U. Hindersmann, Adel im Kgr. Hannover

Titel
Der ritterschaftliche Adel im Königreich Hannover 1814-1866.


Autor(en)
Hindersmann, Ulrike
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 203
Erschienen
Anzahl Seiten
656 S.
Preis
€ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
PD Dr. Axel Flügel Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie Universität Bielefeld

Wenn im 19. Jahrhundert der Blick auf den Adel in Deutschland gerichtet wurde, dann war fast immer vom “Kastengeist” dieses Adels die Rede. Zeitgenössische Beobachter mit liberaler wie solche mit konservativer Einstellung konstatierten einerseits einen zivilisatorischen Fortschritt, der die soziale Annäherung der Stände ermöglicht hatte. Andererseits befürchteten sie, dass der Adel auf seinen Privilegien und Sonderrechten, auf einer schroffen “Absonderung” von den übrigen Ständen beharrte. So aber gefährdete er auf die Dauer seine gesellschaftliche Existenz und Anerkennung. Denn mit der Französischen Revolution bzw. mit dem Auftritt Napoleons war die Zeit der rechtlichen und politischen Privilegierung des Adels vorbei. Die in den rheinbündischen Reformen begonnene Durchsetzung der rechtsgleichen Staatsbürgergesellschaft wurde in den konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts fortgesetzt. Das Königreich Hannover stellte demgegenüber eines der Musterbeispiele des “altständischen Stillstandes” (H. v. Treitschke). Für dieses Urteil und Verdikt liefert Ulrike Hindersmann in ihrer Untersuchung des ritterschaftlichen Adels im Königreich Hannover für die Jahre von 1814 bis 1866 jetzt das sozialgeschichtliche Beweismaterial.

Die flüssig geschriebene Untersuchung, die aus einer Münsteraner Dissertation hervorgegangen ist, verfolgt den Weg des grundbesitzenden Adels im Königreich Hannover in das konstitutionelle Zeitalter vor allem anhand zweier Themenbereiche. Im Mittelpunkt steht eine breit angelegte Studie zur Geschichte der landtagsfähigen Güter, die als zweites Kapitel drei Viertel des Textes ausmacht. Daran schließt sich ein knapperes drittes Kapitel über die Politik der Ritterschaften der sieben verschiedenen Landschaften an. Auf der Grundlage der für den Zeitraum von 1814 bis 1866 ermittelten 1.013 landtagsfähigen Rittergüter im Besitz von 272 überwiegend alteingesessenen Geschlechtern entfaltet Ulrike Hindersmann ein Panorama konstitutioneller Reformen und ständischen Beharrungswillens.

Das Kapitel zur Geschichte der Rittergüter beginnt mit der Frage nach der sozialen Zusammensetzung der Besitzer und nach der Besitzkonstanz im Adel in den rund fünfzig Jahren des Deutschen Bundes. Darauf folgt in mehreren Abschnitten die eingehende Darstellung des konstitutionellen Reformprogramms der Agrarreformen aus grundherrlicher Sicht: die Einführung einer allgemeinen Grundsteuer, die Ablösung grundherrlicher Rechte, die Einleitung der Gemeinheitsteilungen, die Aufhebung von Jagdrechten, die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit und die nur widerstrebend hingenommene Eingliederung der Gutsbezirke in die Landgemeinden. Im Wechsel von allgemeiner Beschreibung und ausgewählten konkreten Fällen gelingt es Ulrike Hindersmann, ein gut nachvollziehbares Bild der hannoveraner Verhältnisse zu zeichnen. Weitere Abschnitte zur Allodifikation der Lehen und zur Errichtung ritterschaftlicher Kreditvereine runden die Darstellung ab. Die detaillierte Auflistung der gesetzlichen Maßnahmen für die einzelnen Reformvorhaben – aber ebenso auch für die einzelnen Provinzen des Königreiches – verdeutlicht den oft mühsamen Verlauf der Reform. Der Band bekommt in dieser Hinsicht geradezu den Charakter eines Handbuches und kann daher über das Interesse an der Adelsthematik hinaus mit großem Gewinn gelesen und benutzt werden.

In dem deutlich kürzeren Kapitel zu den Ritterschaften der sieben Provinziallandschaften Calenberg-Grubenhagen, Lüneburg, Hoya, Bremen-Verden, Osnabrück, Hildesheim und dem vormals preußischen Ostfriesland geht es anhand der ritterschaftlichen Matrikeln und Statuten unmittelbar um das Problem der ständischen Absonderung des Adels gegenüber den Bürgerlichen und den Nobilitierten. Solange es ging, blieb der ritterschaftliche Adel unter sich und hielt bürgerliche Rittergutsbesitzer von der Aufnahme in die Ritterschaft fern. Erst seit den 1860er Jahren kam es zur formalen Lockerung der restriktiven Statuten.

Die interessanten Ergebnisse der sozialgeschichtlichen Untersuchung von Ulrike Hindersmann liegen erstens im Nachweis einer hohen Besitzkonstanz des Adels als Gesamtgruppe zwischen 1814 und 1866 angesichts des Zwangs zur landwirtschaftlichen Modernisierung des Gutsbetriebes, der Einkommens- und Statusverluste durch die konstitutionellen Reformen und der häufig recht hohen Verschuldung der adeligen Besitzer und zweitens in den großen finanziellen Vorteilen, welche die Gutsbesitzer aus den Agrarreformen zogen. Die Stabilität des ritterschaftlichen Adels wird nicht nur mit der relativ geringen Konkurrenz bürgerlicher Aufsteiger in den Gutsbesitz erklärt. Eine große Rolle spielten vielmehr die Entschädigungsgelder, Ablösungskapitalien und günstigen Kredite für die Rittergutsbesitzer. Durch seine Ausrichtung auf einen weit gefassten bürgerlichen Eigentumsbegriff, der z.B. die zu beseitigende Steuerfreiheit einschloss, wirkte das konstitutionelle Reformprojekt – unterstützt von der guten Agrarkonjunktur der Jahrhundertmitte – geradezu wie ein Sanierungsprogramm für die adeligen Grundherren. Der Erblanddrost v. Bar z. B. erhielt zwischen 1834 und 1870 fast 50.000 Taler, die er zur Schuldentilgung verwandte (S. 243 und S. 282). Man kann daher zweifeln, ob es sich insgesamt gesehen, wie Ulrike Hindersmann im Anschluss an den bekannten Vorschlag von Rudolf Braun folgert, um ein geschicktes “Obenbleiben” durch den Adel selbst gehandelt hat oder nicht doch um ein von den konstitutionellen Reformern mit ihrem bürgerlichen Programm politisch gewolltes Obenhalten des Adels.

Die Kritik an der gelungen Untersuchung kann sich auf wenige Hinweise und Anmerkungen beschränken. Abgesehen von der Zersplitterung in die verschiedenen Landschaften behandelt Ulrike Hindersmann den Adel – und die Zeit – en bloc. Es geht ihr vorrangig um die Selbstbehauptung der sozialen Gruppe gegenüber den Bürgerlichen bzw. gegenüber dem Staat. So erklärt sich auch ihre überraschende Haltung, die Heirat von Erbtöchtern nicht als Besitzwechsel anzuerkennen (siehe S.45). Die Tendenzen innerhalb des Adels treten dagegen leider etwas zurück. Ein Vergleich der Zahl der Geschlechter um 1814 und um 1866, also die Frage nach der Abwanderung oder dem Aussterben von Geschlechtern, oder nach der Zahl der Güter pro Geschlecht habe ich in der ansonsten so materialreichen Darstellung vermisst. Die mehrfachen Hinweise auf eröffnete Lehen und Konkurse verweisen jedoch auf Erosions- und Konzentrationsprozesse im Adel. Die für den Untersuchungszeitraum ermittelte hohe Besitzkonstanz im Adel würde sich wahrscheinlich relativieren, wenn die Zeit vor 1814 einbezogen wird, die nicht nur aufgrund der militärischen und politischen Wechselfälle eine Krisenzeit des Adels war. Ähnliches gilt möglicherweise für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts.

Schließlich ist zu unterstreichen, dass sich die Arbeit mit dem ritterschaftlichen und das heißt nur mit dem mit privilegierten Grundbesitz angesessenen Adel beschäftigt. Diese zahlenmäßig wohl dominierende Gruppe sollte aber nicht mit dem Adel im Königreich Hannover gleichgesetzt werden. Der grundbesitzlose und verarmte Adel bleibt außerhalb der Betrachtung. Es ist aber vor allem diese Adelsgruppe – wie Heinz Reif hervorgehoben hat – sowie das Verhältnis des angesessenen bzw. verarmten alten Adels zum nobilitierten Adel und zu den Bürgerlichen, die die Brisanz der Adelsproblematik im 19. Jahrhundert ausmachen.

Der solide produzierte Band erscheint in der Veröffentlichungsreihe der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen und ist daher mit zwei Schaubildern, fünf Karten, sechzehn Graphiken, fünfundzwanzig Tabellen, Personen- und Ortsregister reichhaltig ausgestattet. Nur das Nachstellen der Vornamen in den Literaturbelegen der Fußnoten hat meine Freude an der Drucklegung getrübt. Der Band enthält außerdem einen fast zweihundert Seiten starken Anhang, der ebenso nützlicher- wie dankenswerterweise das grundlegende Material der Untersuchung dokumentiert. In diesem Anhang sind erstens die statistischen Angaben zur Rechtsqualität und Größe der landtagsfähigen Güter zusammengestellt, zweitens werden die Mitglieder der Ritterschaften der einzelnen Landschaften aufgelistet und drittens schließlich folgt eine alphabetisch geordnete Übersicht zu den Geschlechtern des ritterschaftlichen Adels.

Ulrike Hindersmann wollte den Weg des Adels in das konstitutionelle Zeitalter beschreiben. Der Eindruck, der aus ihrer so materialreich und gründlich gearbeiteten Studie nach der Lektüre übrig bleibt, ist, dass sich dieser Adel dem Angebot der Reformer weitgehend verweigert hat.

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