R. Moore, Die erste europäische Revolution

Titel
Die erste europäische Revolution. Gesellschaft und Kultur im Mittelalter


Autor(en)
Moore, Robert I.
Reihe
Europa bauen
Erschienen
München 2001: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
347 S., 5 Karten u. 2 Abb.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Ertl, Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin

Mit der Geschwindigkeit des europäischen Integrationsprozesses in institutioneller Hinsicht konnte die Entfaltung einer gemeineuropäischen Mentalität nicht Schritt halten. Um dem Risiko zu begegnen, dass das Verharren in nationalen Identitäten eines Tages das Einigungswerk gefährden könnte, machten sich Vertreter des öffentlichen Lebens schon vor einiger Zeit auf die Suche nach historischen Wurzeln und Vorläufermodellen des modernen Europa. Karl der Große musste bereits mehrmals als pater Europae herhalten; erst kürzlich feierte Bundespräsident Johannes Rau in seinem Grußwort zur Magdeburger Ottonen-Ausstellung die Ottonenzeit „als frühes Beispiel europäischer Einigung“.1 Doch nicht allein die Politik sieht sich verpflichtet, die geistigen Grundlagen Europas zu stärken, auch die Wissenschaft hat das Thema für sich entdeckt und reagiert damit auf das Bedürfnis einer Bevölkerung, die sich zu interessieren beginnt für dieses sonderbare politisch-wirtschaftliche Gebilde, in dem wir Europäer uns zwar nicht wirklich zu Hause fühlen, das uns aber doch irgendwie angeht.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema ist begrüßenswert, denn – egal welchen Stellenwert man der historischen Forschung in der politischen Meinungsbildung zukommen lässt – eine Europa-Debatte fördert doch zumindest die Breitenwirkung unseres Faches. Insbesondere der Mediävist läuft allerdings Gefahr, an einem Mythos Europa mitzubauen, der mehr Wunschbild der Moderne ist als Realität einer vergangenen Epoche, und den Reihentitel des vorliegenden Buches damit zum Programm zu erheben. Wie bei der Entdeckung des abendländischen Individuums scheint aber auch hier das Motto zu gelten: Jedem Forscher seine Lösung, in diesem Fall also sein Europa. Für Robert I. Moore sind die Grundfesten Europas in den hochmittelalterlichen Umwälzungen des 11. und 12. Jahrhunderts zu suchen. Die Veränderungen, die in dieser Epoche stattfanden, rechtfertigen es in seinen Augen, von einer Revolution zu sprechen, die – da Europa das Resultat des Umwälzungsprozesses war – als ‚erste europäische Revolution’ (20) bezeichnet werden kann. Moore ist nicht der erste, der die hochmittelalterlichen Veränderungen für bedeutsam, ja für grundlegend für die weitere Geschichte Europas hält 2, die Verwendung des Revolutionsbegriffes scheint jedoch eher der Publikumswirksamkeit des Buches zu dienen als auf einem klaren begrifflichen Instrumentarium zu beruhen, bleibt Moore doch eine nähere Analyse des Begriffes schuldig.

Einen Gedankengang Georges Dubys, dem das Buch in mehrfacher Hinsicht verpflichtet ist, aufgreifend, interpretiert der Autor das Hochmittelalter als eine Zeit der Unordnung zwischen zwei Zeitaltern der Ordnung, zwischen der karolingischen Ära und dem Spätmittelalter. Im Mittelpunkt des Buches steht also eine Analyse der „Macht, die den etablierten Institutionen eines Ancien régime entglitten ist und von einer bizarren, aber eine gewisse Zeitlang gut funktionierenden Allianz von Kirche und gemeinem Volk benutzt wird, um eine neue Welt zu gestalten – bis dann wieder eine staatstragende Macht entsteht, die viele Jahrhunderte hindurch die neu etablierte soziale und politische Ordnung im Westen Europas bewahrt“ (27).

Diese These versucht Moore aus einer anthropologischen Perspektive zu belegen, wobei er die Geschichte als Geschichte der Macht interpretiert, die sich im wandelbaren Zusammenspiel von Kirche, Adel und Volk artikuliert. Politische Ereignisgeschichte interessiert den Autor dagegen nicht, markante Daten aus diesem Bereich sucht man in dem Buch vergeblich, der Investiturstreit beispielsweise wird kaum thematisiert. In einem ersten Kapitel werden Kirche und Frömmigkeitsbewegung seit der Jahrtausendwende dargestellt. Charakteristisch für die Anlage des Buches erscheint dabei die Deutung der Rückgewinnung von Land, also ein politisch-weltlicher Vorgang, als „ein zentrales Motiv“ der beginnenden Kirchenreform (32). Erst die in dieser Hinsicht erfolgreichen Bemühungen hätten seit dem 12. Jahrhundert die Voraussetzung für die überragende Machtstellung der Kirche gebildet. Dem Wandel der Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen ist das zweite Kapitel gewidmet, wobei in Moores Augen besonders der Umwandlung der adligen Berufskrieger in Grundherren, die von ihren Burgen aus das Land reorganisierten und herrschaftlich erfassten, besondere Bedeutung für die weitere Entwicklung zukam. Mit dem Wandel der Familien- und Gesellschaftsstrukturen beschäftigt sich das folgende Kapitel: Neben der Funktion von Klosterschenkungen, der Ausbildung des Rittertums und den Gottesfrieden untersucht Moore die Durchsetzung des Erstgeburtsrechts, das er als zentrales Element für den Erhalt der adligen Herrschaften in einer Zeit interpretiert, in der militärische Eroberungs- und Beutezüge als regelmäßige Einnahmequelle versiegten. Die Nachgeborenen, die iuvenes, die sich nach anderen Quellen für Reichtum und Ansehen umsehen mussten, stellten innerhalb des Adels eine sehr dynamische Gruppe dar und gestalteten die kulturelle, soziale und militärische Entwicklung kräftig mit. Das vierte Kapitel interpretiert die neuen Bildungsinstitutionen (Domschulen, Universitäten) und -inhalte (Frühscholastik, Sammlung der Überlieferung, artes, höfische Kultur, Verwaltungsschriftgut) als Bodensatz für die Ausbildung einer homogenen Klerikerschicht, die die neuen Regeln der Gesellschaft formulierte, ihre Einhaltung überwachte und Abweichungen mit einer bisher unbekannten Schärfe verurteilte. Im letzten Abschnitt schildert Moore den Übergang von einer „segmentierten, dezentralen Gesellschaft zur zentralisierten, oder, um es laxer auszudrücken, von der Stammesgesellschaft zum Staat“ (247). Einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung neuer Herrschaftstechniken sieht der Autor in der Stärkung der katholischen Hierarchie sowie in der Inquisition als disziplinierender Durchdringung vor allem dörflicher Gemeinschaften.

Als Autor eines Europa-Buches scheint sich Moore den Integrationsvorstellungen der europäischen Elite aus Politik und Kultur verpflichtet zu fühlen. Vielen Bewohnern unseres Kontinents wird das Buch dennoch wenig sagen, denn Moore, ausgehend von „einer gewissen Übermacht des Französischen, ... da hauptsächlich hier die entscheidenden Entwicklungen stattfanden“ (22), negiert souverän die Heterogenität der unterschiedlichen politischen und kulturellen Lebenswelten, die nicht nur in der Vergangenheit das Wesen Europas ausmachten. Während andernorts über die „unaufhebbare Pluralität“ diskutiert wird 3, konstruiert Moore eine suggestive Meistererzählung, die sich in ihrer anthropologischen Ausrichtung modern gibt, in vielen Interpretationen vermutlich auch den Kern wichtiger Veränderungen trifft, im Grunde aber einer Uniformität europäischer Geschichte verhaftet bleibt, mit der man außerhalb Nordwesteuropas wohl keinen Bürger der EU und ihrer Beitrittskandidaten von einer europäischen Verbundenheit, die zugleich trotz und wegen der Vergangenheit existiert, überzeugen kann. Europa wird anders gebaut.

1 Thomas Willich, Rezension zu M. Puhle (Hg.), Otto der Große, Magdeburg und Europa, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=882=882
2 Vgl. Michael Borgolte, Einheit, Reform, Revolution. Das Hochmittelalter im Urteil der Modernen, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 248 (1996) 225–258
3 Unaufhebbare Pluralität der Kulturen? Zur Dekonstruktion und Konstruktion des mittelalterlichen Europa, hg. von Michael Borgolte (Historische Zeitschrift Beihefte N.F. 32), München 2001

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