Titel
Lies Across America. What Our Historic Sites Get Wrong


Autor(en)
Loewen, James W.
Erschienen
New York 2000: Simon & Schuster
Anzahl Seiten
$ 15.00
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Zeller

Das riesige Denkmal für Abraham Lincoln, das sich im Zentrum von Washington D.C. erhebt und zu den Heiligtümern der amerikanischen Nation gehört, memoriert den 1865 ermordeten Präsidenten in seiner Hauptinschrift als Retter der staatlichen Einheit. Damit verschweigt die Inschrift des 1922 eingeweihten Monuments, wofür bis heute der Name Lincolns vor allem auch steht: für die Abschaffung der Sklaverei. Den Kampf Lincolns für die Befreiung der Sklaven und für die Bürgerrechte der Afro-Amerikaner explizit zu erwähnen, war jedoch zu der Zeit, als sich das weiße Amerika längst wieder zusammengeschlossen hatte, um seine Vorherrschaft über die Schwarzen zu behaupten, nicht mehr opportun.

Während das Schweigen darüber alte Wunden zwischen den ehemaligen Gegnern des Bürgerkrieges, den Nord- und Südstaaten, nicht wieder aufreißen sollte, wird bei dem nicht weit entfernt stehenden, aus dem Jahr 1943 stammenden Denkmal für Präsident Thomas Jefferson der Eindruck erweckt, als sei dieser ein strikter Gegner der Sklaverei gewesen - was historisch jedoch unzutreffend ist. Vielmehr war Jefferson selbst Sklavenhalter, der sich in seinen Schriften höchst widersprüchlich zur Institution der Sklaverei geäußert hat, der mit zunehmenden Alter sogar für die Erweiterung der Sklaverei eintrat.

Der Soziologe James W. Loewen unternimmt mit seinem provokativ betitelten Buch „Lies across America“ eine Tour de force durch die amerikanische Erinnerungskultur. Sein Blick richtet sich keineswegs nur auf solche prominenten Denkmäler in der US-Hauptstadt, sondern auf die gesamte USA, von Montana im hohen Norden bis New Mexico im Süden, von der West- bis an die Ostküste, eingeschlossen Alaska und Hawaii. Loewen, der Race Relations an der Universität von Vermont lehrte und bereits mit seinem Buch „Lies my teacher told me“ einen Bestseller landete - er nimmt darin die us-amerikanischen Schulgeschichtsbücher kritisch unter die Lupe -, bezieht alle Formen der im öffentlichen Raum errichteten Monumente in seine Untersuchung ein, so (Reiter-)Standbilder, historische Texttafeln (so genannte Historical Markers), unter Denkmalschutz gestellte Bauten, Outdoor-Museen und historische Schiffe bis hin zu Namensgebungen, mittels derer Geschichte in die Landschaft eingeschrieben wird. Auf über eine halbe Millionen schätzt der Autor die Zahl der in den USA stehenden konventionellen Denkmäler und Texttafeln. Rund hundert hat er sich herausgegriffen, ein zwar nur verschwindend kleiner Teil des umfangreichen Denkmalbestandes, gleichwohl beansprucht er, durchaus repräsentative Aussagen machen zu können.
Alles in allem kommt Loewen zu einem niederschmetternden Ergebnis: Die amerikanische Erinnerungskultur ist weithin geprägt von Amnesie und Fälschungen, da wird beschönigt und verschwiegen, dass der Leser aus dem Staunen nicht herauskommt. Denn es sind vor allem die Vertreter und Gruppierungen der weißen Mehrheitsgesellschaft gewesen, die als Denkmalstifter auftraten. Sie verhalfen damit dem eigenen Geschichtsbild zur Durchsetzung, einem Geschichtsbild, das der angemaßten Dominanz im Lande die nötige Legitimation verschaffen sollte.

Und so zeigt sich die Memorierung der ethnischen Minderheiten im Medium Denkmal in vielen Fällen als überaus problematisch. Die ursprünglichen Bewohner des nordamerikanischen Kontinents, die „Indianer“, werden meist entweder nur als Aggressoren oder als „edle Wilde“ dargestellt. Denkmalwürdig sind „gute Indianer“ wie Massasoit, der die „Pilgerväter“ nach ihrer Ankunft 1620 in der Neuen Welt tatkräftig unterstützte. Dabei macht Loewen auf die stereotypen Indianerbilder aufmerksam; die in Bronze oder Stein ausgeführten Statuen zeigen diese stets nur mit einem Hüfttuch und Federschmuck bekleidet. Solcherart klischeehafte Ikonographie ignoriert die unterschiedlichen Traditionen auch und gerade in der Bekleidung, die in den einzelnen Kulturen bestanden haben. Die exotisierende Nacktheit wurde mit „Primitivität“ gleichgesetzt, dem Gegenbild zur „Zivilisation“, die die Weißen für sich selbst beanspruchten. Skandalös sind - Feindbilder zementierende - Texttafeln wie jene von Almo/Idaho, die an ein „schreckliches indianisches Massaker“ an weißen Einwanderern im Jahre 1861 erinnert, ein Massaker, das nachweislich nie stattgefunden hat.

Kaum Erwähnung im öffentlichen Erinnerungsraum finden die Afro-Amerikaner, es sei denn als loyale Sklaven. Der wohl krasseste Fall ist die Figur des „Good Darky“ in Natchitoches/Louisiana. Das Monument, errichtet 1927 von weißen Südstaatlern für die „treuen Schwarzen“, zeigt die lebensgroße Figur eines sich servil gebenden „Negers“. Die Funktion dieses und ähnlicher Denkmäler sollte die - von den Schwarzen angeblich nicht in Frage gestellte - Vorherrschaft und vermeintliche Überlegenheit der weißen Anglo-Amerikaner symbolisieren.

Denkmäler wie dasjenige des „Good Darky“ sollten nicht zuletzt Vergessen machen, dass während des amerikansichen Bürgerkrieges 180.000 Afro-Amerikaner auf Seiten der Unionisten und damit gegen die Sklaverei kämpften. In ganz Louisiana, wie übrigens in allen anderen Bundesstaaten im Süden der USA, bleiben sie ohne jede denkmalkünstlerische Ehrung - das Bild des selbstbewusst für seine Rechte eintretenden Schwarzen würde auch der (zum Teil bis heute) postulierten Hierarchie der „Rassen“ widersprechen.

Es sind besonders die blinden Flecken der amerikanischen Denkmallandschaft, denen Loewen nachspührt. Er weist darauf hin, dass allein ein Bundesstaat wie Texas mit über 12.000 historischen Texttafeln auf seinen Straßen und Plätzen aufwarten kann – und zwar für jedes noch so nichtige Ereignis. Erinnert werden aber nur die „guten Seiten“ der Geschichte. Ausgeblendet werden dagegen Vorkommnisse wie zum Beispiel die exzessiven Gewaltausbrüche während der „Reconstruction“-Phase (1865-1877), also den ersten Jahren nach dem Ende des Sezessionskrieges, in der es zu hunderten von Lynchmorden weißer Rassenfanatiker an Schwarzen gekommen war. Kaum verwunderlich ist zudem, dass Sklavenrevolten, wenn sie überhaupt Erwähnung finden, lediglich in wenigen dürftigen Worten in den Inschriften vermeldet werden.

Lang ist die Liste weitere Denkmalsetzungen, die der Autor einer schneidenden Kritik unterzieht. Den zahllosen, von neokonföderierten Kreisen errichteten Bürgerkriegsdenkmälern wirft er Geschichtsklitterung vor. Für die Südstaatler bzw. deren Traditionsverbände dienten die Denkmäler keinesfalls nur dem Gefallenengedenken, sondern in erster Linie der Propagierung ihrer antihumanistischen und rassistischen Ideologie; viele Denkmalinschriften verklären den Kampf für die Beibehaltung der Sklaverei und Abspaltung der Südstaaten von der Union als „Kampf für die Rechte der Bundesstaaten“ gegenüber der Zentralregierung in Washington.

In Frage gestellt wird die Auswahl der Personen, denen Denkmäler gesetzt wurden: Warum Nathan Bedford Forrest gleich mehrere Denkmäler in Tennessee erhielt, der als erster Führer des berüchtigten Ku Klux Klan einer der schlimmsten Rassisten in der Geschichte Amerikas war, hingegen Ehrungen für die wirklichen Helden des Landes ausblieben, so etwa für John Prentiss Matthews, der seinen Kampf gegen den Rassismus 1883 mit dem Leben bezahlte, darüber äußert Loewen zu Recht sein Unverständnis.

Erinnerungsstätten wie das im Hafen von Philadelphia liegende, als Museum dienende U-Boot Becuna werden von ihm bissig „feel-good-museum“ genannt. Denn mit keinem Wort wird jene schmutzige Kriegsführung der amerikanischen U-Boot-Flotte problematisiert, die in den Jahren 1941-1945 über 1000 japansiche Zivilschiffe ohne Vorwarnung - wie es die Kriegskonventionen vorsehen - versenkte. Dabei hatte die USA rund zweieinhalb Jahrzehnte zuvor (April 1917) ihren Kriegseintritt gegen das Deutsche Reich vor allem mit dessen unerklärten U-Boot-Krieg gegen die zivile Schifffahrt begründet.

Durch Halbwahrheiten zeichnen sich auch die Gedenkstätten für Mark Twain in Hannibal/Missouri und Helen Keller in Tuscumbia/Alabama aus. Diese beiden - nur für ein weißes Publikum aufbereitete - Indoor-Museen unterlassen es, die ganze Geschichte der beiden Persönlichkeiten zu erzählen. Dies hätte bedeutet, die stets sozialkritische Haltung des großen Amerikanischen Schriftstellers Twain angemessen zu berücksichtigen und damit auf die Sklaverei einzugehen, die den historischen Hintergrund seiner Bücher bildete. Und die berühmte Sozialreformerin Keller wird in der Ausstellung nicht als das präsentiert, was sie war: eine radikale Sozialistin, die ein Leben lang für Behinderte, Gewerkschaften, Gerechtigkeit für alle Bevölkerungsgruppen und Frauenrechte kämpfte.

Loewen unterbreitet schließlich eine ganze Reihe von Gegenvorschlägen, d.h. er gibt Anregungen zur Umwidmung oder Ergänzung bestehender Denkmalsetzungen, um der allzu oft anzutreffenden Verdrängung und Legendenbildung entgegenzuwirken. Er fordert, den Denkmälern nicht mit falscher Ehrfurcht gegenüberzutreten, sondern sie vielmehr als Herausforderung zu begreifen, die, wenn nötig, auch der Korrektur bedürfen. So plädiert er in dem Kapitel „Celebrating Genocide“ für die Umbenennung der „Jeffrey-Amherst-Buchhandlung“ in der Stadt Amherst in Massachusetts, benannt nach keinem geringeren als dem Armeeoffizier Jeffrey Amherst, dem der zweifelhafte Ruhm zukommt, Erfinder der biologischen Kriegsführung gewesen zu sein - dieser hatte 1763 mit Pocken verseuchte Decken an aufständische Indianer verteilt und dadurch deren massenhaften Tod verursacht. Der Buchladen hätte es vielmehr verdient, nach der in der Stadt geborenen Helen Hunt Jackson benannt zu werden. Jackson, die ihr Leben den entrechteten Indianern widmete, hatte neben anderen engagierten Schriften 1884 das Buch „Ramona“ veröffentlicht, dem neben „Onkel Toms Hütte“ populärsten Roman im Amerika des 19. Jahrhunderts. Da (das weiße) Amerika seinen Städten und Landschaften im Zeitalter des Imperialismus seine Namen gab, finden sich überall Namen von Imperialisten. „Alle ‚Amhersts‘ umzubenennen“, so Loewen, würde zeigen, „dass wir nicht länger einen Mann für sein völkermörderisches Tun ehren“.

Bei aller - wohlbegründeten - Kritik gegenüber der amerikanischen Erinnerungskultur, versäumt es der Autor nicht, auch gelungene Denkmäler zu erwähnen wie das Shaw-Denkmal in Boston, gewidmet dem weißen Offizier Robert Gould Shaw und den schwarzen Soldaten seines 54. Massachusetts-Regiments, die ihr Leben im Bürgerkrieg verloren.

Der Soziologe Loewen, dem ein Rezensent den ehrenvollen Titel einer „Ein-Mann-Wahrheitskommission“ verlieh, belegt mit seiner engagierten Studie einmal mehr die These, dass Denkmäler keine „steinernen Zeugen der Vergangenheit“ sind, geben sie doch mittelbar Auskunft über die vergangene Wirklichkeit, der sie gewidmet sind. Vielmehr sind sie unmittelbare Dokumente des Geschichtsbewusstseins der Denkmalsetzer und damit des kulturellen Gedächtnisses ihrer Entstehungszeit. Als perspektivisch gefärbte Erinnerungsträger dienen Denkmäler mehr der Interessendurchsetzung ihrer Erbauer, statt dem Erkenntnisgewinn der Rezipienten. Abzuwarten bleibt, wie die Mahnmale ausfallen werden, die wohl in den nächsten Jahren für die Opfer der verheerenden Terroranschläge von New York und Washington errichtet werden, Mahnmale, die eine große Herausforderung für die Künstler sein werden.

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