Titel
Wilhelm II.. Der Aufbau der persönlichen Monarchie


Autor(en)
Röhl, John C. G.
Erschienen
München 2001: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
1437 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Universität Essen FB 1 - Geschichte 45117 Essen

Der britische Historiker John C.G. Röhl kann sicherlich als der profundeste Kenner der Person Wilhelms II. gelten. Aus seiner langen und intensiven Beschäftigung mit dem letzten deutschen Kaiser und dessen Herrschaftsweise ist jetzt der zweite Band einer groß angelegten Biographie erschienen. Der erste Band widmete sich 1993 der Kindheit und Jugend des Prinzen. Darin lernten wir den deutschen Thronfolger als eine narzisstisch gestörte Persönlichkeit kennen: Egozentrisch und aufbrausend, rastlos und impulsiv, gefühlskalt und taktlos, mit einem Hang zu Uniformen, theatralischen Gesten und donnernder Rhetorik, empfänglich für Schmeicheleien und unfähig zu konzentrierter Arbeit. Der zweite Band der Biographie bestätigt all das aufs Neue und zeigt überdies die politischen Auswirkungen dieser Charaktereigenschaften auf.

Der imposante Umfang resultiert aus Röhls Vorliebe fürs extensive Zitieren. Dahinter steckt eine methodische Vorgehensweise, die er selber als „quellennahe Darstellungsform“ (18) bezeichnet. Sie erscheint ihm geeignet, ja geboten, um den Leser von seiner Auffassung über Wilhelm II. zu überzeugen. Nur eine Rückkehr zu den ursprünglichen Quellen könne helfen, Person und Herrschaftsweise in der deutschen Geschichte zu verorten. Röhl wendet sich gegen aktuelle hagiographische Urteile (Nicolaus Sombart) wie auch gegen die Strukturgeschichte und ihren Versuch der Marginalisierung Wilhelms zum bloßen „Schattenkaiser“ (Hans-Ulrich Wehler). Für Röhl hingegen war er die Schlüsselfigur auf dem fatalen Weg von Bismarck zu Hitler. Er etablierte gegen den Zeitgeist einer modernen Industrie- und Massengesellschaft und im Unterschied zu den meisten europäischen Monarchien ein halbabsolutistisches monarchisches Herrschaftssystem.

In Jahrzehnte langer Forschungsarbeit hat sich eine Nähe zum Forschungsgegenstand eingestellt, die in einem Positivismus der besonderen Art zum Ausdruck kommt. Röhl erscheinen die Bewohner des Wilhelminischen Kaiserreiches – wie er bekennt – „vertrauter (...) als meine eigenen Zeitgenossen“ (15), und er wünscht gar anlässlich einer Zusammenkunft deutscher Seeoffiziere während des Englandbesuchs Wilhelms 1889 er „hätte (...) damals als Fliege an der Wand den nächtlichen Gesprächen (...) lauschen dürfen!“ (131). Dieser Vorgehensweise und Haltung entspringt mehr eine Stoffsammlung als eine analytische Biographie. Zugleich wird aber auch eine beeindruckende Fülle an bislang unbekannten oder unzureichend erschlossenen Quellen präsentiert: Die Tagebücher des langjährigen väterlichen Mentors Wilhelms II. Alfred Graf von Waldersee, die erstmals im Original ausgewertet werden; die Korrespondenzen des deutschen Kaisers mit seinen englischen Verwandten aus den Royal Archives in Windsor Castle, aus denen die eigentümliche Hassliebe zu England hervorgeht; der Nachlass der Mutter, die eine hellsichtige Interpretin des Verhaltens ihres Sohnes war und die von Bismarck sekretierten Marginalien an diplomatischen Berichten, die das monarchische Überlegenheitsgefühl Wilhelms und sein absonderliches Interesse am Intimleben anderer Regenten aufzeigen.

Das Hauptthema des zweiten Bandes stellt der Aufbau des persönlichen Regiments dar, welches Wilhelm II. von Beginn an anstrebte und Schritt für Schritt realisierte. Die Darstellung setzt mit dem Machtkampf zwischen dem jungen Monarchen und dem alternden Reichskanzler Bismarck ein, in dem Wilhelm dank der Bismarckschen Konstruktion des Deutschen Reiches am längeren Hebel saß. War das Prinzip des regierenden Monarchen unter Wilhelm I. nur Fiktion, so nahm dessen Enkel es nun wörtlich und setzte es gegen den Reichsgründer ein. Unmittelbar nach der Thronbesteigung gestaltete er den Hofstaat um und besetzte Schlüsselpositionen mit zuverlässigen Gefolgsleuten als Basis für eine gezielte Demontage Bismarcks. Unter dessen Nachfolger Leo von Caprivi fand im „Dualismus der Macht“ zwischen Monarchen und Reichsleitung eine allmähliche Verschiebung zugunsten des Kaisers statt. In diese Zeit datiert der Beginn der willkürlichen Eingriffe in die Politik, die mit der Ernennung von Ministern und Staatssekretären ohne Rücksprache mit dem Kanzler einhergingen. Unter dem betagten Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, den Wilhelm respektlos duzte und mit „Onkel“ titulierte, nahm die Demontage des Kanzleramtes ihren Fortgang. Ab 1897 befand sich der deutsche Kaiser auf dem Höhepunkt seiner Macht: Er war „sein eigener Reichskanzler“ (968) und konnte innen- und außenpolitisch handeln wie er wollte. Mit Bernhard von Bülow als Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Alfred Tirpitz im Marineamt konnte er seine gefährlichen weltpolitischen Ambitionen und Flottenbaupläne durchsetzen, die das Deutsche Reich international zunehmend in die Isolation trieben.

Zur Charakterisierung der spezifischen Funktionsweise des Persönlichen Regimentes zieht Röhl den von Norbert Elias geprägten Begriff des „Königsmechanismus“ heran. Voraussetzung für die Etablierung am königlichen Hofe war es demnach, das Vertrauen des Kaisers zu gewinnen. Der Dunst von Intrigen, Pöstchenschachern und „süßlichem Byzantinertum“, in dem der Jugendfreund Wilhelms Philip von Eulenburg eine zentrale und nach Röhl verhängnisvolle Rolle einnahm, wird eindrucksvoll beschrieben. Auch treten all die negativen, bisweilen pathologischen Charakterzüge des Monarchen scharf hervor, der als Mensch und Familienoberhaupt vorgeführt wird. Doch die Perspektive ist all zu sehr auf die Person Wilhelms und die höfisch-dynastische Welt verengt. Gesellschaftliche Strukturen und politische Kräfteverhältnisse werden dabei ausgeblendet: die Rolle des Reichstages und der Parteien, der Interessenverbände und nationalistischen Agitationsvereine, der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Presse. Von einer überzeugenden Biographie lässt sich eine Einbettung der Person in die Strukturen erwarten. Zu Recht lässt sich gegen die Strukturgeschichte einwenden, dass Wilhelm II. mehr war als ein Schattenkaiser, aber er bildete auch nicht – wie Röhl es auffasst – das Zentrum deutscher Politik im Kaiserreich. Fragwürdig erscheint auch der Versuch, gleichsam mit den Mitteln der historischen Forschung eine medizinische Indikation liefern zu wollen. So spricht nach Röhl als Ursache für die oft wunderlichen Charaktereigenschaften Wilhelms, die schon seine Zeitgenossen wahrgenommen haben, eine seltene Stoffwechselkrankheit namens Porphyrie, die das englische Königshaus in die Hohenzollernfamilie eingeschleppt haben soll. Diese war mit schmerzhaften körperlichen Symptomen und Anfällen von geistiger Verwirrung verbunden. Kann Röhl ersteres nicht nachweisen, so dient ein Fülle von Zitaten, die den Geisteszustand des Monarchen aufzeigen sollen und sich wie ein roter Faden durch die Darstellung ziehen, als Beleg für letzteres – bis die endgültige Klärung mittels einer DNA- Analyse möglich sein wird! Ob nun verrückt oder nicht: Übersteigerter Nationalismus, Militarismus, Kolonialismus und nervöse Überspanntheit können als typische Merkmale einer Zeit gelten, die Elemente des alten Feudalstaat und einer modernen industriellen Massengesellschaft in sich trug. Ein gerüttelt Maß an Verrücktheit war Signatur der Epoche.

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