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Titel
Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handels in mittelalterlicher Literatur


Autor(en)
Dörrich, Corinna
Reihe
Symbolische Kommunikation in der Vormoderne
Erschienen
Anzahl Seiten
VII + 222 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Ertl, Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin

Die Erforschung des mittelalterlichen Ritualismus zählt zu den aktuellen Forschungsschwerpunkten der deutschsprachigen Mediävistik. Eine Zwischenbilanz, die Gerd Althoff kürzlich mit dem Sammelband „Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter“ vorlegte 1, offenbart Stärken und Schwächen dieser Richtung. Erstmals wurde – insbesondere im Bereich politischer Herrschaft – die Bedeutung nonverbaler Kommunikation erkannt und entsprechend gewürdigt. Ergebnis ist ein neuer Zweig der Verfassungsgeschichte. Der Erfolg machte das Forschungsfeld für mehr und mehr Mediävisten attraktiv, was mitunter zu Verflachungen führte: in immer neuen Texten entdeckte man Hinweise auf rituelles Handeln, entwarf deskriptive Belegketten über Unterwerfungen und Kniefälle, über Kussszenen und Gabentausch. Kritik wurde unter anderem an der Konzentration der bisherigen Ritualismus-Forschung auf historiographische Quellen geübt. Mit dem Buch von Corinna Dörrich liegt nun eine Arbeit vor, die diese einseitige Ausrichtung überwindet.

Interdisziplinär und kulturwissenschaftlich möchte sich die Germanistin dem Phänomen nähern. Sie steht damit in der Tradition einer literaturwissenschaftlichen Mediävistik, die das aporetische Verhältnis der Beziehungen zwischen kulturellen Praktiken und fiktionalen Texten auslotet 2. Im Zentrum ihrer Untersuchung steht die dichterische Inszenierung herrschaftlicher Zeremonien, das erzählte Ritual im Kontext der Macht also. Die Orientierung auf historiographische Texte lässt die Autorin hinter sich, geht sie doch von der Annahme aus, dass sowohl diese wie auch literarische Texte interessegeleitet seien, um prinzipielle Regeln rituellen Handelns zu beschreiben und zu funktionalisieren. Nicht auf eine vergangene Wirklichkeit, sondern auf die Rekonstruktion einer „Poetik des Rituals“ zielen daher Dörrichs Bemühungen.

Ihr handliches Buch ist unterteilt in zwei Abschnitte zu je drei Kapiteln. Form, Substanz und Funktion des Rituals werden im ersten Abschnitt untersucht. Von der Definition ausgehend, dass Rituale aufgrund ihrer Formalität herausgehobene und darin von anderen zu unterscheidende Handlungen seien, macht sich Dörrich zunächst Gedanken über die Formfestigkeit ritueller Praktiken: Wenn die Form für den Inhalt stehe, komme jener zwangsläufig besondere Relevanz zu. Dennoch habe es Spielräume gegeben, denn Rituale umfassten mehrere Teilhandlungen. Meist seien hier invariante Phasen und Episoden mit variablen Passagen verflochten worden, in denen Improvisation sowohl auf verbaler als auch auf nichtverbaler Ebene nicht bloß erlaubt, sondern notwendig gewesen seien (18; ähnlich Althoff im zitierten Bd., 159f.). Rituale seien also offen für historischen Wandel und kulturelle Transformationsprozesse. Das wird anhand einer Interpretation des Gralsrituals in Wolframs Parzival exemplarisch vorgeführt. Die gegenüber Chrétien de Troyes um ein Vielfaches übersteigerte Szene interpretiert Dörrich als eine „durchgreifende Formalisierung“ (23) des fiktionalen Textes, die die eminente Bedeutung der Formgebundenheit eines Rituals selbst im Kontext finsterer Gralsmystik belege.

Lieben Literaturwissenschaftlerinnen die dunkle Diktion? „Als ein wesentlicher Faktor der Poetik des Rituals ist die Zuordnung der Formalität ritueller Handlungen zu ihrer Substanz anzusehen: Die Form kann als Modus gelten, durch den Rituale ihre Bedeutung generieren.“ (34) Ein ambitionierter Stil macht die Lektüre des Buches stellenweise anstrengend – und wer dem zitierten Satz nur vage entnehmen kann, worum es im zweiten Kapitel über die „Substanz des Rituals“ geht, mag sich trösten: auch der Rezensent bemerkte erst bei der weiteren Lektüre, dass die Autorin eine semantische Kategorisierung ritueller Handlungen vornimmt. Zunächst schlägt sie vor, die Differenzierung zwischen religiösem Kult und säkularen Riten aufzugeben und das Ritual stattdessen mit dem Begriff des ‚Heiligen’ zu konnotieren. Denn auf eine Substanz, die als heilig galt, bezog sich selbst jenes Ritual, dem ein explizit religiöser Rahmen fehlte – so Dörrich. Die Sinnhaftigkeit eines Rituals konnte sich entweder direkt durch die konkrete Handlung, die Eucharistie etwa, oder durch ein nicht unmittelbar durchsichtiges Sinnpotenzial wie die Versammlung der Reichsfürsten als Verkörperung des Reichs erschließen. Die Vielschichtigkeit zeremonieller Akte vereint symbolisches und zweckgerichtetes Handeln sowie – entsprechend dem Kommunikationszusammenhang – unterschiedliche Bedeutungsebenen. Erneut beschließt eine exemplarische Analyse von Wolframs Gralsritual das Kapitel. Das Erlösungsritual wird durch die „Ausgestaltung der Form“ zum „Herrschaftsritual“ (44) geadelt, in dem zweckgerichtete und symbolische Aspekte verschmelzen – so Dörrich.

Konstituieren Rituale Ordnung? Dörrich bejaht diese Frage im dritten Kapitel, betont allerdings die Multifunktionalität ritueller Handlungen: Sie könnten sowohl Konsens stiften und Hierarchien wahren, aber auch bei der Austragung oder Regulierung von Konflikten instrumentalisiert werden.

Vom Ritual selbst richtet sich der Blick im zweiten Abschnitt auf dessen dichterische Darstellung. Individuelle Vorlieben und die Intention des Autors prägten die literarische Ritualwiedergabe. So fungierten beispielsweise bei den deutschen Dichtern Begrüßungs- und Empfangsszenen als bevorzugtes Mittel literarischer Inszenierung von Herrschaftsverhältnissen, während kirchliche Krönungszeremonien weniger Beachtung fanden. Sowohl Geschichtsschreiber als auch Dichter erzählen ein Ritual aus einer bestimmten Perspektive, akzentuieren Sinn und Bedeutung, um den Leser von der eigenen Denkart zu überzeugen.

Zwei Fallbeispielen sind die beiden letzten Kapitel gewidmet. Im Mittelpunkt des ersten steht die Ankunft des Willehalm am französischen Königshof in Munleun aus Wolframs „Willehalm“. Die Begrüßungsszenen als Schlüsselelemente des Textes interpretierend, beschreibt Dörrich die verschiedenen Zusammentreffen von Willehalm und der Hofgesellschaft, dem Königspaar, dem Kaufmann Wimar und seiner eigenen Familie als Möglichkeiten der Konfliktaustragung und –regulierung. Das Begrüßungsritual, so das Ergebnis der Analyse, bestimmt wesentlich die Struktur und den erzählerischen Prozess dieses Abschnitts. Es spiegelt die soziale und politische Ordnung wider und wird auf einer Metaebene selbst zum Gegenstand narrativer Reflexion.

Thema des letzten Kapitels sind die Metamorphosen des Deditio-Rituals im „Herzog Ernst“. Im Mittelpunkt steht die Rückkehr des Bayernherzogs Ernst aus Jerusalem und seine Versöhnung mit Kaiser Otto. Das Versöhnungsritual deutet Dörrich als „Deditio“ und vergleicht die dichterische Ausgestaltung der Ereignisse in den verschiedenen Redaktionen des „Herzog Ernst“-Komplexes mit dem Modell der Versöhnung, das Gerd Althoff auf der Grundlage historiographischer Texte rekonstruiert hat. Sie entdeckt dabei manche Differenz, aber auch viel Gemeinsames. Die dichterische Darstellung orientiere sich an der Wirklichkeit, weise in ihren erzählerischen Elementen allerdings über sie hinaus: Der Kaiser vergibt im ritualisierten Versöhnungsakt dem sich bedingungslos unterwerfenden Ernst ohne zu wissen, um wen es sich handelt, und ohne Kenntnis des zu vergebenden Vergehens. Nachdem sich Ernst zu erkennen gegeben hat, wird der Unmut des Königs durch die intervenierenden Fürsten besänftigt. Frei erfunden also ist der Gang der dramatischen Ereignisse, der Wirklichkeit entnommen wurde dagegen der Ablauf ritueller Handlungen, die der Dichter zu Strukturelementen seines Werkes macht.

Corinna Dörrich hat den Blick auf das mittelalterliche Ritual erweitert, indem sie als Literaturwissenschaftlerin die dichterische Verarbeitung ritueller Handlungen in den Mittelpunkt ihrer Analyse gerückt hat. Sie kann zeigen, dass die großen mittelhochdeutschen Epiker häufig die Schilderung von Ritualen dazu benutzten, politische und soziale Ordnungen zu entwerfen und Hierarchien zu legitimieren. Mitunter scheint sogar der gesamte Entwurf eines dichterischen Gesellschafts- und Herrschaftsbildes vorrangig auf der Darstellung ritueller Handlungen zu beruhen. Das Ritual wurde damit zu einem wichtigen Strukturelement fiktionaler Texte. Die Studie, die sich ausnahmslos auf hohem theoretischen Niveau, das nur gelegentlich durch die Abstraktheit der Sprache übertroffen wird, bewegt, ist damit ein anregender Beitrag zur Erforschung des mittelalterlichen Ritualismus.

1 Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. von Gerd Althoff (= Vorträge und Forschungen 51), Stuttgart 2001. Vgl. die Rezension dazu in diesem Forum unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=644.
2 Vgl. etwa Hedda Ragotzky et al. (Hgg.), Höfische Repräsentation: Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990.

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