vernunft. Er bezeichnet aber vor allem eine jüdische intellektuelle, gesellschaftliche, politische und erzieherische Bewegung am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhundert. Sie entstand in Berlin um den Philosoph Moses Mendelssohn und verbreitete sich in der gesamten jüdischen Welt. Die „Haskala“ gilt als eine der wichtigsten Entwicklungen in der jüdischen Geschichte. Sie trug dazu bei, das Judentum zu säkularisieren und an die Moderne anzupassen. Die Wichtigkeit der „Haskala“ machte sie zu einer der zentralen Themen der jüdischen Geschichtsschreibung. Das Buch Christoph Schultes folgt dieser historiographischen Tradition. Es wirft aber ein neues Licht auf das Thema, und verleiht ihm eine aktuelle Relevanz.

Das Buch ist schon von den ersten Kapiteln an hoch interessant und der klare Stil macht das komplexe Thema angenehm lesbar und verständlich. Ausgangspunkt ist die Untersuchung der „Haskala“ im Rahmen des allgemeinen europäischen Kontextes. Schulte skizziert im ersten Kapitel die Hauptunterschiede zwischen der europäischen und der jüdischen Aufklärung. Er weist kurz darauf hin, wie diese Verschiedenheiten entstanden sind und wie sie die Entwicklung der „Haskala“ prägten. In gewisser Hinsicht wird das erste Kapitel zum Rahmen des gesamten Buches. In den folgenden Teilen diskutiert er umfassend die im ersten Kapitel erwähnten Aspekte, indem er die biographischen und literarischen Arbeiten der Protagonisten der „Haskala“ untersucht: Moses Mendelssohn, Naftali Hartwig Wessely, Saul Ascher, Lazarus Bendavid, Salomon Maimon und andere.

So bezeichnet der Autor im ersten Kapitel die Schnelligkeit und Radikalität der „Haskala“ als ihre hervorragenden Merkmale. Im Gegensatz zu anderen europäischen Aufklärungsbewegungen ist die „Haskala“ eine relativ späte Entwicklung. Aber innerhalb einer Generation gelang es ihr, die jüdische Religion und Erziehung grundlegend zu verändern, die Autorität der Rabbiner zu brechen, die Mehrheit der Juden in Westeuropa zu säkularisieren. Das Tempo und die Vehemenz dieser Entwicklung wird umfassend demonstriert durch die Darstellung der Unterschiede zwischen der ersten Generation der Vertreter der „Haskala“ und der zweiten und dritten Generation. Zwar versuchte Mendelssohn, das Judentum mit den Gesetzen der Vernunft zu vereinbaren, aber er bezweifelte nicht, dass die jüdischen Gesetze durch Gott selbst an Moses weitergegeben wurden und er respektierte bis zu seinem Tod die Gebote und Verbote des Judentums. Schon seine Anhänger folgten Mendelssohns auf diesem Weg jedoch nicht mehr. Sie betrachteten die jüdische Gesetzgebung als ein historisches „Produkt“. Demzufolge ignorierten sie in ihrem Alltag die jüdische „Halacha“.

Diese schnelle Radikalisierung erklärt der Autor durch ein zweites Merkmal der jüdischen Aufklärung. Die „Haskala“ entfaltete sich parallel zu allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Prozessen, im Zuge derer die Mehrheitsgesellschaft verstärkt forderte, die jüdische Religion zu reformieren. Die intellektuelle Diskussion der „Haskala“ war sehr stark mit der Frage der Emanzipation der Juden verbunden. Die europäische Aufklärung führte allmählich dazu, die Einstellung den Juden gegenüber zu modifizieren. Die Säkularisierung erschütterte die Autorität der Kirche und damit auch die Ansicht, die Juden trügen am Tod Jesu eine überzeitliche Schuld. Der Humanismus betrachtete jeden einzelnen – auch Juden – als Menschen und der Utilitarismus diskutierte Methoden, Menschen „produktiver“ zu machen. Diese Strömungen der europäischen Aufklärung trugen zur Emanzipation der Juden bei, stellten aber gleichzeitig auch eine neue Herausforderung für die Juden dar. Diejenigen Länder, die Juden emanzipierten, waren weniger bereit, sie als eine getrennte autonome Gruppe zu dulden. Je heftiger die Emanzipationsdebatte geführt wurde, desto mehr stieg der Druck, das Judentum aufzuklären. Die Radikalisierung der „Haskala“ spiegelt diese Dialektik zwischen dem wachsenden Druck der Mehrheitsgesellschaft und der wachsenden Anpassung der jüdischen Minderheit wider.

Allerdings, so betont Schulte, blieb trotz dieser Spannung und der mit ihr verbundenen Radikalität die „Haskala“ immer eine jüdische Bewegung. Die „Haskala“ versuchte zwar, die Juden als Menschen aufzuklären. Sie wollte aber nie, dass die Juden ihre spezifisch jüdische Identität aufgäben. Diese Position war ein Resultat der geographischen Lage der „Haskala“. Sie entstand in Berlin, einem protestantischen Milieu, in dem ein großer Teil der Träger der deutschen Aufklärung evangelische Geistliche waren. Sie förderten die Idee, das Christentum aufzuklären. Sie wollten aber weder die Kirche noch das Christentum abschaffen. Diese Einstellung beeinflusste die jüdischen Aufklärer und hatte weitreichende Konsequenzen: die „Haskala“ wurde zur jüdischen Bewegung – und dadurch entstand indirekt eine Verbindung und Kontinuität zwischen der „Haskala“ und der jüdischen Tradition.

Die Bereitschaft, eine Meinungspluralität zu dulden, war eine der wichtigsten jüdischen Traditionen, die auch bei der „Haskala“ beibehalten wurde. Traditionell kannte die jüdische Religion keine klaren Dogmen. Verschiedenheiten und Streitereien zwischen Gelehrten wurden als legitim akzeptiert. Diese Pluralität drang in die „Haskala“ ein. Darüber hinaus führte die Verbindung zur jüdischen Tradition dazu, dass die „Haskala“ zwar auch Einflüsse der Mehrheitsgesellschaft aufnahm und einen permanenten Dialog mit ihr führte. In erster Linie wurden aber doch jüdische Themen diskutiert, die für die christliche Umgebung kaum Relevanz hatten. Durch das ganze Buch wird immer wieder auf diesen zweifältigen Charakter der „Haskala“ hingewiesen. Auf der einen Seite zeigt der Autor, wie jüdisch die zentralen Fragen der jüdischen Aufklärung waren: erwünschte Sprache für die Juden, die Rolle des Talmud oder die Einstellung dem jüdischen Mystizismus (Kabala) gegenüber. Auf der anderen Seite stellt er deutlich dar, wie pluralistisch die „Haskala“ hinsichtlich dieser Fragen war. Hier nimmt Schulte eine Position ein, die im Gegensatz zu der herrschenden Forschungsmeinung steht. Diese betrachtet die „Haskala“ oft als eine einheitliche Bewegung. Diese Ansicht wird bei Schulte aber differenziert und das Buch zeigt ein breites Spektrum von Meinungen u.a. gegenüber dem jüdischen Mystizismus oder dem Talmud.

Eine der interessantesten Beobachtungen des Autors ist, dass der Mangel an Pluralismus im Judentum gerade eine ironische Folge der Auseinandersetzung mit den Gegnern der „Haskala“ war: die „Haskala“, von Pluralismus gekennzeichnet und für die Modernisierung des Judentums plädierend, war indirekt dafür verantwortlich, dass die jüdische Religion ihre Pluralität, Vielfältigkeit und Flexibilität verlor.

1792 veröffentlichte Saul Ascher sein Buch „Leviathan“, in dem zum ersten Mal der Ruf nach einer Reform des Judentums laut wurde. Gleichzeitig definierte Ascher die Gegner einer solchen Reform als orthodoxe Juden. Der Autor betrachtet diese neue Teilung als einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte und beruft sich auf die politische Theorie Carl Schmitts, um ihre umfassende Bedeutung zu betonen. Die Teilung in Orthodoxe und Säkulare schuf eine klare Grenze zwischen Freund und Feind. Sie diente aber zugleich als politisches Mittel, die ideologischen Gegner anzugreifen und die eigenen Anhänger zusammenzuhalten. Dadurch wurden die Linien innerhalb des Judentums klarer und fast unüberwindbar. Man konnte entweder orthodox oder säkular sein. Pluralismus, ein Dialog zwischen unterschiedlichen Meinungen, die im traditionellen Judentum und der „Haskala“ immer existiert hatten, wurden paradoxerweise als Folge der „Haskala“ und des Streits ihrer Anhänger mit ihren Gegnern auf zwei grobe Richtungen reduziert.

Das achte Kapitel des Buches über „die Erfindung der Orthodoxie“ im Judentum, das diese Entwicklung diskutiert, muss als eine Mahnung vor den Augen jeder Aufklärungs- und Reformbewegung stehen. Sie zeigt vielleicht, wie Ideen von Pluralismus und Reform zur Stagnation der jüdischen Religion nach der „Haskala“ führten. Das Buch insgesamt zeigt auch, welch unterschiedliche Gesichter die Aufklärung haben konnte, obwohl dieser Begriff, im ersten Augenblick eindeutig scheinen mag. Der Weg der jüdischen Religion in die Moderne lief auf anderen Schienen als der der christlichen Religion. Mit dem langen und so einzigartigen historischen Hintergrund des Judentums wäre es geradezu absurd gewesen, zu erwarten, die jüdische Aufklärung würde lediglich eine Nachahmung der christlichen Aufklärung sein. Genauso undenkbar zu erwarten, dass die Anpassung von anderen Minderheiten an der Mehrheitsgesellschaft eine Nachahmung der dominierte „Leitkultur“ sein würde: ein aktueller Begriff, den Schulte verwendet.

Gewiss ist das Buch die jüdische Aufklärung nicht frei von Schwierigkeiten. Schulte konzentriert sich fast ausschließlich auf die „Haskala“ in Deutschland, ja Berlin, während diese Bewegung fast die ganze jüdische Welt umfasste und in jedem Land andere Schwerpunkte setzte. In den jüdischen Gemeinden im islamischen Raum z.B. war die Aufklärung nicht ein Mittel zur Annährung an die muslimische Mehrheit, sondern bedeutete genau das Gegenteil. Sie war ein Mittel der Absonderung und der Betonung einer separaten jüdischen Identität durch die Aufnahme einer europäischen Weltanschauung. Auch die Periodisierung des Buches ist problematisch. Schulte lässt die jüdische Aufklärung am Ende des 18. Jahrhundert mit Moses Mendelssohn beginnen. Er schließt damit per se Entwicklungen aus, die früher stattgefunden haben und die darauf hinweisen würden, dass die Keime der jüdischen Aufklärung viel früher gepflanzt worden waren. Auch die Erforschung der Ursachen und der Schwerpunkte der „Haskala“-Bewegung könnte anders betrachtet werden. Der Autor erwähnt zwar die Wichtigkeit der demographischen oder industriellen Prozesse zum Verständnis der jüdischen Aufklärung. Jedoch bekommen sie nur einen marginalen Platz am Rande seiner Diskussion. Richtet man die Aufmerksamkeit auf diese Prozesse, so wird die Wichtigkeit der „Haskala“ als intellektueller Bewegung sicher nicht aufgehoben. Ihre Ursachen stellen sich aber vielfältiger dar. Diese Einwände sollten aber nicht das Interesse an Schultes Buch mindern. Sie zeigen nur, dass das Potenzial dieses gut erforschten Themas noch nicht ausgeschöpft worden ist.

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