Cover
Titel
Die päpstliche Kanzlei und ihre Urkundenproduktion (1141-1159).


Autor(en)
Hirschmann, Stefan
Reihe
Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 913
Erschienen
Frankfurt/M. u.a. 2001: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
446 S., 28 Abb.
Preis
€ 65,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Murauer, Historisches Institut beim Österreichischen Kulturforum in Rom

Hirschmanns Untersuchung ist die geringfügig überarbeitete und gekürzte Fassung seiner im Sommersemester 2000 an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eingereichten Dissertation. Ausgangspunkt ist die Hypothese, "daß in der päpstlichen Kanzlei des 12. Jahrhunderts Arbeits- und Verhaltensweisen greifbar sind, die durch ökonomisch-arbeitstechnische Bedürfnisse sowie unterschiedliche Urkundenformen und Rechtsinhalte bedingt waren" (S. 14). Je mehr Urkunden ausgestellt wurden, "umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine bestimmte Personengruppe innerhalb der Kanzlei für die Fertigung der Urkunden dauerhaft Sorge getragen hat" (ebenda). Durch die statistische Untersuchung der Datumszeilen der feierlichen Privilegien versucht Hirschmann, die in Bresslaus Urkundenlehre 1 zusammengestellten Listen von Kanzlern, Stellvertretern und Kanzleimitarbeitern in eine chronologische und prosopographische Ordnung zu bringen. Folglich orientiert sich die zeitliche Eingrenzung der Arbeit auch nicht an den Eckdaten der Pontifikate von Innocenz II. bis Hadrian IV., sondern an den Amtszeiten der päpstlichen Kanzler; sie umfasst also den Zeitraum vom Tode Aimerichs, auf den eine Reihe von Neuerungen in der Kanzlei zurückgeht, bis zum Ende der Amtszeit Rolands.

Nachdem Hirschmann die Pontifikate Lucius’ III., Urbans III. und Gregors VIII. (1181-1187) bereits in seiner Magisterarbeit, deren Publikation er ankündigt (S. 17 Anm. 35), behandelt hat, liegen nunmehr auch die Urkunden der Jahre 1141 bis 1159 in statistischer Bearbeitung vor. Hirschmann bediente sich dabei des Programms Microsoft Access für Windows in der Version 97. Nicht weniger als 4100 Stück hatte er durchzuarbeiten. Diese eindrucksvolle Zahl gibt auch die Fortschritte der Forschung seit Jaffés Regestensammlung wieder, die in ihrer ersten Zusammenstellung von 1851 nur 1273 Stücke für den gleichen Zeitraum umfasste; die Zahl der bekannten Papsturkunden hat sich also innerhalb der letzten eineinhalb Jahrhunderte mehr als verdreifacht. Die von Hirschmann erhobene Zahl ist natürlich noch nicht eine abschließende, mit weiteren Funden von Papsturkunden ist zu rechnen - insbesondere auf der Iberischen Halbinsel, wo wir es mit einem mit anderen Ländern kaum vergleichbaren Urkundenwesen zu tun haben; zahlreiche kleine Kloster- und Pfarrarchive fördern immer wieder bisher unbekannte Papsturkunden zutage. Der Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz ist aber unzweifelhaft gekommen; mit den Mitteln der modernen Datenverarbeitung steht auch einer Aktualisierung in bestimmten Zeitabständen nichts im Wege. Hirschmann rechnet mit weiteren 20.000 Urkunden für das 12. Jahrhundert, die noch der Analyse harren. Das nahezu vollständige Fehlen der Registerüberlieferung bis 1198 lässt nur eine grobe Annäherung an die tatsächliche Zahl der Papsturkunden zu. Gleiches gilt für die Untergliederung nach Überlieferungsformen: Hirschmann stellt einen Anteil der im Original auf uns gekommenen Stücke von 25 Prozent fest, die Zahl der Deperdita ist etwa gleich hoch, während die Hälfte der Urkunden abschriftlich tradiert ist (S. 105 Abb. 5). Diese Zahlen differieren von Land zu Land: In Frankreich übertreffen die Abschriften die Originale um nahezu das Dreifache, in Deutschland halten sie sich dagegen annähernd die Waage. Aus Spanien ist ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz sowohl von Kopien als auch von Originalen überliefert.

Der erste Hauptteil bietet eine statistische Auswertung des umfangreichen Materials, beschreibt die äußeren Merkmale der Urkunden, die entsprechend der klassischen Einteilung nach Privilegien und Litterae unterschieden werden. Die Kanzler und ihre wichtigsten Mitarbeiter werden - soweit dies die für prosopographische Zwecke unbefriedigende Quellenlage zulässt - behandelt.

Ob die beträchtliche Erhöhung der Zahl der von den Kardinälen unterschriebenen Privilegien ab der Mitte des 12. Jahrhunderts mit der - wie Hirschmann meint - "erhöhte(n) Bedeutung kollektiver Herrschaftsausübung" (S. 59) zusammenhängt oder nicht doch einfach auf die Zufälle der Überlieferung zurückzuführen ist, möge dahingestellt bleiben. Instruktiv sind die Statistiken über die regionale Verteilung der von den Päpsten ausgestellten Urkunden, wobei Frankreich vor Italien und dem Reich an der Spitze liegt (S. 200). England und Spanien folgen mit weitem Abstand dahinter, was auch durch die besondere Überlieferungssituation beider Länder bedingt ist: In England gingen viele Stücke während der Säkularisation unter Heinrich VIII. verloren, in Spanien sind - wie oben erwähnt - noch weitere Funde in Archiven zu erwarten. Hirschmann gibt selbst zu, dass durch diese Einschränkungen die Aussagekraft der Statistik zu relativieren ist (S. 201). Der Rückgang der Produktivität der päpstlichen Kanzlei während der Sommermonate, in denen sich die Kurie durchwegs außerhalb Roms aufhielt, überrascht nicht, wird aber durch Hirschmanns statistisches Material noch einmal eindrucksvoll dokumentiert (S. 126). Eine stichprobenartige Durchsicht der seit dem Ende des 12. Jahrhunderts nahezu vollständig erhaltenen Papstregister führt zu dem gleichen Ergebnis. Ähnliches gilt für die von Hirschmann konstatierte erhöhte Produktivität in den ersten Amtsmonaten eines neugewählten Papstes, an den sich jeweils überdurchschnittlich viele Petenten wandten (S. 134f.).

Der zweite Hauptteil bringt begriffsgeschichtliche Untersuchungen der formelhaften Teile mittelalterlicher Urkunden. Die Ausführungen zur Arenga (S. 231-352) bestätigen im wesentlich die Ergebnisse Fichtenaus 2. Abweichend von Fichtenau erkennt Hirschmann die Verbindung von Rechts- und Friedenswahrung als dauerhaftes Thema päpstlicher Urkunden (S. 323). Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts orientierte sich die kaiserliche Kanzlei vermehrt am Vorbild der Papsturkunde. Hirschmann unterstützt seine Argumentation mit ausführlichen Auszügen aus den Quellen, die auch dem Leser die Benutzung des Buches erleichtern. Ein Anhang mit der Edition von elf bisher zum Teil unpublizierten Papsturkunden, darunter sowohl Privilegien als auch Justizbriefe (S. 376-389), und ein Quellen- und Literaturverzeichnis, das nicht weniger als 47 Seiten umfasst, sowie etliche Schriftproben beschließen den Band.

Bei der Lektüre fallen nur wenige Versehen auf, die den Wert der Arbeit kaum beeinträchtigen können. Etwas irreführend ist es, die Benennung der Adressaten päpstlicher Schreiben als ‚filia’ oder ‚frater’ als Verwandtschaftsbezeichnung zu deuten (S. 29); in diesem Fall wäre jeder Papst mit der gesamten Christenheit verwandt gewesen. Dass an exkommunizierte Personen kein päpstlicher Segenswunsch erging (S. 30 Anm. 80), ist keine Neuigkeit; neben dem an dieser Stelle zitierten Aufsatz von Falkenstein 3 wäre auch auf eine ältere Arbeit Hageneders hinzuweisen gewesen 4, die im an sich gründlichen Literaturverzeichnis nicht aufscheint. Hätte man an der Kurie nur ein Zwischenurteil in einem Rechtsstreit gesprochen, vom Papst delegierte Richter aber mit der Fällung der Definitivsentenz beauftragt (S. 63), so wäre dies zumindest erstaunlich. Die Charakterisierung Innocenz’ III. als "Juristenpapst" (S. 131) entspricht nicht dem aktuellen Forschungsstand. Verfehlt ist es, eine Stelle aus dem ersten Teil des Corpus Iuris Canonici, d. h. aus dem Decretum Gratiani, den unter Gregor IX. gesammelten Dekretalen zuzurechnen (S. 359 Anm. 1740); Gregor zeichnet vielmehr für den Liber Extra verantwortlich, also den Hauptabschnitt des zweiten Teiles des von Friedberg herausgegebenen Corpus Iuris Canonici. Für den Liber Extra hat sich im übrigen längst eine allgemein gebräuchliche Zitierweise durchgesetzt: ‚X’ (anders S. 60 Anm. 211). Zur allgemeinen Appellationsmöglichkeit des Klerus an den apostolischen Stuhl wären überdies geeignetere Stellen aus dem Kirchenrecht heranzuziehen gewesen. Nicht sehr praktisch ist die fortlaufende Zählung der Fußnoten durch den ganzen Band, sodass Hirschmann auf S. 374 bei Fußnote 1796 anlangt.

Aufgrund der enormen Quellenbasis, der gründlichen Durchdringung der Texte und dank der in der Papsturkundenforschung noch nicht allzu häufig angewandten statistischen Methodik stellt das Buch eine für die künftige Forschung unentbehrliche Grundlage dar. Zum Abschluss möge die Hoffnung ausgedrückt werden, dass Hirschmann trotz seines im Klappentext des Buches erwähnten Wechsels in die Verlagsbranche weiterhin Gelegenheit zur wissenschaftlichen Arbeit finden wird.

1 Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien. 2 Bände, Berlin 1912/31 (Nachdruck Berlin 1968/69)
2 Heinrich Fichtenau, Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (MIÖG-Ergänzungsband 18), Graz/ Köln 1957
3 Ludwig Falkenstein, La papauté et les abbayes françaises aux XIe et XIIe siècles. Exemption et protection apostolique (Bibliothèque de l’école des hautes études, sciences historiques et philologiques 336), Paris 1997
4 Othmar Hageneder, Exkommunikation und Thronfolgeverlust bei Innocenz III., in: Römische Historische Mitteilungen 2 (1957/58) 9-50

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension