Titel
Die Aufklärung.


Autor(en)
Müller, Winfried
Reihe
Enzyklopädie deutscher Geschichte 61
Erschienen
München 2002: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
146 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Klinger Andreas, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Aufklärung in Deutschland in all ihrer Vielfältigkeit vorzustellen ist nicht einfach, erst recht nicht, wenn der enzyklopädische Anspruch einer Buchreihe mit begrenztem Raum einhergeht. Die dennoch überzeugende Darstellung Winfried Müllers geht von „Begriff, Programm und Ort der Aufklärung“ aus. Selbstverständlich betont auch Müller, daß die Aufklärung eine europäische Bewegung war. Doch er schränkt ein, daß sich übernationale Beziehungen im Prozeß der Aufklärung hauptsächlich für geistes- und ideengeschichtliche Entwicklungen sowie deren intellektuelle Träger und besondere Organisationsformen feststellen lassen. In vielfacher Hinsicht aber war die realgeschichtliche Ausformung der Aufklärung national differenziert. Deshalb macht Müller eingangs zurecht auf die föderale politische Struktur des Alten Reiches aufmerksam, die eine „Polyzentrik“ der deutschen Aufklärung zur Folge hatte. Die Vielzahl an Residenzen schuf eine Vielzahl staatlicher Verwaltungen und damit zahlreiche Karrieremöglichkeiten für die akademisch ausgebildete Beamten- und Bildungselite, die ganz wesentlich zu den Multiplikatoren der Aufklärung gehörte und in den überwiegend kleinstaatlichen Territorien günstige Bedingungen für Reformversuche fand. Die auch auf die spezifische Struktur des Reiches zurückzuführende große Anzahl an Universitäten bedingte ein weiteres Charakteristikum der deutschen Aufklärung, das Winfried Müller als „akademische Grundierung“ beschreibt. Nicht zuletzt führte die Mehrkonfessionalität des Reichs und das noch immer virulente Problem der konfessionellen Trennung nicht nur zum Nebeneinander einer „protestantischen“ und einer katholischen Aufklärung, sondern auch dazu, daß die Überwindung einer mit der Orthodoxie identifizierten konfessionellen Unversöhnlichkeit zu einem besonderen Thema der deutschen Aufklärer wurde.

Die Hinwendung weniger zu den geistesgeschichtlichen Fragen der Aufklärung, sondern zu ihren sozialgeschichtlichen Fundamenten und praktischen Folgen, strukturiert die weitere Darstellung, die Müller mittels die Begriffe „Soziabilität“, „Diffusion“ und „Aktionsfelder der Aufklärung“ gliedert. Unter dem Stichwort der Soziabilität werden das Problem der Öffentlichkeit im absolutistischen Staatswesen und die Formen aufgeklärter Vergesellschaftung angesprochen. Während Müller die gerade hinsichtlich ihrer Sozialstrukturen mittlerweile verhältnismäßig gut erforschten „öffentlichen“ Sozietäten wie die Deutschen Gesellschaften, die Lesegesellschaften und die Patriotischen oder Gemeinnützigen Gesellschaften recht knapp abhandelt, widmet er sich mit den Freimaurern und den Illuminaten den geheimen Gesellschaften ausführlicher. Die hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen gewiß weitaus weniger bedeutenden, wohl auch nicht eindeutig den Aufklärungsgesellschaften zuzuordnenden akademischen Logen und studentischen Orden, die aber zum schillernden Rand der Sozietätsbewegung der Aufklärungszeit gehören, erwähnt Müller nicht.

Unter „Diffusion“ werden Wege und Medien der Ausbreitung aufklärerischen Gedankenguts behandelt. Winfried Müller legt Wert darauf, daß neben der unbestrittenen Bedeutung der Lesekultur des 18. Jahrhunderts die Aufklärung auch wesentlich mündlich geprägt war. Akademische Vorträge und vor allem Gespräche, welche die Meinungsbildung im Dialog förderten, halfen, die Aufklärung zu popularisieren. Die Bedeutung einer solchen Mündlichkeit der Aufklärung zu betonen überzeugt, da sich nur so der tatsächliche Stellenwert der weiter oben angesprochenen Formen der Geselligkeit – Sozietäten, Orden und Kaffeehäuser etwa – im Prozeß der Aufklärung bestimmen läßt. Den engen Zusammenhang der Aufklärung mit einer ausgeprägten Schreib- und Lesekultur will freilich auch Müller nicht bestreiten. Auf mehreren Seiten widmet er den wichtigsten der aufklärerischen Publikationsformen kurze Abrisse: den Reiseberichten, Zeitungen, Intelligenzblättern und Moralischen Wochenschriften, der unglaublichen Anzahl an Zeitschriften, von denen allerdings die meisten nur sehr kurzlebig waren, und natürlich der Buchproduktion selbst. Die rasante Zunahme an Autoren und Druckerzeugnissen, die Durchsetzung der deutschen Sprache auch für gelehrte Publikationen, die Modernisierung der buchhändlerischen Vertriebsstrukturen – all dies spricht dafür, eine Leserevolution als Epochentrend des 18. Jahrhunderts anzunehmen. Müller weist jedoch zurecht darauf hin, daß Fragen nach dem Leseverhalten und der Zahl der Leser noch immer kaum befriedigend beantwortet werden können. Die vorliegenden Daten zur Verbreitung der Lesefähigkeit in der Bevölkerung sind geschätzte Durchschnittswerte, die kaum für den gesamten deutschen Raum verallgemeinerbar sind. Gerade hier erschweren große Unterschiede zwischen den Territorien, Stadt und Land und nicht zuletzt den Geschlechtern die Ermittlung zuverlässiger Daten. Lesefähigkeit sagt zudem nichts über das noch wesentlich schwieriger zu erforschende Leseverhalten aus, doch die Annahme, es habe außerordentlich heterogene, kaum miteinander verbundene Publikumskreise gegeben, verweist auch hier auf tiefe soziale, landschaftliche und geschlechtsspezifische Differenzen. Mit dem Hinweis auf die wegen der territorialen Gliederung zumeist wenig durchsetzungsfähige Zensur im Reich spricht Müller noch einmal eine wichtige Rahmenbedingung der deutschen Aufklärung an, deren „Diffusion“ vom oft gescholtenen „Partikularismus“ des Reiches durchaus profitierte.

Unter der Überschrift „Aktionsfelder der Aufklärung“ schließlich kommt Müller zum einen auf die aufklärerische „Weltdeutung“ und zum anderen auf das „Regieren und Verwalten“ im Zeichen der Aufklärung zu sprechen. Als aufklärerische Weltdeutung werden ein neues naturwissenschaftliches Weltbild, die Vertragslehre und das Naturrecht als wirkungsmächtige Erklärungsmuster der Mechanismen menschlicher Vergesellschaftung sowie die Herausbildung einer historischen Methodik vorgestellt. Das gedankliche Bindeglied dieser Aspekte des aufklärerischen Weltbilds sieht Müller in der „Enttheologisierung“, die in allen Bereichen zur Ablösung traditioneller religiöser Weltinterpretationen führte. Auch Religion und Theologie beider Konfessionen selbst wandelten sich unter dem Einfluß einer intellektuell weitreichenden Säkularisierung. Diese aber zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen zu erklären, lehnt Müller dezidiert ab, da die soziale Trägerschicht der Aufklärung eher schmal war und die deutschen Aufklärer in religiösen Fragen zumeist moderate Positionen vertraten. Hinzuzufügen wäre, daß ja selbst unter den gebildeten Schichten eine betont rationalistische Weltsicht keineswegs common sense war, wie Müller an anderer Stelle auch ausführt.

Zur „Weltdeutung“ im weiteren Sinne hätte man sicherlich auch die vielfachen volksaufklärerischen Bemühungen zählen können, doch leider geht Winfried Müller auf das Phänomen der Volksaufklärung nicht in einem eigenen Abschnitt ein, sondern thematisiert dieses für die neuere Forschung doch immer wichtiger gewordene Feld nur in engen thematischen Zusammenhängen, etwa als „Agraraufklärung“.

Im Abschnitt „Regieren und Verwalten“ wird die wichtige Frage erörtert, inwieweit die Aufklärung auf die Herrschaftsausübung insbesondere in den Fürstenstaaten Einfluß nahm. Überzeugend weist Müller auf die Schwierigkeiten hin, den umstrittenen Begriff des „aufgeklärten Absolutismus“ durch Reformabsolutismus zu ersetzen. Damit wird zwar vermieden, prinzipielle Unvereinbarkeiten zwischen Aufklärung und Absolutismus begrifflich zu überdecken, doch mit der bleibenden Betonung der aufgeklärt-absolutistischen Reformbemühungen besteht die zugleich die Gefahr, etwas nicht allein Aufklärungsspezifisches für diese Epoche dennoch exklusiv zu reklamieren. Reformen im Sinne von Herrschaftsrationalisierung und administrativer Effizienzsteigerung lassen sich auch schon in den Fürstenstaaten des 17. Jahrhunderts zuhauf feststellen. Gerade im Bereich der praktischen Politik fällt es häufig schwer, „aufgeklärte“ von überkommener Herrschaftsrationalität überzeugend zu scheiden. Winfried Müller selbst weist mehrfach darauf hin. An dieser Stelle hätte man sich gewünscht, daß er das dennoch behauptete Neuartige und Eigentümliche von Regieren und Verwalten im Zeichen der Aufklärung, was ja wohl vor allem in der theoretischen Fundierung und Steuerung des Herrschaftshandelns zu suchen ist, noch schärfer herausgearbeitet hätte. Es überzeugt nicht ganz, wenn Müller z. B. feststellt, daß „die leitenden Maximen des aufgeklärten Absolutismus ... besonders deutlich auf dem Felde der sog. Peuplierungspolitik zutage“ treten und die dafür zunächst herangezogenen beispielhaften Belege auf Einwanderungsbewegungen des späteren 17. Jahrhunderts verweisen (S. 58f.).

Eine besondere Stärke des zweiten, in dieser Reihe bekanntlich den Grundproblemen und Tendenzen der Forschung gewidmeten Teils, ist gewiß die im gegebenen Rahmen sehr ausführliche Darstellung der Rezeptions- und Forschungsgeschichte zur deutschen Aufklärung. Sie zeigt, wie schon der der Aufklärung inhärente Zug zur Selbstreflexion und -relativierung eine gewisse Selbsthistorisierung der Aufklärung mit sich brachte. Von diesem Punkt aus durchschreitet Müller in chronologischer Folge die Aufklärungskritik und -forschung seit dem frühen 19. Jahrhundert, wobei er den Schwerpunkt immer wieder auf die gerade hinsichtlich der Aufklärung stets sehr stark gegenwartsbezogene Deutung dieses Phänomens legt. Dies gilt für alle politischen Richtungen. Eine solche zeitbezogene Sicht auf die Aufklärung läßt sich nach Müller an der vornehmlich antifranzösischen Aufklärungskritik aus völkischer Perspektive zu Beginn des Ersten Weltkriegs ebenso ablesen wie an Ernst Cassirers Abhandlung zur Aufklärungsphilosophie von 1932. Auch die hauptsächlich auf die „progressive“ Spätaufklärung konzentrierte Forschung in der DDR war durch die Staatsräson motiviert, weil die Aufklärung als historisches „Erbe“ begriffen wurde. Demgegenüber setzte die Aufklärungsforschung in der Bundesrepublik verhältnismäßig spät, dann jedoch, vor allem nach der sozialgeschichtlichen Wende der 1970er Jahre, thematisch sehr breit ein. Von den vielfältigen Ergebnissen dieser Forschungen legt nicht zuletzt der hier zu besprechende Band Zeugnis ab.

An wichtigen neueren Forschungsfeldern stellt Müller die katholische Aufklärung, Alternativ- und Gegenströmungen sowie die Fragen nach Erziehung und Geschlechterdifferenz heraus. Während die ersten beiden Themen im enzyklopädischen Überblick zumindest schon einmal angerissen werden, läßt sich dort so gut wie nichts zur Geschlechterdifferenz im Sinne neuerer Forschungsansätze finden – möglicherweise ein Zeichen dafür, wie wenig bislang doch als grundsätzlich wichtig apostrophierte, innovative geschichtswissenschaftliche Fragestellungen tatsächlich den Weg in Überblicksdarstellungen gefunden haben bzw. finden können.

Insgesamt hat Winfried Müller eine trotz der enzyklopädischen Fülle und der angesichts des zur Verfügung stehenden Platzes nicht zu vermeidenden Sprünge und Schnitte in der Darstellung einen sehr gut lesbaren Überblick zur deutschen Aufklärung vorgelegt, bei dessen Lektüre allenfalls der auffällig häufige Fremdwortgebrauch stört.

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