M. Hartmann: Humanismus und Kirchenkritik

Titel
Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters


Autor(en)
Hartmann, Martina
Reihe
Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 19
Erschienen
Stuttgart 2001: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
336. S.
Preis
EUR 40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Pohlig, Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin Email:

Matthias Flacius aus Albona in Istrien, eine der faszinierendsten Gelehrtengestalten des 16. Jahrhunderts, steht am Anfang sowohl der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung als auch der protestantischen Hermeneutik, zeichnet für die einflussreiche Magdeburger Widerstandslehre der Jahrhundertmitte zumindest mitverantwortlich und spielte als Gegner Melanchthons eine zentrale Rolle für die konfessionelle Ausdifferenzierung des Luthertums. Gleichzeitig war ein fundamentalistischer Polemiker, dem es selbst in seinem streitsüchtigen Zeitalter gelang, sich wegen konfessioneller Radikalität ins Abseits zu manövrieren. Darunter und unter vielerlei Polemik und Legenden hat Flacius' Ruf jahrhundertelang gelitten. Erst in den letzten Jahrzehnten erscheinen hin und wieder Arbeiten zu einzelnen Bereichen seines Wirkens, die eine angemessenere Würdigung anstreben. Es sind mehrere Disziplinen, die sich für Flacius interessieren: die Theologie- und Kirchengeschichte, die Mediävistik sowie die Frühneuzeitforschung. Eine guter Ausgangspunkt für interdisziplinäre Ansätze, sollte man denken. Doch die gegenseitige Wahrnehmung bleibt die Ausnahme. In der Regel sind es Spezialstudien zu sehr begrenzten Aspekten, die verfasst werden.

So ist auch die hier zu besprechende Regensburger mediävistische Habilitationsschrift von Martina Hartmann dezidiert ein Buch für Spezialisten – mit allen Vor- und Nachteilen, die dies mit sich bringt. (Der Rezensent kann deshalb als Nicht-Mediävist nur die Perspektive des Nicht-Spezialisten einnehmen.)
Martina Hartmann interessiert sich in ihrem Buch weniger für Flacius als Historiographen, als Geschichts-Schreiber, denn für seine Quellen-, vor allem seine Handschriftenforschungen. Sie sieht in ihm einen "Vorläufer unseres Fachs" (13) und zeigt überzeugend, dass "im 16. Jahrhundert niemand so viel über das Mittelalter gelesen hatte, wusste und an eigenen Quellenforschungen betrieben hat" (22) wie Flacius. Dabei wird die (inhaltliche) Frage nach seinem Geschichtsbild weitestgehend ausgespart; damit auch die Frage danach, was ihn dazu bewegt hat, die von Hartmann in großer Detailliertheit beschriebene Quellenforschung zu betreiben. Warum dieser große Gelehrte aber in Nachdrucken und Geschichtswerken späterer Jahrhunderte fast durchgehend totgeschwiegen wurde – ein weiteres Interesse Hartmanns -, wird mit einem Verweis darauf erklärt, Melanchthon sei als Sieger aus den innerlutherischen Kontroversen hervorgegangen, was in dieser Form ein etwas verkürzendes Urteil darstellt.

Das Buch beginnt mit einem knappen und zuweilen leicht simplifizierenden Überblick über Voraussetzungen von Flacius‘ Quellenforschungen und Geschichtsschreibung. Hier wird der deutsche Humanismus geschildert, der sich schon recht früh der Suche nach mittelalterlichen Quellen verschrieb; es geht um frühe Editionen mittelalterlicher Quellen und um den Buchdruck allgemein; schließlich um von Flacius benutzte Bio-Bibliographien etwa Trithemius' und Gesners sowie um Luthers und Melanchthons Einflüsse auf Flacius' Denken.

Nach diesem Überblick über Voraussetzungen von Flacius' Arbeit skizziert Hartmann das Netzwerk, dessen Matthias Flacius sich bei seiner Suche nach mittelalterlichen Handschriften bediente. Dieses bestand einerseits aus protestantischen Gelehrten wie Markus Wagner und Johann Wigand, den Hartmann, nach einer älteren These Heinz Scheibles, auf einer sicheren Indizienbasis zum Hauptverfasser der Magedeburger Zenturien erklärt - Flacius wirkte hier vor allem zu Beginn als organisatorischer Kopf. Auf der anderen Seite bestand das Netzwerk auch aus Sponsoren wie Pfalzgraf Ottheinrich, Ulrich Fugger und v.a. dem kaiserlichen Rat Kaspar von Nidbruck, mit dem Flacius eine umfangreiche geheime Korrespondenz unterhielt. Vor allem die drei Letztgenannten unterstützten Flacius und die Zenturiatoren in der Zeit zwischen 1552 und 1557 auch finanziell, so dass Flacius Bücher und Handschriften aus Bibliotheken im gesamten Reich in großem Stil einsehen, kopieren oder erwerben konnte.

Die für einen Daueremigranten wie Flacius erstaunlich große Bibliothek, die fast vollständig in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel erhalten ist (Hartmann zeichnet akribisch die verschlungenen Pfade nach, auf denen sie dort hingelangte), umfasste ungefähr 700 Bücher, vor allem aber 198 mittelalterliche Handschriften. Für 74 dieser Handschriften kann Hartmann nachweisen, woher sie stammen. Sie wehrt zwar ein weiteres Mal die Legende vom "Bücherdieb" Flacius ab; insgesamt kann man sich aber auf der Basis dessen, was Hartmann in ihrer durchaus positivistischen Untersuchung zeigt, schon fragen, warum Flacius häufig entliehene Bücher nicht zurückgab oder warum er Bücher, die er von Nidbrucks Geld beschafft hatte, seinen Mit-Zenturiatoren erst auf deren Flehen hin überließ.

Auf der Basis seiner Handschriftenforschungen publizierte Flacius unabhängige Editionen mittelalterlicher Handschriften; vor allem aber nahm er viele Quellen in seinem "Catalogus testium veritatis" von 1556 (erweiterte zweite Auflage 1562) auf, eine große Bio-Bibliographie von mittelalterlichen "Zeugen" der wahren christlichen (lutherischen) Lehre. Hier edierte Flacius eine Vielzahl von (im allerweitesten Sinne) papstkritischen Schriften des Früh- und Hochmittelalters. In vielen Fällen erstellte Flacius die editio princeps, in einigen Fällen sind die Texte sogar nur über Flacius überliefert; das bekannteste Beispiel ist die Praefatio des altsächsischen Heliand-Epos. Auch in diesem Abschnitt identifiziert Hartmann unzählige Male Herkunftsorte und Versionen von Texten, weist auf falsche oder richtige Zuschreibungen von anonymen Quellen hin, die Flacius unternommen hat, korrigiert falsche Forschungspositionen etc. Hartmann berücksichtigt hier vor allem früh- und hochmittelalterliche Quellen; Texte des 15. Jahrhunderts erscheinen nur am Rande, weil viele von ihnen Flacius bereits in gedruckter Form vorlagen.

Insgesamt gilt von diesem Buch, dass es weit untertrieben wäre, von Fleiß und Akribie zu sprechen. Mediävisten, die sich für die Schicksale einzelner zentraler mittelalterlicher Quellen und deren handschriftliche Überlieferung interessieren, können sich hier eine Fundgrube erschließen.

Vor dem Hintergrund dieses Lobs wollen die folgenden kritischen Bemerkungen verstanden werden: Wie das Buch in seiner methodischen Anlage einem Ideal von positivistischer Grundlagenforschung im Sinne des 19. Jahrhunderts verpflichtet ist, so haftet auch seinem Stil etwas Altertümliches an. Dies zeigt sich vor allem an der zu Unrecht für guten Stil gehaltenen Synonymwut. Im Einzelfall mag das noch hinzunehmen sein. Allerdings lässt sich die Verwendung des korrekten Namens des behandelten Gelehrten, "Matthias Flacius", an zwei Händen abzählen. Auch "Matthias Flacius Illyricus" wäre akzeptabel, der humanistische Beiname hat sich eben eingebürgert. Aber Hartmann schreibt lieber "der Illyricus" (Melanchthon erscheint hier als "der Praeceptor"), "der kroatische Humanist" oder "unser kroatischer Gelehrter". Dieser Duktus verleiht dem Buch etwas Betuliches; dies passt wohl zusammen mit der Beobachtung, dass man sich Flacius nach der Lektüre dieses Buches vorwiegend als Gelehrten im Elfenbeinturm (oder in der Klosterbibliothek) vorstellt, was er neben anderem ohne Zweifel war. Doch das Hauptmovens seines Werks, die konfessionelle Auseinandersetzung, bleibt merkwürdig blass, weil Hartmann sich nur für die formale Benutzung von Handschriften interessiert und immer dann, wenn es um inhaltliche Zusammenhänge geht - z.B. um die Frage, warum Flacius bestimmte "testes veritatis" aufgenommen hat" - merkwürdig schwammig wird.

Nun wird man von einem Buch schwerlich das verlangen können, was es explizit gar nicht anstrebt. Doch fallen demjenigen, der sich mit aus anderen Interessen heraus mit Flacius befasst, so viele Punkte v.a. zu konfessionellen Problemen auf, dass sie hier nicht unerwähnt bleiben können. Der "Catalogus testium veritatis" vereinige, so konstatiert Hartmann leicht verwundert, "Vorläufer Luthers" und Kritiker des Papsttums. Diese richtige Beobachtung trifft insofern einen neuralgischen Punkt der Konzeption des "Catalogus", als – was Hartmann übersieht – Flacius ihn ja explizit als Katalog von Papstgegnern ansieht. Dass er gleichzeitig behauptet, diese seien sozusagen Proto-Lutheraner, macht gerade die implizite Spannung aus, die den gesamten "Catalogus" durchzieht. Der Abfolge der "testes", möglicherweise einem protestantischen Gegenentwurf zur apostolischen Sukzession, liegt eine geschichtstheologische Konzeption mit deutlich apokalyptischen Obertönen zugrunde; überhaupt war Flacius eine Zentralgestalt frühlutherischer Endzeiterwartung. In diesem Zusammenhang wäre dann die Frage zu stellen, ob ein Zusammenhang zwischen dem Glauben an das baldige Weltende und der immer polemisch instrumentalisierten Geschichts- und Quellenbesessenheit, die Flacius kennzeichnet, herzustellen ist.

Die konfessionellen Probleme werden von Hartmann also ausgespart oder, zuweilen falsch, nur angerissen: So behauptet sie, die protestantische Hochburg Magedeburg sei "spöttisch" (14) als "Unseres Herrgotts Kanzlei" bezeichnet worden – das Gegenteil trifft zu! Oder sie beruft sich zustimmend auf eine ältere Forschungsposition, die Flacius' im "Catalogus" geübte scharfe Kritik am spätmittelalterlichen Bettelordenswesen auf seine Ablehnung religiöser Neuerungen nach der Urkirche zurückführt. Dies ist natürlich einerseits richtig, unterschlägt aber andererseits die prinzipielle, theologisch begründete Ablehnung der Elite-Ethik des Mönchtums durch die Reformatoren, die sich im Falle der als faul und heuchlerisch angesehenen Mendikanten in den breiten Strom des spätmittelalterlichen Antiklerikalismus einordnet.

Da Hartmann auf religiöse und kulturelle Problemkonstellationen des 16. Jahrhunderts nicht eingeht, kann Flacius ohne weiteres als "Humanist" durchgehen. Der Obertitel des Buches bindet zwar "Humanismus und Kirchenkritik" zusammen – allerdings ist dieser Titel so unspezifisch, dass auch ein Erasmus-Buch so überschrieben sein könnte. Eine klare Definition dessen, was sie mit Humanismus genau meint, bietet Hartmann nicht.
Dass "Humanismus" nicht nur die Beschäftigung mit antiken, sondern auch (oder ausschließlich) mit mittelalterlichen Schriftstellern einschließen kann, dass es bei Flacius ganz und gar nicht - "typisch humanistische" - nationale oder Bildungs-Motive sind, die ihn antreiben: All dies sind Probleme, die eine Diskussion des verwendeten Humanismusbegriffes hätte klären können. Wenn Hartmann schreibt, Flacius sei nicht in seinen Motiven, wohl aber in seinem "wissenschaftlichen Bemühen ... genuin humanistisch" (209), dann setzt dies voraus, dass man zwischen Humanismus als Weltanschauung und Humanismus als Technik trennt. Die Problematisierung des Humanismus im beginnenden konfessionellen Zeitalter ist hier in nuce enthalten. Es wäre schön und hilfreich gewesen, sie auch zu explizieren. In den "Catalogus testium veritatis" sind kaum Humanisten aufgenommen, wie Hartmann ausführt, und wenn, so muss man hinzufügen, aus eher nicht humanismusspezifischen Gründen. Der – so heißt es an anderer Stelle – "echte Humanist" (140) Matthias Flacius war gleichzeitig ein paranoider Apokalyptiker und ein Pionier der konfessionellen Kontroverse.

So bleibt abschließend festzustellen, dass Martina Hartmanns Buch durch den einen oder anderen Seitenblick und durch eine klarere Terminologie noch gewonnen hätte - vor allem hätte es an Anziehungskraft gewonnen, die über den engsten Kreis der für Handschriftenforschung zu Begeisternden hinausreicht. Es wird eine mutmaßlich kleine Anzahl von Spezialisten sein, die dieses Buch benutzen werden. Diese werden es allerdings mit Gewinn tun.

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