Titel
Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter


Autor(en)
Offergeld, Thilo
Reihe
Monumenta Germaniae Historica, Schriften 50
Erschienen
Anzahl Seiten
XCVIII, 862 S.
Preis
€ 90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hubertus Seibert, Historisches Seminar der Universität München

Der Tod des Königs im Mittelalter barg angesichts fehlender staatlicher Strukturen und erst spät ausgebildeter transpersonaler Herrschaftsvorstellungen keine geringe Gefahr in sich für den Fortbestand eines jeden Reiches und dessen politisches Ordnungsgefüge. Die königlichen Amtsinhaber setzten daher alles daran, schon zu Lebzeiten die Nachfolge eines ihrer Söhne sicherzustellen. Bis zum 13. Jahrhundert gelangten auf diese Weise immer wieder minderjährige Söhne im römisch-deutschen Reich und bei seinen Rechtsvorgängern auf den Königsthron. Wie die mittelalterlichen Zeitgenossen das Phänomen des Kindkönigtums deuteten, zeigt die berühmte Klage Bischof Salomons III. von Konstanz über die Lage des ostfränkischen Reiches unter König Ludwig dem Kind zu Beginn des 10. Jahrhunderts: „Allenthalben fehlen die Lenker, die Zucht verfällt, und es erhebt sich ihr Gegenteil. ... Die Schwäche des Kindes, das nur den Namen des Königs führt, hat uns seit langer Zeit eines Herrschers beraubt. Sein Alter ist weder brauchbar im Kampf noch fähig, die Gesetze zu handhaben, da seine Abstammung ihm Reich und Zepter verliehen hat. Der zarte Körper und die erst spät reifenden Kräfte flößen den eigenen Leuten Verachtung, den Feinden aber Kühnheit ein. Wie fürchte ich, mein teures Haupt, wie oft denke ich an die Weissagung desjenigen, der ausrief: Wehe dem Volk, das unter der Herrschaft eines jungen Königs steht (vgl. Liber Ecclesiastes 10,16)“ 1.

Die Forschung hat lange Zeit die Herrschaft minderjähriger Könige als randständiges Kuriosum der Geschichte qualifiziert und Kindkönigen (regibus pueri 2) wie Karl dem Einfältigen, Ludwig dem Kind und Otto III. die Regierungsfähigkeit abgesprochen. Die eigentliche Regierungsautorität wies sie vielmehr einer dafür berufenen Regentschaft zu, die mächtige Große des Reiches oft zusammen mit der Mutter des Thronfolgers ausübten. Erst Theo Kölzer hat 1990 in einem bahnbrechenden Aufsatz 3 diese Fehleinschätzungen korrigiert und den verfassungsmäßigen Status des minderjährigen Königs geklärt, der als mündig und selbstregierend galt. Thilo Offergeld wendet diesen verfassungsgeschichtlichen Ansatz seines Lehrers in seiner brillanten Dissertation unter einer umfassenden historisch-diachronen Perspektive auf die germanischen und mittelalterlich-deutschen Reichsbildungen an. Seine Arbeit bietet weit mehr als eine quellengesättigte Dokumentation und konkrete politische Situierung aller bekannten Kindkönigsherrschaften bis zum 13. Jahrhundert. Indem er in dieser historischen Ausnahmesituation eines handlungsunfähigen Herrschers die einzigartige Möglichkeit erkennt, die unterschiedlichen - praktischen wie theoretischen - Mechanismen zu deren politischen Bewältigung und die zeitgenössische Akzeptanz minderjähriger Könige zu erfassen, gelingen ihm vielfach neue Einsichten und Deutungen, die Wesen und Funktion des mittelalterlichen Königtums schärfere Konturen als bisher verleihen.

Nach der Erörterung der rechtlichen Voraussetzungen (10-43) - des Volljährigkeitsalters (der Zwölf-Jahre-Termin war am weitesten verbreitet), der rechtlichen Stellung des Minderjährigen (Widerrufsrecht als wirksamster Schutz für ihn) und des “Rechtsformalismus“ (41) des Rechtsstatus des minderjährigen Königs - behandelt das zweite Kapitel (44-299) Königtum und Thronfolge in den germanischen Reichsbildungen der Völkerwanderungszeit. Untersucht werden die Verhältnisse bei den Ostgoten, Westgoten, Vandalen, Sueben, Burgundern, Gepiden, Skiren, Donausueben, Erulern, Rugiern, Thüringern, Langobarden, Angelsachsen und Merowingern. Trotz der bei allen Germanenvölkern zu beobachtenden Bemühungen, die dynastische Sukzession auf die Sohnesfolge einzuengen, verhinderte eine fehlende dauerhafte politische Stabilität zumeist, dass sich in den Germanenreichen ein minderjähriger König durchsetzte. Von den neun hier nachweisbaren Kindkönigen vermochten sich nur vier bis zur Erlangung der Volljährigkeit zu behaupten; doch keinem von ihnen gelang es, eine langfristige erfolgreiche Herrschaft zu führen.

Einzig das Merowingerreich erweist sich hier als prägnanter Sonderfall: Nahezu die Hälfte aller bis zum 8. Jahrhundert regierenden Merowinger - 15 (17) von 34 - war minderjährig. Die einzigartige Häufigkeit minderjähriger Dynasten bei den Merowingern basierte lange Zeit auf vier elementaren politischen Voraussetzungen: einer stabilen Reichsgründung, der konkurrenzlosen Dynastiebildung, den Thronfolgeansprüchen aller Söhne und der Teilungspraxis als politischem Kompromiss. Doch Bruderzwist, unfähige Herrscher und vor allem die wachsende Herrschaftspartizipation des Adels setzten im 7. Jahrhundert einen Prozess der Dekomposition in Gang, in dessen Verlauf das erfolgreich etablierte Modell der Herrschaft Minderjähriger zum Signum eines von adligen Hausmeiern dominierten faktisch machtlosen Königtums degenerierte.

Das dritte und umfangreichste Kapitel (300-648) thematisiert das Kindkönigtum der Karolingerzeit (v.a. Karl von der Provence, Karlmann von Westfranken, Karl der Einfältige, Ludwig von Vienne, Bernhard, Ludwig das Kind, Ludwig IV., Lothar und Ludwig V. von Westfranken sowie Karl von Niederlothringen). Die Karolinger beschritten im 8. und 9. Jahrhundert neue Wege. Noch zu Lebzeiten verfügten die Väter über die Herrschaftsnachfolge ihrer noch minderjährigen Söhne, die zu Unterkönigen erhoben wichtige herrschaftliche Aufgaben im Dienst und zur Stärkung der Zentralgewalt gegenüber den Interessen der regionalen Adelsgruppen übernahmen. Doch wussten die führenden Adelsfamilien den unter Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen einsetzenden Niedergang des Karolingerreiches seit 840 auf vielfache Weise zur Steigerung ihrer Teilhabe an der Herrschaft zu nutzen. Sie brachten die minderjährigen oder jugendlichen Königssöhne wie Karl von der Provence (855-863) und Karlmann von Westfranken (879-884) unter ihre Kontrolle und instrumentalisierten sie als politisches Druckmittel zur Destabilisierung der Königsgewalt des Vaters oder Bruders und zur Ausweitung eigener Einflussmöglichkeiten.

Als Kindkönig schlechthin, für den Offergeld kein einziges Anzeichen einer selbständigen Herrschaftstätigkeit auszumachen vermag, hat der letzte ostfränkische Karolinger, Ludwig das Kind (900-911), zu gelten. Auch wenn die Zeitgenossen Ludwigs grundsätzliche Herrschaftsfähigkeit nicht in Zweifel zogen, so wurde die Herrschaft - faktisch ohne Beteiligung des Königs - von einer Regentschaftskoalition geistlicher und weltlicher Großer (Bischöfe von Mainz, Augsburg, Konstanz; Graf Konrad der Ältere, Graf Gerhard, Markgraf Luitpold von Bayern) ausgeübt. Die politischen und verfassungsgeschichtlichen Auswirkungen dieser von adligen Parteiinteressen dominierten Regierungszeit sind von kaum zu überschätzender Tragweite: Die - von den Konradinern monopolisierte - Zentralgewalt büßte einen Großteil ihrer Integrations- und Bindewirkung ein. Nicht nur das einstige regnum Bayern begann eigene Wege zu gehen, vielerorts bildeten sich regionale Mittelgewalten heraus, die zu den neuen Strukturelementen des ostfränkisch-deutschen Reiches aufstiegen.

Mit Otto III. (983-1002) fokussiert Offergeld im vierten Kapitel (649-784) eine weitere Herrscherpersönlichkeit, an dessen Königsherrschaft sich nicht nur das Spannungsverhältnis von Kindkönigtum und Regentschaft, sondern auch die Darstellung des minderjährigen Königs in bildlichen (Otto-Adelheid-Pfennige, Siegel, Herrscherbildnisse) und literarischen (Modus ’De Heinrico’) Zeugnissen aufzeigen lässt. Offergeld korrigiert auch hier manche unbegründete Annahme der Forschung. Das Königtum Ottos III. wurde 984/85 durch eine politische, keine rechtliche Entscheidung gesichert – durch die Bestellung eines faktischen Regenten. Heinrich der Zänker kam als nächster agnatischer Verwandter aus politischen Gründen für eine dauerhafte Regentschaft nicht in Frage, da seine eigenen Ambitionen auf die Königsherrschaft ihn als Alternative und Konkurrenz für das Kindkönigtum erwiesen. Keine Stütze in den Quellen findet die vielfach vertretene Ansicht, dass Otto III. auf dem vermeintlichen Reichstag von Sohlingen im September 994 die volle Regierungsfähigkeit in Form einer Schwertleite erlangt habe. Als entscheidende Stationen auf dem Weg zur selbständigen Regierung Ottos haben vielmehr die Ernennung seines Vertrauten Heribert zum Kanzler für Italien und das Ausscheiden Kaiserin Adelheids aus der Regentschaft Anfang 995 zu gelten.

Ausblicke auf die als Minderjährige zur Herrschaft gelangten Königssöhne (785-814), Heinrich IV., Friedrich von Rothenburg, Friedrich II. und Konradin, beschließen das magistrale Werk, dessen zahlreiche Neubewertungen (insbesondere für das Königtum Ludwigs des Kindes und Ottos III.) Bewegung in manch festgefahrene Forschungskontroverse bringen wird. Das Kindkönigtum erweist sich somit als eine historische Ausnahmesituation, die uns einen neuen Zugang zum Wesen des mittelalterlichen Königtum bietet.

1 Salomonis et Waldrammi carmina, hg. von Paul von Winterfeld (MGH Poetae latini 4/1) Berlin 1889, 296-314, hier 302, Z. 170f. u. 177-185. 2 Diese Formulierung begegnet bei Erzbischof Hinkmar von Reims in einem Brief an König Karl den Dicken Ende des Jahres 879, in: Flodoard, Historia Remensis ecclesiae, hg. von Martina Stratmann (MGH SS 36) Hannover 1998, III.20, S. 327. 3 Theo Kölzer, Das Königtum Minderjähriger im fränkisch-deutschen Mittelalter. Eine Skizze, in: Historische Zeitschrift 251 (1990), 291-323.

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