Titel
Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne.


Herausgeber
Engel, Gisela; Brita Rang, Klaus Reichert, Heide Wunder
Reihe
Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit Bd. 6, 2002, H. 1-4
Erschienen
Frankfurt/M. 2002: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
531 S.
Preis
€ 54.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marian Füssel M.A., Historisches Seminar Universität Münster

Der anzuzeigende Band geht auf eine Tagung „Zur Geschichte des Geheimnisses“ zurück, die im Mai 2000 am Frankfurter „Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit“ stattgefunden hat. Die Tagungsbeiträge werden ergänzt durch die Ergebnisse einer amerikanischen Forschergruppe um Jonathan Elukin, die sich vor allem den arcana imperii widmet. Wurde das „Geheimnis“ als historiographische Kategorie lange Zeit quasi auf seine Funktion als das Andere der Öffentlichkeit reduziert, so ist in den vergangenen Jahren eine verstärkte Hinwendung auf die Geschichte des Geheimen zu beobachten, wie jüngst die drei umfangreichen von Aleida und Jan Assmann herausgegebenen Sammelbände zum Thema „Schleier und Schwelle“ deutlich gemacht haben 1. Der Schwerpunkt des vorliegenden Bandes liegt in erster Linie auf der interdisziplinären Erforschung des Geheimnisses in den Diskursen unterschiedlicher Felder wie Wissenschaft, Kunst oder Politik. Die Beiträge des Bandes sind nach den Themenfeldern Öffentlichkeit und Herrschaftswissen, Öffentlichkeit und Intimität, Körper und Sexualität, sowie Künste und Wissen gegliedert.

Zu Beginn beleuchten Klaus Reichert, Alois Hahn und Aleida Assmann aus soziologischer und kulturhistorischer Perspektive den Begriff des Geheimnisses bzw. Geheimen und das ihn umgebende semantische Feld von Heimlichkeit, Secretum, Arcanum, Mysterium etc. Alois Hahn gibt dem Leser aus soziologischer Perspektive zunächst einige grundlegende begriffliche Unterscheidungen an die Hand. Als Heimlichkeit begreift Hahn die „Differenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation“, als Geheimnis hingegen die „Zugangssperren zwischen Systemen der Kommunikation“ (26). Einigt sich eine Gruppe darauf, Heimlichkeiten in Geheimnisse zu transformieren, so kann die Geheimhaltung als indirekter Gruppengenerator, d.h. zur Herstellung der Identität der Gruppe dienen. Aleida Assmann skizziert das Nebeneinander von Traditionen jesuitischer Selbstabschirmungstechnik auf der einen Seite, wie sie beispielhaft von Balthasar Gracián entwickelt wurde, und puritanischer Selbstoffenbarung auf der anderen. Die mit Gracián begonnene Linie wird von Assmann im Folgenden über Carl Schmitt bis zu Martin Heidegger weitergeführt, der einer „Kultur der Öffentlichkeit“ eine „Kultur des Geheimnisses und des Schweigens“ gegenübergestellt habe (50). Von Schmitts „Buribunken“, einer 1917 entstandenen Persiflage auf den Kult medialer Selbstoffenbarung, schlägt Assmann schließlich den Bogen bis hin zur Lewinsky-Affäre und dem „Big Brother“-Phänomen.

Der Abschnitt „Öffentlichkeit und Herrschaftswissen“ wird mit einem Beitrag Horst Wenzels eröffnet, der sich dem Verhältnis von Repräsentation und Secretum in der höfischen Literatur des Mittelalters widmet. Die weiteren Beiträge dieser ganz in englischer Sprache gehaltenen Sektion werden von Jonathan Elukin eingeleitet und geben einen Überblick über die europäische Dimension des frühneuzeitlichen Staatsgeheimnisses. Die Sektion umfasst Untersuchungen zu Italien (Bullard / Tedoldi), England (Elukin / Gregerson), Frankreich (Schneider / Mollenauer), sowie zu Spanien (Campbell) und der Schweiz (Groebner). Die Sprache der Geheimhaltung in der Diplomatie der Renaissance ist das Thema des Beitrags von Melissa Meriam Bullard. Sie beleuchtet die verschlungenen Pfade eines diplomatischen Machttheaters von der Kommunikation über verschlüsselte Briefe bis hin zur elaborierten Körpersprache der einzelnen Akteure. Valentin Groebner verknüpft die vormodernen Diskurse über das Geheime im Anschluss an seine Arbeit über die „Gefährlichen Geschenke“ mit den Praktiken der Bestechung und des Gabentausches. Auch Groebner betont dabei die Bedeutung der Kommunikationsmedien für den Wandel der Wahrnehmung bzw. eben Nicht-Wahrnehmung des Geheimen. Linda Gregerson präsentiert eine Art politischer Körpergeschichte, indem sie für das 16. Jahrhundert einen engen Zusammenhang zwischen weiblichem Körper und „body politic“ aufzeigt.

Die Sektion „Öffentlichkeit und Intimität“ wird mit einem Kommentar von Barbara Stollberg-Rilinger zum „Verschwinden des Geheimnisses“ eingeleitet. So unterlag das Geheimnis seit dem Beginn der Moderne einem fortschreitenden Prozess der Delegitimation, der vor allem durch die Universalisierungsansprüche von Politik und Wissenschaftssystem forciert wurde. Übrig blieb vom Geheimnis allein das „Unkommunizierbare“ (233). Daniela Hammer-Tugendhat untersucht in ihrem Beitrag die Konstruktion von Intimität anhand der Malerei Vermeers. Bilder wie die „Briefleserin am Fenster“ bilden dabei die soziale Realität intimer Beziehungen nicht einfach ab, sondern sind selbst Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion. Die Emotionen der dargestellten Akteure bleiben unsichtbar, geheimnisvoll. Am Beispiel von Choderlos de Laclos' Briefroman „Les Liaisons Dangereuses“ beschreibt Ulrike Vedder die Dialektik des Kommunikationsmediums Brief im Spannungsfeld von Liebesdiskurs und Geschichte der Post. Briefe können Geheimnisse sowohl transportieren, können aber, wie im hier geschilderten Fall des Angriffs auf das Briefgeheimnis, auch zu deren Enthüllung beitragen. Wie weit der aufgeklärt-universalistische Anspruch auf Transparenz sich publizistisch auswirken konnte, zeigt Julia Carlson am Beispiel der Texte William Godwins über seine Frau Mary Wollstonecraft. Die Veröffentlichung selbst intimster Details aus dem Leben seiner Frau wird von Godwin letztlich in den Dienst einer überindividuellen Perfektibilität gestellt.

Die Geschichte des Körpers ist in den vergangenen Jahren zu einem der meistdiskutierten Themen der Kulturwissenschaften avanciert. So verwundert es nicht, dass den Geheimnissen des Körpers eine eigene Sektion gewidmet wird, die im Gegensatz zu vielen modischen Körpergeschichten mit der Frage nach der Historisierung des Verhältnisses von Körper, Sexualität und Geheimnis einiges an Erkenntnisgewinn verspricht. Thomas Laqueur behandelt zunächst die Masturbation als geheimgehaltenen "Schauplatz des Kampfes zwischen Libido und Zivilisation“ (301). Gerade dem Zeitalter der Aufklärung schien der „solitary sex“ Laqueur zufolge geradezu als „worst case“ sozialer Nicht-Kommunikation. Die damit angesprochene Dialektik des Verbergens und Entbergens steht auch im Mittelpunkt von Patricia Simons Beitrag über die Bedeckung der weiblichen Scham durch die sogenannte „pudica“-Geste. Anhand verschiedener sich überlappender Diskurse von Anatomie, Pornographie und Kunst des 16. Jahrhunderts wird auf eindrucksvolle Weise der Kampf um die Darstellung der Geheimnisse des weiblichen Körpers nachgezeichnet. Brita Rang nähert sich unter Bezug auf die Soziologie Georg Simmels dem Verhältnis der Ästhetisierung, Diskursivierung und Pädagogisierung von Ehe und Sexualität anhand niederländischer Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. Rang kennzeichnet dabei die Schamhaftigkeit als eine Art „Seismographen“ für die Balance der sich ausdifferenzierenden Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit und relativiert dabei gleichzeitig in gewissem Maße Foucaults These von der fortschreitenden Diskursivierung der Sexualität.

Die vierte und letzte Sektion des Bandes steht unter der Überschrift „Künste und Wissen“. Die literarische Konstruktion des Geheimen wird von Verena Olejniczak Lobsien am Beispiel von George Gascoignes Erzählung „The Adentures of Master F.J. “ (1573) analysiert. Sybilla Flügge widmet sich dem Wissen der Hebammen, das als „Weibergeheimnis“ in der frühen Neuzeit in erster Linie als geheimes Wissen vorgestellt wurde. Die Berufsgeheimnisse der Hebammen gerieten im Zuge der Verwissenschaftlichung der Medizin in Konkurrenz zum gesellschaftlich legitimen Geheimwissen der männlichen Ärzte was einerseits zur Integration des traditionellen Wissens der Hebammen beitrug, andererseits aber laut Flügge zu einer wachsenden Entfremdung der Frauen von ihrem Körper führte. Auch Bettina Wahrig-Schmidt untersucht eine Form von Berufsgeheimnissen anhand der Herstellung von Geheimmedikamenten, den sogenannten Panazeen. Ihr „tacit knowledge“ garantierte den Medikamentenherstellern dabei lange Zeit den Erfolg ihrer Produkte. Mit dem Wandel der Relation von Macht und Wissen während des 18. Jahrhunderts unterlag die Herstellung der Panazeen mehr und mehr obrigkeitlicher Kontrolle, was nicht zuletzt in einem Wandel der Legitimation ihrer Hersteller resultierte. Der am Geheimwissen einer sozialen Gruppe partizipierende „Gelehrte“ wurde abgelöst durch den sich an universellen bzw. allgemein zugänglichen Normen orientierenden „Wissenschaftler“. Auch in Susanna Akermanns Beitrag über die Rosenkreuzerschriften des schwedischen Hofarchivars Johannes Bureus geht es in gewissem Sinne um die Konstitution einer Gruppe durch die gemeinsame Verfügung über geheimgehaltenes Wissen, in diesem Falle das der „nordischen Kabbala“ (482) der Runen. Der clandestinen Kommunikation geheimer Gesellschaften und Assoziationsformen wurde im vorliegenden Band jedoch leider kaum Aufmerksamkeit geschenkt, was umso bedauernswerter ist, als hierin die Möglichkeit bestanden hätte, einen breiten Kreis gesellschaftlicher Akteure zu berücksichtigen. Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag Johannes Süßmanns zum Stellenwert des Geheimnisses in der Historiographie Leopold von Rankes. Süßmann zu Folge verwandelte Ranke die arcana imperii des frühneuzeitlichen Staates in das „Mysterium“ menschlicher Freiheit. Nicht die kommunikativen Barrieren der Geheimhaltung der Staatsgeheimnisse, sondern die Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wollens und Handelns bildeten letztlich den Gegenstand seiner Geschichtsschreibung. Die Enthüllung der „heiligen Hieroglyphe“ der Geschichte wurde somit für Ranke zur Hauptaufgabe des Historikers.

Eigentlich ist es müßig zu erwähnen, dass das Problem von Sammelbänden mit einem so breit gefassten Thema wie der Geschichte des Geheimnisses häufig darin besteht, dass die ubiquitäre Auffindbarkeit von Geheimnissen einen willkommenen Anlass bietet, die jeweils eigene Arbeit nochmals unter einem anderen Label zu präsentieren. Das kann in vielen Fällen anregend sein, doch stellt sich ebenso die Standardfrage nach der „Einschlägigkeit“ der jeweiligen Beiträge. Helmut Puffs Untersuchung einer „Rhetorik der Sodomie" in den Schriften Martin Luthers sagt im Grunde mehr über die publizistischen Strategien innerhalb der „reformatorischen Öffentlichkeit“ (Wohlfeil) als über die Geschichte des Geheimnisses aus. Auch in Klaus Krügers Betrachtungen zur hermetischen Malerei des 16. Jahrhunderts und in Tanja Michalskys Beitrag über den Zusammenhang von Landschaftsmalerei und Kartographie fällt es schwer die Fragestellungen der Tagung wiederzufinden, die hier hinter einer dicht gewebten Textur kulturwissenschaftlicher Semantik verborgen bleiben.
Die Handhabung des umfangreichen Bandes wird durch ein Personenregister und einen Abstract zu jedem Beitrag in jeweils deutscher oder englischer Sprache erleichtert. Für die Optik des Bandes etwas störend bleibt lediglich, dass die einleitenden Sektionen sich zum Teil weiterhin auf die in der Druckfassung geänderte Anordnung der ursprünglichen Tagungsbeiträge beziehen. Insgesamt präsentiert sich der Band als bunter Strauss durchweg hochwertiger und interessant zu lesender Ergebnisse interdisziplinärer „Geheimnisforschung“. Man muss gewiss kein „Rankianer“ sein, um darin einen wichtigen Anreiz zu erblicken, nach weiteren „Hieroglyphen“ in der Geschichte des Geheimnisses zu forschen.

1Aleida Assmann / Jan Assmann (Hg.): Schleier und Schwelle (Archäologie der literarischen Kommunikation V) Bd.1 Geheimnis und Öffentlichkeit, München 1997; Bd.2 Geheimnis und Offenbarung, München 1998; Bd.3 Geheimnis und Neugierde, München 1999.

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