Titel
Mutter ledig - Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784-1910


Autor(en)
Pawlowsky, Verena
Erschienen
Innsbruck 2001: StudienVerlag
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 33.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Mesner, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Verena Pawlowsky hat ein bemerkenswertes Buch vorgelegt: In ihrer Mikrostudie befasst sie sich mit der Entwicklung des Wiener Gebär- und Findelhauses, übrigens eines der größten in Europa, von dessen Gründung im Jahr 1784 bis zu seiner Umwandlung in bzw. Ablöse durch das Niederösterreichische Landes-Zentralkinderheim zur Jahreswende 1909/1910.

Deutlich wird in Pawlowskys Schilderung die fundamentale Ambivalenz der Einrichtung Findelhaus, die es im 18. und 19. Jahrhundert in vielen europäischen Metropolen gab: Die merkantilistischen Staaten wollten auch die „Ressource“ Bevölkerung nach Kriterien der Rationalität und Effizienz verwalten. Die „Kindsmorde“, die verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit (nicht nur) der bürokratischen Eliten rückten, schienen unter diesem Blickwinkel als Verschwendung von generativen Potenzen und sollten daher in ihrer Zahl reduziert werden. Frauen, die nicht selbst für ihr Kind sorgen konnten oder wollten, konnten ihre Kinder in öffentlichen Einrichtungen abgeben und waren dann vom sozialen Makel, den ein uneheliches Kind mit sich brachte, oder von der Last, die die Versorgung eines Kindes bedeutete, befreit. Durch die Möglichkeit, eine Geburt geheim zu halten, waren daher Findelhäuser - die oft, wie zum Beispiel in Wien, auch Gebäranstalten waren - Einrichtungen, die die Wirkmacht von weithin dominanten, meist religiös geprägten Moralvorstellungen, die illegitime Geburten ablehnten, tendenziell reduzieren konnten und auch sollten, indem sie Frauen, die gegen die Moralvorstellungen verstoßen hatten, von den 'Folgen' befreiten. Dieser Ansicht waren auch die Kritiker dieser Einrichtungen: „Findelhäuser machen Findelkinder“ lautete der Vorwurf, was, so belegt Pawlowsky, auf der phänomenlogischen Ebene auch durchaus zutraf. (25) In der letzten Phase ihrer Geschichte wurden die Findelhäuser durch die Praxis, Kinder aus dem Findelhaus ihren leiblichen Müttern zur - wenn auch knapp - bezahlten Pflege zu übergeben, sogar zu Vorläufern sozialstaatlicher Transferleistungen im Fall finanzieller Bedürftigkeit der Betroffenen.

Die Praxis der Findelhäuser war aber andererseits - mehr oder weniger - von der Stigmatisierung der Frauen geprägt, die ihre Kinder einer dieser Anstalten überantworteten. Die Aufnahme der Kinder war zum Beispiel in Wien an Gegenleistungen geknüpft, weil es hier - im Unterschied zu beispielsweise französischen Findelhäusern - keine Anonymität herstellende „Drehlade“ gab, in die die Säuglinge gelegt werden konnten. Pawlowskys Schilderung macht deutlich, welche große Rolle die soziale Position der Frauen in ihrer Behandlung spielte - ein Befund, der einmal mehr darauf verweist, dass geschlechterdichotome Ansätze für die Analyse von geschlechtlichen Hierarchisierungen für viele Gesellschaften unzureichend sind: Nur Frauen, die für die Leistungen des Gebär- und Findelhauses zahlten, konnten sich einerseits der Geheimhaltung sicher sein, zum anderen waren sie von allen anderen 'Diensten', die das Gebär- und Findelhaus seinen 'Klientinnen' abverlangte, befreit. Konnte eine Frau die während des 19. Jahrhunderts ständig steigenden Gebühren nicht bezahlen, wurde sie zu verschiedenen Arbeiten im Haus oder zu einem viermonatigen Ammendienst verpflichtet - und sie musste sich für die Ausbildung von Geburtshelfern und Hebammen zur Verfügung stellen: Die 'Gratisklasse' war zugleich Klinik der Wiener Universität. Pawlowsky formuliert prägnant: „Der Geheimhaltung stand widersprüchlich eine schonungslose klinische Öffentlichkeit vor dem 'ärztlichen Blick' gegenüber.“ (98) Endgültig gebrochen wurde die Anonymität für ärmere Frauen schließlich, als sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezwungen wurden, ihre Mittellosigkeit durch offizielle Dokumente nachzuweisen. Konnten Frauen für die Aufnahme ins Gebär- und Findelhaus also nicht bezahlen - und das traf auf die überwiegende Mehrheit zu -, so wurden sie also durchaus für ihr sexuelles 'Fehlverhalten' bestraft.

Ausgangspunkt für Pawlowskys Analyse sind die Aufnahmeprotokolle der Anstalt, die praktisch zur Gänze erhalten sind, sowie deren administrative Akten, die es erst ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gibt. Der besondere Charakter der Aufnahmeprotokolle ermöglicht auf Grund der darin enthaltenen Informationen über das Pflegekind, dessen Mutter und dessen Pflegefrau gut fundierte Schlüsse auf die soziale Situation der Klientel des Findelhauses. Pawlowsky hat sich dafür entschlossen, diese Quelle quantitativ auszuwerten, und legt in das zeitliche Kontinuum drei - plausibel begründete - Schnitte: 1799, 1857 und 1888.

Diese Methode ermöglicht es Verena Pawlowsky in Kombination mit der auf breiter Basis einbezogenen wissenschaftlichen Textproduktion zum Thema, die Geschichte dieser Anstalt so in die jeweils zeithistorischen Kontexte einzubetten, dass sie als Fokus für die Geschichte der Generativität vor allem der unteren Schichten in einer mitteleuropäischen Großstadt dienen kann. Gleichzeitig macht sie deutlich, welche Beiträge eine so fundiert quellenbasierte, am Fallbeispiel orientierte Analyse etwa zu den gegenwärtig geführten Diskussionen um die historische Kontingenz von 'Mutterliebe' oder zur Sexualitätsgeschichte allgemein leisten kann. Die Sinnhaftigkeit einer auf europäischer Ebene vergleichenden Herangehensweise lassen sich für den Leser oder die Leserin durch die Querbezüge, die Pawlowsky immer wieder zu ähnlichen Institutionen in anderen Städten herstellt, erahnen, auch deshalb, weil Pawlowsky sich auf den bloßen Verweis auf Parallelitäten beschränkt und damit die Frage nach Erklärungen und möglicherweise zu ziehenden Schlüssen offen lässt.

Gerade angesichts der vielfältigen Querverweise, die Pawlowsky immer wieder gibt, fällt eine Lücke besonders ins Auge: In Marita Metz-Beckers 1997 erschienener Studie „Der verwaltete Körper“ [1] zur „Medikalisierung schwangerer Frauen“ nimmt die von Gewaltbeziehungen geprägte Ausbeutung der Frauen(-körper) durch eine sich gerade etablierende männliche Fortpflanzungsmedizin breiten Raum ein. Diesem Aspekt misst Pawlowsky wenig Gewicht bei: Sie verweist zwar darauf, dass das „Wiener Gebärhaus ein eindringliches Beispiel für die Durchsetzung der männlichen Geburtshilfe“ sei, und erwähnt die hohen Sterblichkeitsraten durch Kindbettfieber. (96) Auch schildert sie, dass die Frauen häufigen Untersuchungen ausgesetzt waren, die nur Ausbildungszwecken dienten, und dass sie gezwungen wurden, unter dem beobachtenden Blick von Studierenden zu gebären. Von medizinischen Experimenten etwa, die häufig (und absehbar) zum Tod der so 'Behandelten' führten, erzählt sie aber beispielsweise nicht: Es bleibt offen, ob solche Praktiken, die bei Metz-Becker, die sich vor allem auf Marburg bezieht, breiten Raum einnehmen, auf Grund der Quellenbasis nicht in Pawlowskys forschenden Blick kommen oder ob sie in Wien tatsächlich seltener bzw. kaum vorkamen, weil das Wiener Gebärhaus auf Grund der Haltung seines ersten medizinischen Leiters Lucas Johann Boër „in der Anwendung künstlicher Mittel relativ zurückhaltend“ (96, Fn. 52) war.

Die von dem Findelhaus ausgehende Studie kann über ihr eigentliches Thema hinaus vor allem sozialhistorisch Relevantes aussagen über die Migration nach Wien, das während des 19. Jahrhunderts zu einer Metropole des industriellen Zeitalters wurde. Die Arbeits- und Lebensbedingungen, der Alltag jener, die vor allem als Dienstboten in die Hauptstadt der Habsburger Monarchie zogen, kommen in den Blick. Es lassen sich die Lebenswelten vor allem der Frauen erahnen, die meist aus ländlichen Gebieten in die Stadt wanderten. Es finden sich Spuren ihrer Versuche, dort in einer Umgebung zu Rande zu kommen, in der oft andere Regeln und Normen als in den Orten ihrer Herkunft galten. Ihre Lage wurde durch das Fehlen der sozialen Netzwerke, die dort das Leben reguliert, aber auch berechenbar gemacht hatten, nicht gerade leichter. Das Gebär- und Findelhaus bot in den prekären Situationen, die so entstanden, oft die einzige Anlaufstation für diese Frauen, wenn sie schwanger waren, ihre soziale und materielle Situation aber die Betreuung eines Kindes nicht zuließ. Damit gerieten sie in den Bereich einer Bürokratie, die die Spuren ihrer Aktivität und damit diesen Teil der individuellen Biographien der Historiographie zugänglich machte.

Ein kritischer Blick auf Verena Pawlowskys Arbeit macht sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen eines sozialhistorischen quantifizierenden Ansatzes deutlich: Einzelne Menschen können nur ganz selten in den Blick kommen, ihre Lebensläufe verbergen sich in aggregierten Tabellen. Manche der ausführlich angeführten Zahlenreihen - es sei an dieser Stelle auf den umfangreichen und informativen Anhang verwiesen - scheinen in keine nachvollziehbare Richtung zu weisen. Vielleicht wäre in solchen Fällen eine Straffung möglich und sinnvoll gewesen: Es genügt beispielsweise aus meiner Sicht der durchaus interessante Hinweis, dass sich in Bezug auf Überlebensraten der Pfleglinge keine geschlechtsspezifischen Unterschiede feststellen lassen - die entsprechenden Zahlen sind dann im Detail verzichtbar. Generell hätte dem Buch eine punktuelle Straffung an den Stellen des Textes gut getan, die zu deutlich an seinen ursprünglichen Charakter - das Buch entstand aus der Dissertation Pawlowskys, die den formalen Kriterien einer akademischen Qualifikationsarbeit zu folgen hatte - erinnern, der Text wirkt dadurch manchmal etwas zu weitschweifig. Allerdings ist es vielleicht auch gerade dieser Weitschweifigkeit zu verdanken, dass die Leserin oft unerwartete, aber erfreuliche Einsichten gewinnt zu Fragen der Medizingeschichte beispielsweise, oder auch verschiedenen Aspekten der Alltagsgeschichte, wie etwa den Ernährungsgewohnheiten von städtischen Unterschichten.

Anmerkungen
1 Marita Metz-Becker, Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1997.