Titel
Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust


Autor(en)
Levy, Daniel; Sznaider, Natan
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 18,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Holger Kirsch, Universität Bielefeld

Auschwitz sei „zur Signatur eines ganzen Zeitalters geworden“, schrieb Jürgen Habermas im Kontext des ‘Historikerstreits’ 1: „Hier ist etwas geschehen, was bis dahin niemand auch nur für möglich halten konnte. Hier ist an eine tiefe Schicht der Solidarität zwischen allem, was Menschenantlitz trägt, gerührt worden; die Integrität dieser Tiefenschicht hatte man bis dahin (...) unbesehen unterstellt. Ein Band von Naivität ist damals zerrissen worden – eine Naivität, aus der fraglose Überlieferungen ihre Autorität geschöpft, von der überhaupt geschichtliche Kontinuitäten gezehrt hatten. Auschwitz hat die Bedingungen für die Kontinuierung geschichtlicher Lebenszusammenhänge verändert – und das nicht nur in Deutschland.“ Inzwischen, mehr als ein Jahrzehnt nach Habermas’ Essay, ist die Chiffre ‘Auschwitz’ tatsächlich ein globaler Referenzpunkt geworden, und es ist zu fragen, wie dieses Phänomen zu bewerten ist.

Die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider interessieren sich nun weniger für die Holocaust-Erinnerung als solche; ihnen geht es primär um die Mechanismen (welt)gesellschaftlicher Integration (S. 9 f.): „Der Umgang mit dem Holocaust (...) öffnet exemplarisch unser Verständnis für neue Erinnerungskulturen in der Zweiten Moderne. Weiterhin behaupten wir, daß Erinnerungen an den Holocaust in einer Epoche ideologischer Ungewißheiten zu einem Maßstab für humanistische und universalistische Identifikationen werden.“ Während in der „Ersten Moderne“ der nationalstaatliche Rahmen vorrangig gewesen sei, lasse sich in der „Zweiten Moderne“ eine „Entortung von Politik und Kultur“ beobachten (S. 9), und die Soziologie müsse dem Rechnung tragen.

Das Buch ist flüssig geschrieben, allerdings etwas redundant und nicht allzu systematisch angelegt. Die Grundthesen lassen sich knapp wiedergeben:

1. Daß gerade der Holocaust gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit findet, hänge damit zusammen, daß er sich als „Maßstab der Unterscheidung zwischen gut und böse“ (S. 15) besonders eigne. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation sei hier noch am ehesten Orientierung zu finden (S. 234): „Die Dichotomie zwischen hilflosen Opfern, die grausamen Tätern gegenüberstehen, bietet moralischen Halt und Gewißheit, vielleicht die letzte Gewißheit in der neuen ungewissen Welt der Zweiten Moderne.“ Die oft diskutierte Frage der ‘Einzigartigkeit’ werde auf scheinbar paradoxe Weise beantwortet (S. 146): „Der Holocaust wird als einzigartiges Ereignis vergleichbar.“ Im Kampf um Anerkennung müßten Opfergruppen ihr Leiden in eine Analogie zur Judenverfolgung bringen und die Täter mit den Nazis parallelisieren (vgl. S. 222); die ‘Einzigartigkeit’ des Holocaust werde also gerade im Modus des Vergleichs bekräftigt. Damit trete auch der bisherige Gegensatz zwischen Universalismus und Partikularismus des Erinnerns in den Hintergrund.

2. Der Holocaust bedeute freilich nicht auf der ganzen Welt das gleiche. Mit dem Begriff der „kosmopolitischen Erinnerung“ erfassen Levy und und Sznaider „das Wechselverhältnis von globalen und lokalen Erinnerungen“ (S. 149). Sie beobachten „keineswegs das Ende der nationalen Gedächtnisstrukturen, sondern ihre Verwandlung in ein komplexes (...) Terrain, auf welchem verschiedene Gruppen unterschiedliche Interpretationsmuster für das Globale haben“ (S. 38 f.). Insofern sei das neuere Holocaust-Gedenken paradigmatisch für den Prozeß der Globalisierung (S. 20): „Die Charakterisierung der globalen Kultur als angeblich zeitlos und erinnerungslos basiert auf einem beschränkten Verständnis von Globalisierung, in welchem Kultur einer weltweiten Homogenisierung ausgesetzt ist. (...) Ein weitaus sinnvollerer Ausgangspunkt für die Analyse ist die Einsicht, daß es sich um Hybridbildungen handelt, die sich aus globalen und nationalen Elementen zusammensetzen.“

3. Die Vermittlungsformen der Massenmedien, die eine solche Durchdringung verschiedener Ebenen erst ermöglichen, seien nicht einfach als ‘falsch’, ‘inauthentisch’ oder ‘trivial’ abzutun (vgl. S. 42 ff.). Am Beispiel des Films „Schindlers Liste“ wenden sich Levy und Sznaider gegen manche Pauschalisierungen der Kulturkritik (S. 152-173). Zuschauer seien „auch Interpreten von Medienbotschaften“ und „durchaus in der Lage (...), die Filme jenseits der Absichten der Filmemacher zu rezipieren“ (S. 154).

4. Den Hoffnungen auf ein gruppen- und nationsübergreifendes Menschheitsgedächtnis wird häufig der Einwand entgegengebracht, daß der globale Bezugsrahmen allzu abstrakt und weit entfernt sei 2. Hier formulieren die Autoren ein historisch begründetes Gegenargument (S. 45): „Kann man sich mit ‘Anderen’ identifizieren, die man nicht kennt, die also außerhalb der lokalen Lebenswelt leben? Diejenigen, die dies für unmöglich halten, wollen wir daran erinnern, daß die Nation, die heute für viele als die ‘Solidaritätsstruktur’ par excellence gilt, für die man sogar bereit ist, sein Leben zu opfern, auf die man stolz ist, die man bewußt auch ablehnen kann, genauso ‘vorgestellt’ ist wie die globale Gemeinschaft.“

5. Die von den USA ausgehende Kosmopolitisierung des Erinnerns sei des weiteren keine bloß formale Angelegenheit; sie verändere die Vergangenheitsdeutungen auch inhaltlich. Daniel Goldhagens Ansatz sei dafür ein gutes Beispiel (S. 177): „Mit einem fast schon brillanten Federstrich verankerte er die deutsche Kollektivschuld in der Vergangenheit, machte aber gegenwärtige Deutsche zu ‘schuldlosen’ Zuschauern aufgrund ihrer Amerikanisierung. Diese dritte Perspektive, jene der Zeugen, ist historisch betrachtet eine amerikanische Sichtweise, kann aber von den sogenannten Opfer- und Täterkollektiven übernommen werden.“ Ein anderes Beispiel sei die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg (S. 191): „Das Motto ‘Nie wieder Auschwitz’ ertönt nicht mehr ausschließlich aufgrund einer partikularen Erfahrung des Holocaust, sondern aufgrund des Wunsches, die täterzentrierte Erinnerung durch die Zeugenperspektive zu ersetzen.“ Nicht zufällig trägt das Kriegstagebuch des Verteidigungsministers den Titel „Wir dürfen nicht wegsehen“ 3. Levy und Sznaider betrachten solche geschichtspolitischen Legitimationsstrategien keineswegs kritiklos, bewerten die Universalisierung der Zeugenschaft insgesamt aber positiv (S. 236): „In der Ersten Moderne war die Unterscheidung zwischen der Tätererinnerung und der Opfererinnerung ein wichtiger Aspekt des gegenseitigen Unverständnisses und diente der Abgrenzung. In der Zweiten Moderne kommt ein Kompromiß zustande, der von der gegenseitigen Anerkennung der Geschichte des Anderen getragen wird. Es ist dieser Akt der Versöhnung, der zum zentralen Erinnerungserlebnis wird. (...) Was bleibt, ist die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte.“

Der Begriff der „kosmopolitischen Erinnerung“ changiert dabei zwischen Beschreibungskategorie und Postulat; in vielen Passagen des Buchs wird der Leser im unklaren gelassen, ob es sich um eine Analyse von Entwicklungstrends handelt oder um den normativen Entwurf einer zukünftigen Erinnerungskultur. Die „Fallstudien“ zur Geschichte der israelischen, amerikanischen und bundesdeutschen Holocaust-Erinnerung, die mit den übergreifenden Thesen verbunden sind, bieten wenig Neues und bleiben eher oberflächlich. So gehen Levy und Sznaider nur am Rande auf den Medienwandel ein, obwohl die Ausbreitung von Fernsehen und Internet ja eine entscheidende Voraussetzung des globalisierten Erinnerns darstellt. Wichtiger ist ihnen der Diskussionsimpuls, daß eine „Amerikanisierung“ des Holocaust nicht a priori nachteilig sei. Es zeichne sich ein neuartiger Inklusionsmechanismus ab (S. 206): „Die kosmopolitische Erinnerung an den Holocaust, die sich aus dem Ineinandergreifen lokaler Relevanz und globaler Bezüge ergibt, fungiert (...) als das gestaltende, nationenübergreifende Symbol für die Verletzung und Aufrechterhaltung der Menschenrechte.“

Eine solche Position mag bedenkenswert sein – zumal aus soziologischer Perspektive. Wenn man sich als Historiker aber für die Geschichtsbilder interessiert, die auf globaler Ebene entstehen, wird das Urteil weniger optimistisch ausfallen. Exemplarisch sei ein Dokument genannt, das Levy und Sznaider selbst anführen: die Abschlußerklärung der Stockholmer Holocaust-Konferenz vom Januar 2000. Dort hieß es unter anderem (zitiert nach S. 212 f.): „Die selbstlosen Opfer derjenigen, die sich den Nazis widersetzten und manchmal ihr eigenes Leben hingaben, um Holocaustopfer zu beschützen oder zu retten, müssen auch in unsere Herzen eingraviert werden. Die Tiefe dieses Schreckens und die Größe ihres Heroismus können Prüfsteine für unser Verständnis der menschlichen Fähigkeit für das Böse und das Gute sein. (...) Es scheint angemessen, daß diese erste große internationale Konferenz im neuen Jahrtausend sich verpflichtet, den Samen einer besseren Zukunft auf dem Boden der bitteren Vergangenheit zu säen. Wir fühlen das Leiden der Opfer und lassen uns von ihrem Kampf inspirieren.“

Ob derartige Bekenntnisse zur politischen Gegenwartsorientierung beitragen, ist mindestens fragwürdig 4; klar ist jedenfalls, daß sie die präzise Auseinandersetzung mit historischen Sachverhalten nicht gerade fördern. Was sich den einfachen Kategorien von ‘gut’ und ‘böse’, ‘Leiden’ und ‘Heroismus’ nicht fügt, bleibt ausgeblendet und wird durch die vermeintlichen Gewißheiten politisch-moralischer Lehren überdeckt. „Auschwitz, so scheint es, ist bis heute kaum Anlaß für Zweifel, eher für Versuche, die jeweils eigenen Deutungen der Geschichte mit einem endgültigen Beweis, einer Letztbegründung zu versehen, die über jeden Zweifel erhaben ist. (...) Das reale Auschwitz, die Massenvernichtung, wird von diesen Deutungen eher verborgen als im Gedächtnis bewahrt.“ 5

Daß die von Levy und Sznaider durchaus treffend beobachtete „Entortung“ des Holocaust einer solchen Derealisierung Vorschub leistet, lassen die Autoren undiskutiert, da es ihnen nicht in erster Linie auf historische Inhalte ankommt, sondern auf den globalen Vergemeinschaftungseffekt. Nur so wird es im übrigen möglich, die Erinnerung an den Holocaust und an die Terrorangriffe vom 11. September 2001 in einen Zusammenhang zu bringen 6. Für die Geschichtswissenschaft hat dies eine erhebliche Brisanz: Wenn der Nationalsozialismus nur noch als „Identitätsproblem“ und nicht länger als konkreter Ereigniszusammenhang gilt, bedarf es in der Tat „keiner (sogenannten) Experten“ mehr (S. 159). Die damit verbundenen Rationalitätsverluste wären aber beträchtlich.

Anmerkungen:
1 Jürgen Habermas, Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt a.M. 1987, S. 161-179, hier S. 163.
2 Vgl. etwa die skeptische Position von Avishai Margalit, Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen, Frankfurt a.M. 2000, S. 49-58.
3 Rudolf Scharping, Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovo-Krieg und Europa, Berlin 1999.
4 Als Kritik der Stockholmer Konferenz vgl. auch Michael Jeismann, Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Stuttgart/München 2001, S. 139-151.
5 Hanno Loewy, Auschwitz als Metapher, in: tageszeitung, 25.1.1997, S. 13 f.
6 Vgl. Natan Sznaider, Das doppelte Trauma, in: Frankfurter Rundschau, 25.9.2001, S. 21; ders., Holocausterinnerung und Terror im globalen Zeitalter, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 (2001) 52-53, S. 23-28.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension