Europäische Zivilgesellschaft , Staatsbürgerschaft

Hildermeier, Manfred; Kocka, Jürgen; Conrad Christoph (Hrsg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen. Frankfurt/M-New York 2000 : Campus Verlag, ISBN 3-593-36581-2 275 S. € 29,90

Conrad, Christoph; Kocka, Jürgen (Hrsg.): Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten. Hamburg 2001 : Körber-Stiftung, ISBN 3-89684-018-5 335 S. € 17,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wyrwa

Nach dem Auslaufen der rein sozialgeschichtlichen Bürgertumsforschung hat sich die Frage nach der bürgerlichen Gesellschaft als fruchtbare Perspektive für die historische Forschung erwiesen. Um zu einem attraktiven geschichtswissenschaftlichen Konzept zu werden, war freilich ein sprachlicher Umweg über die englische Civil Society oder die italienische Società civile zu nehmen. Politische Aktualität hatte der Begriff Zivilgesellschaft vor allem durch das politische Engagement und die kulturellen Initiativen mitteleuropäischer Dissidenten im real existierenden Sozialismus erhalten. Eine politische und soziale Kraft hatte sich in diesen Bewegungen formiert, die jenseits des Staates, aus dem Inneren der Gesellschaft innovative Kräfte und neue Impulse für die gesellschaftliche Entwicklung freisetzte. Diese sich selbst als zivilgesellschaftlich begreifende Bewegung, weckte bezeichnenderweise Erinnerungen an die Situation der Intellektuellen im Absolutismus, die sich in ähnlicher Weise als Gesellschaft von Bürgern dem Staat, der absoluten Monarchie widersetzten.

Anknüpfend an diesen ideengeschichtlichen Hintergrund definiert Jürgen Kocka, einer der einflussreichsten Mentoren dieser neuen Forschungsrichtung, Zivilgesellschaft als den "utopischen Entwurf" einer Zivilisation mündiger, gleichberechtigte und freier Bürger. Im Fokus der historischen Forschung steht damit "der Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Markt und Privatsphäre". Neben Jürgen Kockas begriffsgeschichtlicher Einleitung, in der er die zentralen Fragen und das Feld der Forschung umreißt, stellt Klaus von Beyme aus Sicht der Politikwissenschaft Zivilgesellschaft als ein normatives Konzept dar, das sich vor allem durch den "Rekurs auf die Individuen" auszeichnet. Karen Hagemann geht dem Konzept der "Bürgergesellschaft" aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive nach und skizziert die Debatten in der Zeit der Französischen Revolution und der entstehenden Nationalbewegung. Aufgrund ethnologischer Studien in Ungarn und Polen äußert Chris Hann seine Skepsis gegenüber dem Begriff Zivilgesellschaft, der zu sehr nach dem westlichen, vom Individuum ausgehenden gesellschaftlichen Modell gebildet sei und von den sozialen Fragen ableite. Im zweiten Teil des Sammelbandes wird eine Topographie zivilgeschichtlicher Entwicklungen in Europa präsentiert, die von Russland ( Manfred Hildermeier) über den Balkan (Holm Sundhaussen), Tschechien (Jan Kren), Bulgarien (Ivaylo Znepolski) und die Niederlande und Deutschland im Vergleich (Ton Nijhuis) führt. Hartmut Kaelble beschließt den Band mit einem Beitrag über die Demokratisierung des sich vereinigenden Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darin thematisiert er zwar auch Fragen der europäischen Zivilgesellschaft und einer europäischen Öffentlichkeit, merkwürdigerweise aber steht dieser Aspekt nicht, wie zu erwarten und zu wünschen gewesen wäre, im Mittelpunkt seines Beitrages.

Ohne Zweifel hat der Terminus Zivilgesellschaft "Hochkonjunktur", wie es auf dem Einband heißt, gleichzeitig handelt es sich jedoch um ein relativ junges historisches Forschungsfeld, so dass noch zu klären bleibt, für welche Fragen, für welche sozialen Kontexte und für welche historischen Epochen das Konzept ein hilfreiches Instrumentarium darstellt. Der analytische Wert des Begriffs verschiebt sich, wenn man die entstehende Zivilgesellschaft des 18. Jahrhunderts, das vor allem im Vereinswesen zum Ausdruck kommende zivilgesellschaftliche Engagement des 19. Jahrhunderts, das Scheitern der Zivilgesellschaft in Teilen Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert oder die zivilgesellschaftlichen Mängel und Defizite im Westeuropa der zweiten Hälfte des Jahrhunderts untersucht, Fragen, die in diesem Band noch nicht gestellt sind, aber hinreichend Stoff für weitere historische Forschungen bieten.

Problematisch indes wird die Verwendungsweise von neuen Begriffen - nach Beyme ist das Wort Zivilgesellschaft gar zu einem "Modebegriff" geworden - immer dann, wenn mit ihrer Hilfe alte Geschichten lediglich neu durchdekliniert werden oder wenn sie umstandslos auf historische Zusammenhänge bezogen werden, für die der Begriff kaum treffend ist; wenn Karen Hagemann etwa den frühen deutsch-nationalen Patrioten wie Jahn und Arndt attestiert, sie hätten eine "deutsche Bürgergesellschaft" im Sinn gehabt. War es doch gerade eine dem zivilgeschichtlichen Projekt entgegengesetzte Volksgemeinschaft, die sie intendierten.

Zu Fragen wäre auch, ob nicht zwischen Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft, zwei in dem Band synonym verwendete Termini, unterschieden werden sollte, in dem Sinne etwa, dass sich der Begriff Bürgergesellschaft auf die bürgerlichen Grundrechte und die Freiheit des Individuums bezieht, wohingegen Zivilgesellschaft das autonome und freiwillige Engagement in Vereinen und Assoziationen betont. Darüber hinaus sei angemerkt, dass eine semantische Dimension des Begriffs in dem Band gänzlich ausgeblendet bleibt, nämlich die Bestimmung von zivil im Gegensatz zu militärisch; im Duden immerhin die erstgenannte Bedeutungsebene. Aufgrund der begrifflichen Schwierigkeiten, die dieser Terminus bietet, schlagen sowohl Hann als auch Beyme vor, statt Zivilgesellschaft eher den Begriff 'Citizenship' in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen.

Dass auch dieser Begriff Konjunktur hat, zeigt der ebenfalls auf eine Tagung des >Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas< zurückgehende Band 'Staatsbürgerschaft in Europa'. Staatsbürgerschaft wird dabei nicht nur in dem engeren Sinne von 'Staatsangehörigkeit' verstanden, sondern bezieht sich, wie die Herausgeber in Anlehnung an die Definition des englischen Soziologen Thomas H. Marshall von 1949 formulieren, auf eine historische Sequenz von bürgerlichen Rechten, politischen Partizipationsrechten und sozialen Rechten. Zunächst werden historische Modelle diskutiert und im europäischen Vergleich analysiert, gezeigt, wie die Nation, so der prägnante Titel dieses Kapitels, ihre Bürger erfindet. Nur in der Epoche des Nationalstaates, so John Breuilly, hatte das Konzept der Staatsbürgerschaft einen einheitlichen und definitiven Charakter. Da diese Epoche nun zu Ende geht und Nationalstaaten ihren Charakter von "Machtcontainern" verlieren, weicht auch die Homogenität dieses Konzeptes auf. Dieter Gosewinkel stellte die beliebte Gegenüberstellung der angeblich gegenseitig sich ausschließenden deutschen und französischen Konzeption von Staatsbürgerschaft in Frage und zeigt die Überschneidungen und historischen Überlappungen von jus solis und jus sanguinis. Wie wenig diese Dichotomie sowohl aus historischer Perspektive als auch im Licht aktueller Veränderungen aufrechterhalten werden kann, macht Patrick Weil in einem Vergleich von 25 Staatangehörigkeitsgesetzen deutlich. Ute Gerhard schließlich geht den uneingelösten Frauenrechten in dem Konzept der Staatsbürgerschaft nach, zeigt die geschichtliche Entwicklung des feministischen Engagements und fragt nach einem Modell europäischer Bürgerrechte, in dem die Geschlechterdifferenz ebenso eingelöst wird wie die prinzipielle Forderung nach Gleichheit.

Wie wenig der Begriff der Diaspora, ein aus der jüdischen Geschichte entlehnter und in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften vielfach diskutierter Terminus, geeignet ist, die Probleme von nationalen Bindungen, politischen und sozialen Rechten und Staatsbürgerschaft zu erfassen, zeigen Rogers Brubaker und Yasemin Nuhoglu Soysal. Die historischen Entwicklungslinien und aktuellen Problemzonen der Staatsbürgerschaften in Europa werden am Beispiel der Balkanländer und Rumäniens (Holm Sundhaussen), Russlands (A. N. Medushewskij), Polens (Grazyna Skapska) und des Baltikums (Falk Lange) diskutiert, wobei auch der Frage der Staatsbürgerschaft in den drei 'europäischen' Erben des Osmanischen Reiches, Türkei, Libanon und Israel, (Günter Seufert) nachgegangen wird.

Dass es nicht zuletzt aktuelle politische Fragen waren, die diese Tagung angeregt haben, zeigen die Beiträge von Bernd Schulte, der die sozialen Grundrechte, wie sie in der Charta der Europäischen Union festgelegt sind, diskutiert, Egils Levits, der dem Verhältnis von Minderheitenrechten und Demokratie nachgeht, und schließlich die Betrachtung von Georgios Tsapanos über die Einwanderungsdebatten in der Bundesrepublik Deutschland.

Es kann nicht überraschen, dass einzelne Begriff der Debatte mitunter verschieden bewertet werden: Sundhaussen zum Beispiel lehnt den Begriff der Minderheiten wegen seiner diskriminierenden Komponente ab, während er für Levits grundlegend für den Bestand der Demokratie ist, Soysal argumentiert überzeugend gegen den Begriff der Identität, während er für Lange konstitutiv ist für die politischen Erfahrungen im Baltikum. Wesentlicher für die Produktivität der hier eingeschlagenen Fragestellung ist, dass sie zeigen, wie eng die Fragen von Staatsbürgerschaft mit der Ausbildung der Zivilgesellschaft zusammenhängen, und wie sehr die gegenwärtige politische Entwicklung in Europa alte Konzepte fragwürdige erscheinen lässt und neue Perspektiven bietet. Das Zeitalter des Nationalen geht zu Ende, und Europa wird zum Fokus neuer Fragen an die Geschichte.

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