J. Fried, Die Aktualität des Mittelalters

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Titel
Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft


Autor(en)
Fried, Johannes
Erschienen
Stuttgart 2002: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
91 S.
Preis
€ 9,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Müller, Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin

Wie kein anderes Zeitalter steht das Mittelalter im Ruch der finsteren, unterentwickelten Epoche, die von der Moderne überwunden wurde und die nichts gemein hat mit unserem schnelllebigen Informationszeitalter, tauglich allenfalls noch für rückwärtsgewandte Kulturbeflissenheit, romantischen Eskapismus und den leichten Schauder des Barbarischen, der den Betrachter immer wieder der eigenen Überlegenheit versichert. Welchen Sinn macht es also, sich im 21. Jahrhundert mit mittelalterlicher Geschichte zu beschäftigen? Wozu gar eine Wissenschaft vom Mittelalter, die mit teurem Geld totes Wissen anhäuft, während für die drängenden Fragen der Zeit mit den Biowissenschaften längst das verheißungsvolle Universalwerkzeug gefunden scheint?

Johannes Fried, renommierter und streitbarer Mediävist aus Frankfurt am Main, geht in seinem Essay, der in seiner Urfassung nicht etwa Bildungspolitikern, Wirtschaftsbossen oder potenziellen Mäzenen, sondern Mediävisten vorgetragen wurde 1, das oft hilflos verschwiegene oder zwischen Kostenanalysen und Anforderungsprofilen zerriebene Thema direkt an. Hatte Thomas Nipperdey es 1981 unter fast gleichlautendem Titel vor allem für nötig erachtet, gleichsam fachintern auf die Bedeutung des Mittelalters für die nach vorne drängende, Aktualität und Modernität für sich beanspruchende Neuere Geschichte hinzuweisen 2, so sieht sich Fried einer gänzlich anderen Herausforderung gegenüber: Es geht um nicht weniger als die Frage von Nutzen oder Nutzlosigkeit der Mittelalter- und Geschichtswissenschaft im Angesicht knapper werdender Ressourcen und eines zunehmend technisierten Wissenschaftsbegriffs, um die Rolle und die prinzipielle Berechtigung dieser Disziplin im künftigen Wissenschaftsbetrieb.

Er wählt dazu eine Annäherung auf doppeltem Wege. Mit wenigen Beispielen wird zunächst plausibel erklärt, was seit Cicero in dem Schlagwort historia magistra vitae seine Quintessenz findet: Geschichte ist wichtig nicht als abgestandene Schablone künftiger Ereignisse oder Erklärungs-Passepartout für sämtliche denkbaren Situationen und Szenarien, sondern als kollektiver Erfahrungsspeicher, dessen Assoziationspotenziale es immer neu zu aktualisieren gilt. Gerade in der umfassenden scholastisch-rationalen Grundstruktur des Mittelalters sieht Fried dabei die Wurzeln unserer sogenannten Wissensgesellschaft. Er entführt den Leser mit schnellen Schritten in die Welt der Universitäten, von denen eine intensive Kulturprägung ausging, nimmt ihn mit auf die Reise in ferne Kontinente, die den Menschen immer neue Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Lebensformen abnötigten und dabei den Wissenskosmos erweiterten. Erfahrung ist das wiederkehrende Thema dieses ersten Teils, der die Geschichte als Wissenschaft vom und für das Leben, als Biowissenschaft par excellence beschreibt.

Das klingt und ist traditionell. Doch diese historische Reise in die äußere Lebenswelt des Menschen erhält eine neue Orientierung durch die im zweiten Teil folgende Reise des Historikers in das Innere des Menschen. Fried verfolgt hier einen Gedanken, den er u.a. im Jahr 2000 als Vorsitzender des Historikerverbandes wirkungsvoll in Szene setzte, indem er dem Hirnforscher Wolf Singer den Eröffnungsvortrag des Historikertags in Aachen antrug und in seinem eigenen Schlussvortrag das zentrale Phänomen des Erinnerns in den Mittelpunkt stellte 3. Es handelt sich bei dieser demonstrativen Zusammenbindung von Hirnforschung und Geschichtswissenschaft um mehr als ein deklamatorisches Zuschütten des Grabens, der seit dem 19. Jahrhundert Natur- und Geisteswissenschaften trennt. Gehirn und Geschichte sind aufgrund elementarer Wahrnehmungsprozesse, die jedem Erinnern vorausgehen und es zugleich bestimmen, untrennbare Geschwister. Was also, so Fried, läge näher als eine Zusammenarbeit aller, die am Gehirn, seiner Formung, Funktion und Leistung interessiert sind? Dass hier die Geschichtswissenschaften Substanzielles beitragen können, beruht auf der Erkenntnis, dass das Gehirn im Auf- und Ausbau seiner Fähigkeiten nachhaltig von äußeren Erfahrungseindrücken geprägt wird. Kultur wirkt hier formend auf die Natur ein, während Kultur zugleich als Antwort des Gehirns an die Außenwelt verstanden werden kann. Was könnte erfolgversprechender sein, als diese komplexen Probleme mit den kognitiven Instrumentarien der jeweiligen Wissenschaften gemeinsam anzugehen?

Die Erkenntnisse der Hirnforschung eröffnen der Geschichtswissenschaft zudem weite hoffnungsvolle Perspektiven. Gerade weil das Gehirn erst mit der Pubertät des Menschen seine Reife erlangt, kommt der kindlichen Prägung eine enorme Bedeutung zu. Orientierungswissen in Form von aus der Geschichte gewonnenen Erfahrungspotenzialen könnte hier belastbare Fundamente legen – ganz so wie es das in jüngsten Knabenjahren ansetzende Schulwesen des Mittelalters vorgemacht hat.

Frieds Essay ist ein flammender und dennoch abgewogener Appell gegen eine kurzsichtige, auf vermeintliche Effizienz getrimmte Politik und gegen eine Gesellschaft, die sich vormacht, eine Wissensgesellschaft zu sein, ohne sich klar zu machen, was Wissen eigentlich ist. Er ist aber auch ein dezidierter Mahnruf an das eigene Fach, sich nicht verärgert ins Schneckenhaus der Fachidiotie zurückzuziehen, sondern sich naheliegenden überfachlichen Fragestellungen aktiv zu öffnen und der Gesellschaft die eigene Leistungsfähigkeit selbstbewusst zu präsentieren. Als Erfahrungs- und Kognitionswissenschaft wie Fried sie hier entwirft, stünde die Geschichte beileibe nicht mit leeren Händen da.

Es ist uneingeschränkt zu begrüßen, dass dieser über die Fachgrenzen der Mittelalter-Historie weit hinausweisende Vortrag separat und in ansprechender Gestaltung publiziert wurde. Dies erhöht die Chance des pointierten und durchaus suggestiven Textes, innerhalb und außerhalb der engeren Fachöffentlichkeit Nachdenklichkeit zu stiften.

1 Festvortrag vom 5.10.2001, demnächst in: Fünfzig Jahre Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte – Die Gegenwart des Mittelalters, hg. v. Stefan Weinfurter, Stuttgart 2002
2 Thomas Nipperdey, Von der Aktualität des Mittelalters. Über die historischen Grundlagen der Modernität, in: GWU 32 (1981) 424-431
3 Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, in: Eine Welt – Eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen. Berichtsband, hg. v. Max Kerner, München 2001, S. 18-27; Johannes Fried, Erinnern und Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, ebd. S. 381-394

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