B. Holtz; H. Spenkuch: Preußens Weg

Titel
Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung - Verwaltung - politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade


Herausgeber
Holtz, Bärbel; Spenkuch, Hartwin
Reihe
Berichte und Abhandlungen, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Sonderbd. 7
Erschienen
Berlin 2001: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ewald Frie, Fachbereich 1 Fachgruppe Geschichte, Universität/GH Essen

„Einen gewissen Kontrapunkt zum medialen Großereignis ‘300 Jahre preußische Königskrönung’ 1701/2001“ wollten sie setzen, knurren Bärbel Holtz und Hartwin Spenkuch in ihrem Vorwort. Statt auf Erinnerungspuzzles, Mythen, Tugenden und Landesbewußtseinsstiftung setzten sie auf ein „fachwissenschaftlich profundes Profil“ (X). Dafür bringen die beiden als Editoren der Protokolle des Preußischen Staatsministeriums der Jahre 1817-1934/38 die besten Voraussetzungen mit. Im Dezember 2000, anläßlich des hundertfünfzigsten Jahrestages der preußischen Verfassung vom 31.1.1850, haben sie in Berlin vor allem jüngere Forscherinnen und Forscher mit frappierenden Quellenkenntnissen zu einem Kolloquium versammelt. Herausgekommen ist ein hier zu rezensierender blauer Block.
Die von den Herausgebern einleitend vorgestellte Leitfrage nach Preußens Weg in die politische Moderne, nach Reformbereitschaft und Reformblockade, ist nicht übermäßig originell. Aufs Ganze gesehen sind bündige Antworten auch nur schwer zu formulieren. Zu groß sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Themenfeldern (25), zu groß die regionalen Unterschiede innerhalb Preußens (26), zu sehr auch mischen sich jeweils „Reformchancen, mehrschichtige Wandlungsprozesse und blockierte Reformen“ (24). Nicht in der Summe, sondern in den Einzelteilen liegt das Gewicht des Bandes. Die vierzehn Beiträge, sortiert in drei chronologische Blöcke (1815-1848/49, 1850-1879, 1879-1925) regen eigenständig zur Diskussion und zu weiteren Forschungen an.

Besonders gilt dies für Aufsätze, die das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts behandeln, die Jahre zwischen Revolution und vollendeter Reichsgründung. Rainer Paetau arbeitet „das Reformpotential des monarchischen Konstitutionalismus“ (169) während der Neuen Ära 1858-1862 heraus. Die Verfassung von 1850 enthielt Anknüpfungspunkte für eine Konstitutionalisierung, die die Altliberalen behutsam nutzen wollten. Doch dann trieb die Eigendynamik der Politik - Italienkrieg und Heeresreform - die Altliberalen zur Eile und entfremdete ihnen gleichzeitig den König. Als der Heeres- zum Verfassungskonflikt eskalierte, blieb alles stecken. Die Erbitterung der Jahre 1862-1865/66 erklärt sich erst vor dem Hintergrund des verhinderten reformerischen Aufbruchs.

Daß die Neue Ära mehr als ein Intermezzo war, betont mit ganz anderen Argumenten auch James M. Brophy. Die wirtschaftsliberale Politik dieser Jahre bestärkte die Industriellen in ihrem seit dem Vormärz gehegten Glauben, daß nur Preußen ökonomischen Fortschritt garantieren konnte. Im Verfassungskonflikt warteten rheinische und schlesische Unternehmer daher zunächst einmal ab, anstatt die Opposition tatkräftig zu unterstützen. Als sich abzeichnete, daß Bismarck die wirtschaftsliberalen Traditionen hochhalten würde, versuchten Hansemann, Bleichröder, Mevissen, Heydt und auch Krupp mit dem Gouvernement der Lückentheorie ins Geschäft zu kommen. In der Wirtschaftspolitik der Jahre 1858-1866 liegt nach Brophy eine Erklärung dafür, „why the bourgeois social group came to support Prussian conservatism“ (196).
Patrick Wagner ist der Ausreißer des Bandes. Sein Aufsatz über „Landräte, Gutsbesitzer, Dorfschulzen. Zum Wandel der ‘Basisposten’ preußischer Staatlichkeit in Ostelbien im 19. Jahrhundert“ argumentiert sozial- und kulturgeschichtlich von der regionalen und lokalen Ebene her. An Beispielen aus Mittelschlesien, Ost- und Westpreußen zeigt er, daß die ländlichen Herrschaftsbeziehungen sich im 19. Jahrhundert stark verändert haben. Von einer ungebrochenen ‘Junkermacht’ kann keine Rede sein. Vielmehr erodierten die tradierten Herrschafts- und Partizipationsorganisationen in der ersten Jahrhunderthälfte infolge der Agrarreformen. Von weit überschätzten Ausnahmefällen der stabilen Herrschaft eingesessener Adelsfamilien abgesehen verloren die Rittergutsbesitzer das Interesse an traditionalen Herrschaftsrechten, die unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wenig Sinn machten. Und auch in den Dörfern paßten die überkommenen Partizipationsstrukturen nicht mehr zu den ökonomischen Differenzierungen der Bauern. Nach 1850 wurden Herrschaft und Partizipation reorganisiert. Die Rittergutsbesitzer verloren ihre exklusiven Rechte an eine über Besitz definierte Schicht, von der sie nur noch ein Teil waren. Die Landräte wuchsen aus der vielbeschworenen „Rittergutsbesitzerklasse“ heraus, wurden zu einer Art „Kreis-Patron“ (280). Sie konnten der regionalen Oberschicht entstammen, mußten es aber nicht. Entscheidend war, ob sie einerseits den Anforderungen des ausgreifenden Interventionsstaates gewachsen waren, andererseits dessen infrastrukturellen und sozialen Angebote in ihren Kreis hinein übersetzen und in für die Regierung günstige Wahlergebnisse rückübersetzen konnten. Die so „neuformierte Herrschafts- und Partizipationsordnung“ (280) wurde in den 1890er Jahren stabil.

Fast so sehr wie Wagner steht Martin Friedrich thematisch am Rande des Buches, und kann daher für überraschende Perspektiven sorgen. Er beschreibt die preußische Landeskirche im Vormärz eher als Geschichte der Kirchwerdung denn als zweite Konfessionalisierung und arbeitet heraus, daß sowohl beim König als auch beim zuständigen Minister durchaus Reformpotential vorhanden war. Kommunikationsblockaden und das durch den Dauerstreit zwischen Rationalisten und Orthodoxe verminte Interventionsfeld verhinderten jedoch eine wirkliche Kirchenreform. Parallelen zur politischen Geschichte des Vormärz liegen auf der Hand und werden von Friedrich auch angesprochen.

Die übrigen Beiträge halten sich im Rahmen einer modernen Politik- und Verwaltungsgeschichte. Ursula Fuhrich-Grubert untersucht Selbst- und Fremdbilder des Oberpräsidenten Theodor von Schön. Magdalena Niedzielska behandelt die geistesgeschichtlichen Implikationen von Rechtsstaatsdiskussion und Verfassungsverlangen in der Provinz Preußen 1800-1848. Christina Ratgeber wirft, ausgehend von Kompetenzkonflikten zwischen Verwaltungs- und Justizbehörden, Schlaglichter auf Grundprobleme der Entstehung moderner Staatlichkeit. Bärbel Holtz legt die internen Debatten in der preußischen Regierung der 1840er Jahre zur Verfassungsfrage frei. Ihr Beitrag ergänzt und bespiegelt die Erkenntnisse Norbert Friedrichs. Volker Stalmann präsentiert seine Erkenntnisse über die Freikonservative Partei der Reichsgründungszeit. Andreas Thiers Aufsatz ist deswegen besonders wichtig, weil er die preußische Steuergesetzgebung in die geschichtswissenschaftliche Debatte einbringt. Im internationalen Vergleich kann Preußen hier durchaus bestehen, ja „in der Steuerpolitik hatte Preußen am Ende des 19. Jahrhunderts endgültig den Weg in die Moderne gefunden“ (320). Hartwin Spenkuch stellt die gescheiterten Anläufe zur preußischen Verwaltungsreform 1908-1918 vor. Marcus Llanque untersucht, wie die Historiker die preußischen Reformen in die politische Debatte des ausgehenden Kaiserreichs einbrachten. Reinhold Zilch betont, daß der Übergang vom Kaiserreich in die Republik durch die in ihren Ämtern verbleibende Ministerialbürokratie erleichtert wurde. Sie arbeitete nicht nur effizient, sondern verfügte auch in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen über erhebliches Fachwissen, daß sie den Reformdebatten des ausgehenden Wilhelminismus entnahm. Ludwig Richter schließlich behandelt das viel diskutierte Reich-Preußen-Problem der Jahre 1918-1925. Es sei zwar spannungsgeladener gewesen als bisher angenommen. Doch habe das sozialdemokratische Preußen die Stabilität des Reiches bis 1925 nicht bedroht.

Den Aufsätzen vorangestellt ist ein öffentlicher Vortrag des Altmeisters Rudolf von Thadden über Kirche und Politik in Preußen im Jahre 1933. Insgesamt ergibt sich damit ein heterogenes Bild, das nicht zuletzt der Forschungslage geschuldet ist. „Für die innere Entwicklung Preußens, besonders zwischen 1806 und 1848, aber auch später, stehen nach der Rückverlagerung der Archivalien nach Berlin erst ansatzweise ausgeschöpfte Quellenbestände zur Verfügung“ (26/27), heißt es einleitend. Der von Bärbel Holtz und Hartwin Spenkuch herausgegebene Band versammelt Autorinnen und Autoren, die mitten in den neuen Quellen arbeiten. Was der neue Forschungsanlauf bringen kann, wird deutlich. Bis zur Synthese ist noch ein weiter Weg.

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