W. Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage

Titel
Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918


Autor(en)
Schivelbusch, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 35,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eberhard Demm, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg/Université Jean Moulin Lyon

Der in New York als freier Schriftsteller und zeitweise als DFG-Forschungsstipendiat lebende Wolfgang Schivelbusch ist von Hause aus Philosoph und Literaturwissenschaftler und hat sich insbesondere mit kulturhistorischen Gesamtdarstellungen über Eisenbahnen oder Genussmittel einen Namen gemacht. Das vorliegende Buch ist allerdings viel anspruchsvoller. Es geht um nichts weniger als einen Vergleich von drei Niederlagen - die amerikanischen Südstaaten 1865, Frankreich 1871 und Deutschland 1918 - die, so Schivelbuschs These, in den besiegten Völkern „aus tiefer Demütigung kommende<n> Energieschübe“ ausgelöst (Klappentext) und zu einer kraftvollen Regenerierung geführt haben. Die Besiegten seien die eigentlichen Sieger gewesen: „So kam es in Frankreich nach 1871 zu umfassenden politischen und kulturellen Neuerungen; so brach das Deutsche Reich, nachdem der Erste Weltkrieg verloren war, auf etlichen Feldern in eine kraftvolle Moderne auf.“ (Klappentext)

Für seine These stützt sich Schivelbusch auf Arnold Toynbee und Reinhart Koselleck. In der Tat gehören Niederlagen zu Toynbees „challenges“, die als „stimuli of blows“ wirken können. Koselleck allerdings hatte sich nur über die Historiographie der besiegten Staaten geäußert, Schivelbusch aber bezieht dies auf ihre gesamte politische, soziale und kulturelle Entwicklung, was eine nicht unwesentliche Erweiterung, man kann auch sagen, Vergröberung, darstellt.

Wer sich Schivelbuschs Belege ansieht, wird enttäuscht sein. In den amerikanischen Südstaaten ist nach ihrer Niederlage außer Plantagenromantik à la „Vom Winde verweht“ und Intellektuellengerede vom „New South“ auch nicht der Schatten eines innovatorischen Energieschubs zu erkennen. Der Süden bleibt weiter völlig hinter dem dynamischeren Norden zurück, was auch Schivelbusch schließlich zugeben muß. (S. 102)

Aber auch in Frankreich ist nach 1871 von Neuerungen nichts zu spüren. Im Vergleich zu der atemberaubenden Entwicklung im siegreichen Deutschland stagniert das Land demographisch und wirtschaftlich vollständig, einzig die Schule wird durch Jules Ferry reformiert, aber erst 1881, also zehn Jahre nach dem verlorenen Krieg. Die umstrittene Kolonialexpansion Ferrys um die gleiche Zeit war schon gar nichts Neues, sondern setzte nur frühere Initiativen wie die Besetzung Algeriens und die imperialistische Ausbeutung Ägyptens fort.

Die Weimarer Republik scheint am ehesten Schivelbuschs Modell zu entsprechen, gelten doch die „Goldenen Zwanziger Jahre“ als eine besondere Blütezeit oder gar als „Geburt der Moderne“. Diese traditionelle Sicht übersieht allerdings zweierlei: Auf wirtschaftlichem Gebiet kamen die entscheidenden Innovationen wie Taylorismus, Fließbandproduktion und Rationalisierung von der amerikanischen Siegernation, und sie wurden in Deutschland eher zögerlich und mit Verspätung übernommen. Der innovatorische Schub, der angeblich von der Niederlage Deutschlands ausging, war, wie Schivelbusch selber zugeben muss, rein rhetorisch. (S. 33) Auch die kurze Hochkonjunktur 1919/21, auf die Schivelbusch hinweist, war von keinerlei Innovationen begleitet, sondern erfolgte auf dem Rücken der verelendeten Arbeiterschaft. 1 Die wirtschaftliche Erholung von 1924 bis 1929 resultierte nicht aus wirtschaftlichen Innovationen, sondern hing am Tropf der amerikanischen Kredite und brach 1929 wie ein Kartenhaus zusammen.

Bleibt das Argument der Weimarer Kultur. Aber auch hier denken Historiker und Publizisten (Thomas Nipperdey, Wolf Jobst Siedler) inzwischen anders. Die eigentliche Achsenzeit des 20. Jahrhunderts war die wilhelminische Epoche und ihr Pendant in Österreich. Alle bahnbrechenden Entwicklungen, von denen die Weimarer Republik und selbst unsere Zeit noch zehren, begannen zwischen 1890 und 1914: Physik (Quanten- und Relativitätstheorie), Soziologie (Max Weber), Psychoanalyse (Sigmund Freud, Carl Gustav Jung), Architektur („Sachliche Kunst“ und Werkbund), Musik (Gustav Mahler, Arnold Schönberg), emanzipatorische Pädagogik (Hugo Gaudig, Gustav Wyneken, Georg Kerschensteiner), Jugendkultur, Jugendbewegung und Frauenemanzipation sowie natürlich der Expressionismus in Literatur und Kunst.

Schivelbuschs Hauptthese ist also nicht zu halten, aber auch andere Diskurse sind problematisch. Kein seriöser Historiker glaubt mehr an das mehrfach bemühte „Augusterlebnis“ (S. 43, 246, 258, 264 f., 276 ff.), d.h. an die Begeisterung beim Ausbruch des Weltkrieges, die die Mentalität entscheidend geprägt habe, und Schivelbusch nimmt die einschlägige Literatur (Jean Jacques Becker, Jeffrey Verhey, Christian Geinitz, Thomas Raithel) nicht zur Kenntnis. Darüber hinaus war selbst der Mythos als solcher im Deutschland der zwanziger Jahre keineswegs allgemein akzeptiert, wie Schivelbusch behauptet, sondern beschränkte sich zusammen mit Dolchstoßlegende und Langemarck (das Schivelbusch übrigens vergißt) ausschließlich auf das nationale Lager. In der sozialdemokratischen Milieukultur waren ganz andere Interpretationen wie der Kastengeist der Offiziere oder die Entbehrungen der Soldaten verbreitet, ähnlich bei den Katholiken. 2 Auch die harte Frontgeneration mit Anspruch auf die Führung der Nation (S. 277 ff.) gedieh nur im Dunstkreis des Soldatischen Nationalismus und kann nicht pauschal mit der „lost generation“ der Sieger kontrastiert werden, schließlich beschwor man auch von prominenter deutscher Seite die „Generation [...], die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“ 3 Am wenigsten kann Ludwig Reiners’ Buch „In Europa gehen die Lichter aus“ von 1954 (!) für die Mentalität der zwanziger Jahre in Anspruch genommen werden (S. 240).

Schivelbusch dürfte eigentlich selbst gemerkt haben, daß seine Thesen sich nicht halten lassen. Um seinen Argumenten aber größere Überzeugungskraft zu verleihen, bemüht er pseudopsychologische Interpretationen. So „begründet“ er das Augusterlebnis folgendermaßen: „Wie die Geburt vom Fötus als die Befreiung von der als zunehmend beengend empfundenen Situation im Uterus, so werde der Kriegsausbruch als Befreiung aus einer als zunehmend spannungsgeladenen auswegslosen Konfliktsituation erlebt.“ (S. 347). An anderer Stelle heißt es, daß sich Verliererkulturen durch eine Feminisierung der Rhetorik auszeichnen (s. Jeanne d’Arc-Kult in Frankreich nach 1871). Nun sind aber leider die deutschen „Verlierer“ durch Männlichkeit und „Homosozialität“ geprägt. Kein Problem. Schivelbusch fragt, ob nicht „der hier vorherrschende Totenkult als verdeckter Mutterkult der Nation zu verstehen sei“, und erklärt: „Der Heldentod gesehen als die Gewinnung der Unsterblichkeit wäre dann lediglich ein anderer Weg der Vereinigung des Sohnes mit der oder Rückkehr in die Mutter“ (S. 353). Mit solchen Spekulationen „to make the facts fit the theory“ wird die Psychohistorie nur diskreditiert.

Das zweite Mittel, um unbedarfte Leser zu beeindrucken, sind zahlreiche Zitate aus der Sekundärliteratur, die im Text bis zu einer Seite einnehmen (z.B. S. 56f., S. 76) oder sogar bis zu viermal hintereinander geschachtelt werden (S. 66, S. 242f.). Primärquellen stammen fast nur aus zweiter Hand, was manchmal dazu führt, daß sogar Hitler und Ley auf Englisch zitiert werden. (S. 428.) Immerhin muss man anerkennen, dass sich Schivelbusch nicht mit fremden Federn schmückt und Quellenzitate aus der Sekundärliteratur als eigene Funde ausgibt, wie es heutzutage leider nicht selten geschieht. Die Anmerkungen stehen hinter dem Text, was zu mühsamem Hin- und Herblättern zwingt, aber Schivelbusch die Möglichkeit bietet, seine Lesefrüchte mit noch längeren Zitaten auf bis zu 2 Seiten auszubreiten. Da oft noch umfangreiche exkursähnliche Reflexionen des Autors hinzukommen, sind die Anmerkungen überdimensioniert: Auf 345 Seiten Text kommen 160 Seiten kleingedruckte Anmerkungen. Die Auswahl der Literatur ist willkürlich. Wichtigen Standardwerken stehen journalistisch-oberflächliche oder rein spekulative Arbeiten gegenüber, es fehlt selbst der Ansatz einer kritischen Auseinandersetzung. „Eklektisch-journalistisch“ könnte man mit Schivelbuschs falschem Rathenauzitat (S. 235, richtig zitiert S. 275) diese Arbeitsmethode charakterisieren. Formell passt dazu, dass es keine Konklusion gibt, sondern die Ergebnisse der Studie bereits in der Einleitung zusammengefasst werden.

„Schivelbuschs Buch wird Staub aufwirbeln“, schreibt Schivelbusch im Klappentext. Das tut es in der Tat. Der Leser gerät unter eine Staublawine aus faktischen Irrtümern, vorschnellen Schlussfolgerungen, logischen Kapriolen und metaphorischen Geistreicheleien, die an die raunenden Interpreten vorgestriger Literatur- und Geistesgeschichte erinnern. Schade, denn Schivelbusch kann mehr, das hat er in früheren Büchern bewiesen. Leider fehlt mir der Raum, um alle Irrtümer, u.a. die völlige Verzeichnung Ludendorffs (S. 230 u. 270), zu berichtigen. Daher nur vier Beispiele:

Schivelbusch: Verlierer neigen mehr zur Barbarisierung des Gegners als Sieger. Beweis: die alliierte Kampagne gegen Deutschland zu Anfang des Krieges (als die Deutschen überall siegten) und das Fehlen einer deutschen Antwort. Falsch, denn: Die deutsche Kriegsführung in Belgien und Nordfrankreich war von einer bisher unbekannten Grausamkeit und Willkür gegen die Zivilbevölkerung und bot der Propaganda genügend Nahrung.4 Die Deutschen konnten nicht antworten, weil während des ganzen Krieges, von ein paar Quadratkilometern im Oberelsaß abgesehen, keine britischen oder französischen Soldaten auf deutschem Territorium standen. Dafür wurden die „Greuel“ der Russen in Ostpreußen von den deutschen Siegern propagandistisch ausgeschlachtet. 5 Ein Beispiel dafür, wie ungenügende Faktenkenntnis zu falschen Schlußfolgerungen führt.

Schivelbusch: Für Hitler war die französische Dritte Republik „großes Vorbild“ und „leuchtend-heroisches Beispiel“, was mit einer isolierten Äußerung aus dem Jahr 1923 belegt wird. (S. 20, S. 252) Wohl eine zu schmale Grundlage für eine so weitgehende Interpretation.

Schivelbusch: die Sieger würden Geist und Kultur der Verlierer bewundern. Leider: Die Amerikaner gingen nicht nach Berlin, sondern in die bewunderte Siegermetropole Paris. Dies kleine Problem wird durch folgenden logischen Salto mortale bereinigt: „Da in ihren Augen aber der eigentliche Verlierer des Weltkriegs nicht Deutschland, sondern Europa hieß, entbehrte ihre Wahl nicht des richtigen Instinkts.“ (S. 34)

Schivelbusch: im 2. Weltkrieg hätten nur die Alliierten zivile Ziele großflächig bombardiert. (S. 355) In jedem Schulgeschichtsbuch kann man nachlesen, dass es Hitler war, der mit der Bombardierung ganzer Städte wie Rotterdam und Coventry den Terror gegen die Zivilbevölkerung eröffnete.

Leider ist der Fall symptomatisch für eine gewisse Art der Berichterstattung in den deutschen Medien. Mit großem Aufwand zur Buchmesse 2001 lanciert, wurde das Buch in allen überregionalen Tageszeitungen hochgelobt, in der „Literarischen Welt“, die allerdings seit dem Redakteurwechsel im letzten Jahr sehr an Niveau verloren hat, war es das „Buch der Woche“, in der FAZ erschien die Rezension sogar mit einem Bild des Autors - als gelernter Journalist verfügt Schivelbusch natürlich über einschlägige Kontakte. Für den Absatz ist das heutzutage wichtiger als die Qualität eines Buches. Leider scheinen nicht nur Außenseiter wie Schivelbusch, sondern auch immer mehr Philosophen, Soziologen und Philologen zu glauben, dass eigentlich jeder Geschichtsbücher schreiben könne. Aber einfach irgendwelche Bücher lesen, exzerpieren und daraus mit einer reißerischen Fragestellung einen neuen Aufguss destillieren, reicht eben nicht. Man muss die Spreu vom Weizen trennen, darf nicht allen Zeugnissen trauen und nicht „jump to conclusions“, muss den Stand der Forschung beachten und natürlich zentrale Aspekte dort klären, wo durch Sekundärreflexion unverfälschte Zeugnisse zu sichten sind: an gedruckten und archivalischen Quellen - zugegeben, ein mühsames und langwieriges Verfahren, für das eben nur professionelle Historiker die Geduld aufbringen. Andere sollten lieber die Finger davon lassen.

Anmerkungen:
1 Harry Graf Kessler, Kinderhölle in Berlin, Berlin 1921; Otto Rühle, Das proletarische Kind, 2. Aufl. München 1922.
2 Benjamin Ziemann, Die Erinnerung an den ersten Weltkrieg in den Milieukulturen der Weimarer Republik, in: Thomas F. Schneider (Hg.), Kriegserlebnis und Legendenbildung, Bd. 1, Osnabrück 1999, S. 249-270.
3 Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929, Prolog.
4 Vgl. dazu die bekannten Studien von John Horne und Alan Kramer von 1994, inzwischen in erweiterter Form: German Atrocities 1914. A History of Denial, New Haven und London 2001.
5 Eberhard Demm, Der Erste Weltkrieg in der internationalen Karikatur, Hannover 1988, S. 71, S. 160f.

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