Titel
Einbürgern und Ausschliessen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Gosewinkel, Dieter
Reihe
Kritische Studien zur Geschichteswissenschaft 150
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Michael Esch Centre Marc Bloch, Berlin

Es ist bis in jüngster Zeit üblich gewesen, der von Rogers Brubaker 1 vertretenen Auffassung von einer grundlegenden Dichotomie zwischen französischem und deutschem Nationsmodell zu folgen: Dem französischen, republikanischen Modell, nach dem alle sesshaften Einwohner des Staatsterritoriums auch seine vollberechtigten Bürger sind, steht die ethnisch-biologische Konstruktion der Nation im preußisch-deutschen Beispiel entgegen. Dieses – hier sehr grob wiedergegebene – Grundparadigma wird in den letzten Jahren von zwei Seiten aus in Frage gestellt: Einerseits von französischer Seite aus, wo insbesondere Gérard Noiriel 2 (der sich allerdings in seinen knappen Ausführungen zum Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland ausschließlich auf Brubaker stützt) und Patrick Weil 3 die sich gemäß außen- und innenpolitischen, insbesondere ökonomischen Konjunkturen wandelnden französischen Ausschlussstrategien thematisiert haben. Andererseits von deutscher Seite aus, wo Andreas Fahrmeier 4 und Dieter Gosewinkel 5 die von Brubaker aufgestellte bruchlose Kontinuität ethnisch-biologischer Nationskonstruktion vom Deutschen Bund bis zum Nationalsozialismus in Frage stellen.

Gosewinkel legt nun seine Habilitationsschrift vor, in der er auf die vergleichende Perspektive bis auf gelegentliche Querverweise verzichtet und sich einer eingehenden, detailreichen Studie der Entwicklung des Begriffs, seiner juristischen Definition und Ausgestaltung und der folgenden Praxis der Inklusion und Exklusion widmet. Gosewinkel zeigt, wie demographische und sozioökonomische Entwicklungen – Pauperismus, Industrialisierung und Massenmigration innerhalb des Deutschen Bundes, später des Deutschen Reiches, Migration in das Deutsche Reich hinein sowie ökonomische Krisen – einen Handlungsbedarf schufen, der in mitunter langwierigen Prozessen zu einer Neudefinition der Staatsangehörigkeit sowie zu einer Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen insbesondere im Bereich der Einbürgerung (als bevölkerungspolitisches Instrument und als Migrationskontrolle) führten.

Eine eigentliche Nationalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts findet Gosewinkel – nach gescheiterten Ansätzen 1848 – ab den 1860er Jahren: In Reaktion auf die an Stärke gewinnende polnische Nationalbewegung, die sich ihrerseits gegen eine forcierte Germanisierung richtete, konstituierte sich eine deutsche Nation in zunehmendem Maße als antipolnisch, zudem als antijüdisch. Dies galt insbesondere in Preußen, das die quantitativ bedeutendsten nationalen Minderheiten beherbergte, und wo die Eingrenzung der „Unerwünschten“ die nationalpolitische und nicht primär ethnische Konnotation der Abwehrpolitik deutlich machte: Bis in die 1870er Jahre hinein war insbesondere die Einwanderung (und Einbürgerung) der bürgerlicher und intellektueller Eliten unerwünscht, während bei den übrigen „Nationalitäten“ gerade diesen Kreisen die geringsten Hindernisse bei der Einwanderung und Einbürgerung in den Weg gelegt wurden.

Entscheidende Bedeutung für den Wandel vom etatistischen zum nationalen Staatsangehörigkeitsbegriff kam der Regelung der staatlichen Zugehörigkeit in eroberten Gebieten zu: Gosewinkel zeigt, wie die Optionsregelungen und die ihnen folgende Praxis in Nordschleswig nach 1866 sowie in Elsaß-Lothringen nach 1871 letztlich die Vorstellung einer homogenen deutschen Kulturnation beförderten. Gleichwohl kam dies noch nicht einer Ethnisierung des deutschen Staatsverständnisses gleich: Gosewinkel versteht die Auseinandersetzungen um die staatliche Zugehörigkeit der Elsässer und Lothringer auch nicht als Ausdruck diametral entgegengesetzter Nationskonzeptionen (französische „Staatsnation“ vs. deutsche „Kulturnation“), sondern begreift diese „in ihrer politischen Funktion, unvereinbare politische und territoriale Ansprüche zu legitimeren“ (S. 192). Gleichwohl hält er fest, dass die Option, die ja im Prinzip das Recht der Selbstdefinition implizierte, „ihrer Wirkung nach die Festigung und das Vordringen einer auf objektive, kulturelle, auch ethnische Kriterien gestützten Nationkonzeption“ (S. 199) förderte.

In Übereinstimmung mit den Arbeiten Noiriels und Weils erklärt Gosewinkel die zunehmende Abschließung des Staatsvolkes von „Ausländern“ nicht primär mit dem Siegeszug antisemitischer und ethnisierender Nationsideen, sondern mit der Bewilligung vorher unbekannter bzw. nicht staatlich garantierter sozialer und politischer Rechte: In dem Maße, in dem Versorgungsansprüche und politische Partizipation an die Staatsangehörigkeit gebunden waren, entstand für die nunmehrigen ‚Ausländer’ eine „Enklave des Polizeistaat inmitten des Rechtsstaates“ (S. 220). Im Gegensatz zum französischen Modell, wo Territorialprinzip und Einbürgerungsanspruch ethnisch-nationalistischen Ausschlussversuchen gewisse Grenzen setzten, ermöglichte das Aufnahmeprinzip eine völlig den wechselnden politischen und ökonomischen Konjunkturen angepasste Einbürgerungspraxis: Seit der Konstituierung des politischen Antisemitismus in den 1880er Jahren ebenso wie im Rahmen der „negativen Polenpolitik“ (Zernack) wurden gegen die Naturalisierung polnischer und jüdischer Bewerber immer höhere Hürden aufgebaut – die allerdings bis 1933 nicht unüberwindlich waren. Der ethnisch-kulturell-konfessionelle Makel konnte durch wirtschaftlichen Erfolg, insbesondere aber durch die militärische Dienstverpflichtung innerhalb Preußens und des Deutschen Reiches aufgehoben werden (S. 252f.). Der ethnisch-kulturelle, ab 1911 auch rassistische Diskurs, wie er vom politischen Antisemitismus und dem Alldeutschen Verband forciert wurde, führte bis 1933 nicht zu einer Festschreibung ethnischer Diskriminierung, das Aufnahmeprinzip ermöglichte aber ethnisch-kulturelle Diskriminierungen auf der Ebene der administrativen Praxis.

Ab 1916 jedoch fand ein doppelt motivierter Paradigmenwechsel statt: Zunehmende völkisch-antisemitische Stimmungen erneuerten den Loyalitätszweifeln gegenüber Juden, parallel dazu führte die Wiederentdeckung der Russlanddeutschen und ihre Diskriminierung durch den zaristischen Staat zu einer Nationsdefinition, die sich von der Staatsangehörigkeit abkoppelte. Mit dem nun auch behördenoffiziell übernommenen Volksgruppenprinzip, das nach den Gebietsabtretungen von 1918 bis 1922 noch an Bedeutung gewann, richtete sich die Zugehörigkeit zur deutschen Nation nicht mehr ausschließlich nach der Staatsangehörigkeit, sondern in zunehmendem Maße nach objektiven Kriterien wie der (nachgewiesenen) ethnisch-kulturellen Identität.

Einen Bruch mit den tradierten Grundsätzen des Staatsangehörigkeitsrechts sieht Gosewinkel jedoch erst mit den Nürnberger Gesetzen von 1935. Zum einen bedeutete die Aufhebung individueller Freiheitsrechte eine Aufhebung der ab den 1880er Jahren entwickelten Staatsbürgerschaft, die sich in der Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft auflöste. Zum anderen betont er, dass das Rassenprinzip der Nürnberger Gesetze das traditionelle Abstammungsprinzip – innerhalb dessen eine Integration auch von Polen und Juden zwar schwierig, aber immerhin möglich war – aufhob. Diese zunächst überraschende These ist durchaus nachvollziehbar: Gosewinkel zeigt, dass das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht zwar von der Übertragung der Staatsangehörigkeit durch das Blut des Vaters ausging, dass aber die ‚Qualität’ dieses Blutes keine Rolle spielte: Wer einmal eingebürgert war, übertrug die Qualität des deutschen Staatsangehörigen auf seine Nachkommen. Ab 1935 änderte sich dies: Die Einführung einer Reichsbürgerschaft und das Verbot von Mischehen banden die Fähigkeit, die eigene Staatsangehörigkeit weiterzugeben, an das objektive Kriterium der „Volkszugehörigkeit“. Der Zweite Weltkrieg brachte eine weitere Auflösung der Staatsangehörigkeit, indem für bestimmte Kategorien von „Volksdeutschen“ und „Eindeutschungsfähigen“ die „Staatsangehörigkeit auf Widerruf“, für „Fremdvölkische“ die „Schutzangehörigkeit“ eingeführt wurde, die die Betroffenen zum disponiblen Menschenmaterial degradierte. Zigeuner und Juden hingegen verfügten über keinerlei Rechtsstatus, sie waren staaten- und rechtlos.

Gosewinkels Argumentation ist überzeugend; in Details erscheint sie allerdings weiter differenzierbar. So scheint die Reichsbürgerschaft als Konstitutionsversuch der biologisch vermittelten „Volksgemeinschaft“ von der Staatsangehörigkeit nicht genau genug getrennt. Letztere nämlich besaß – unter dem Einfluß der ansonsten höchst anpassungsfähigen Ministerialbürokratie – ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Die deutschen Juden wurden nicht einfach, wie Gosewinkel schreibt, zu Staatenlosen erklärt und dann deportiert. Vielmehr verloren sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit automatisch, sobald sie die deutsche Reichsgrenze überschritten, was mit ihrer Deportation nach Osten der Fall war. Dieses – für die Deportierten relativ unwichtige – Detail scheint mir, ebenso wie die abenteuerlichen Konstruktionen der „Staatsangehörigkeit auf Widerruf“ und der „Schutzangehörigkeit“, darauf hinzuweisen, dass bis zum Ende des Krieges eine konsequente Umsetzung des neuen Zugehörigkeitsmodells und eine vollständige Aufhebung der staatlichen Schutzverpflichtung nur mit einem juristischen Winkelzug möglich war.

Ein weiterer – ebenfalls marginaler – Kritikpunkt ist, dass Gosewinkel in der Besprechung der Einbürgerungspraxis darauf verzichtet, die Zahlen, auf die er sich bezieht, tabellarisch wiederzugeben. Auch ist es nicht unbedingt statthaft, die Einbürgerungsraten unterschiedlicher nationaler und ethnischer Gruppen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung zu messen: Dies unterstellt, dass der Einbürgerungswille – also die Rate der Einbürgerungsanträge – bei allen Eingewanderten ungeachtet ihrer geographisch-kulturellen Herkunft und sozialen Klasse gleich sei; dies ist aber insbesondere in der ersten Generation nicht der Fall. Des weiteren ist zu kritisieren, dass in der Druckfassung auf die Belegstellen längerer wörtlicher Zitate vollständig verzichtet worden ist.

Auf die Entwicklung nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland geht Gosewinkel lediglich im Schlusswort ein: Mit der Aufhebung der Nürnberger Gesetze kehrte das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland zu den Grundsätzen der Politik vor 1933 zurück: Zum Abstammungsprinzip bei der Vermittlung der Staatsangehörigkeit und dem Aufnahmeprinzip beim Erwerb trat ein Einbürgerungsanspruch für Deutsche aus den Gebieten, die infolge des Zweiten Weltkriegs verloren gingen. Es ist überraschend, dass Gosewinkel diesen Umstand zwar als „Konsequenz einer ethnisch-kulturellen Konzeption“ begreift, wie sie nach den Gebietsverlusten des Ersten Weltkriegs durchgesetzt worden war, aber gleichzeitig die Auffassung vertritt, die Bundesrepublik habe in dieser Weise „die historische Verantwortung für die Taten des nationalsozialistischen Reiches“ (S. 422) übernommen. Vom rein rechtshistorischen Standpunkt aus betrachtet mag diese These überzeugen; angesichts der Einbeziehung der BRD in den kalten Krieg, ihre Frontstellung gegen die DDR, Polen und die ČSSR und den einflussreichen Revanchismus jedoch erscheint sie zu kurz gegriffen.

Gosewinkel beschreibt die Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts als Modernisierungsprozeß, der sich weniger grundsätzlich von der Entwicklung anderer moderner Nationalstaaten unterschied als bisher vertreten worden ist. Die Studie zeigt auf der einen Seite, wie moderne Elemente wie Volkssouveränität, Gleichberechtigung der Frauen, Optionsrecht in sich ambivalent waren und sowohl liberalisierend als auch restriktiv eingesetzt werden bzw. sich auswirken konnten. Er erklärt Entscheidungen, die die spezifisch deutsche Entwicklung bestimmt haben, nicht aus einer spezifischen deutschen, aus der Romantik stammenden Nationsauffassung, sondern vielmehr überzeugend aus materiellen Bedingungen: Der Modernisierung ohne (republikanischen) Nationalstaat, dem Umstand, dass der moderne deutsche Nationalstaat eben nicht in einem bereits existierenden Staat mit eindeutigen Grenzen entstand, der Existenz organisierter nationaler Minderheiten. Dies bewirkte auch, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht, wie teilweise in Frankreich und Großbritannien, ein Instrument zur Integration und Assimilation gewesen ist, sondern ein Rechtsakt, der eine bereits vollzogene Assimilation honorierte. Das „deutsche“ an der deutschen Entwicklung erscheint nicht mehr als „Sonderweg“, sondern als Möglichkeit, die in der Entwicklung der Moderne angelegt ist und aus konkreten, historischen, politischen und ökonomischen Gründen diese und keine andere Form angenommen hat. Von dieser Basis werden künftige komparative Studien auszugehen haben.

Anmerkungen
1 Rogers Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge/Mass. 1992.
2 Gérard Noiriel, La Tyrannie du national. Le droit d’asile en Europe (1793-1993), Paris : Calmann-Lévy 1991.
3 Patrick Weil, Qu’est ce qu’un français ? Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, Paris, Grasset, 2002.
4 Andreas Fahrmeir, Nineteenth-Century German Citizenships: A Reconsideration, in: HJ 40 (1997), S. 721-752; ders., Citizens and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789-1870, New York 2000.
5 Dieter Gosewinkel, Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: J. Kocka/C. Conrad (Hgg.), Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten, Hamburg 2001, S. 48-62.

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