Titel
Ästhetik im Umbruch. Zur Funktion der "Rede über Kunst" um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund


Autor(en)
Storim, Mirjam
Erschienen
Tübingen 2002: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen

Das kulturtheoretische Denken der Zeit um 1900 ist in den letzten Jahrzehnten unter verschiedenen Perspektiven recht gründlich ausgeleuchtet worden – ausgehend von der weithin geteilten Annahme, dass in dieser Periode des Umbruchs wichtige Deutungs- und Handlungsmuster für das 20. Jahrhundert konzipiert wurden. Mirjam Storims Arbeit, eine Münchner literaturwissenschaftliche Dissertation, tritt an, hier eine neue Perspektive zu eröffnen. Sie benutzt dazu den systemtheoretischen Ansatz Luhmannscher Prägung, den Georg Jäger, aus dessen Schule die Studie stammt, seit längerem in der Germanistik anzuwenden versucht. Das macht es der Autorin unter anderem möglich, sowohl die damaligen Positionen und Kontroversen im Bezugsfeld von Ästhetik, Ethik, Kunst und Gesellschaft wie auch deren bisherige historiographische Darstellung auf dieselbe Betrachtungsebene zu bringen; beides seien Beschreibungen, die soziale Wandlungsprozesse mit dem Mittel spezifischer Semantiken unterscheidend formulieren, um sie als Deutungsangebote in die gesellschaftliche Kommunikation einzuspeisen.

In ihrer Beschreibung der Beschreibungen geht es Storim nicht um deren Wahrheit im Sinne der Wirklichkeitsreferenz. Sie interessiert sich für die verwendeten Semantiken, und zwar für deren Funktion im grundlegenden Wandel, den die Luhmannschule für die sozialen Unterscheidungssysteme auf dem Weg in die Moderne postuliert. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert, so das Grundaxiom, werde als dominierendes Muster zur Ordnung und Ausbildung gesellschaftlicher Komplexität stratifikatorische durch funktionale Differenzierung abgelöst. Das Kriterium der Herkunft verliere an Einfluss für Unterscheidungs- und Hierarchisierungsprozesse; an seine Stelle trete das Schema spezifischer Kompetenzen in den sich ausdifferenzierenden sozialen Teilsystemen.

Leitfrage der Arbeit ist, mit welchen Elementen die verschiedenen Semantiken arbeiten, um Gesellschaft sinnhaft und orientierend zu beschreiben. Und eine zentrale These Storims lautet, dass historische Selbstbeschreibungen und historiographische Fremdbeschreibung in einem Punkt übereinstimmten: Beide präferierten eine Semantik, in der die Beziehung zwischen Milieu und Individuum zentral ist. Dabei handle es sich um eine Denkfigur, deren Anwendung auf eine funktional sich differenzierende Gesellschaft problematisch sei; in der müssten sich die Individuen an Kommunikationen innerhalb vieler Kontexte beteiligen und dafür ständig zwischen den Codes wechseln, die den jeweiligen Funktionssystemen zugrunde liegen. Die Dialektik zwischen geschlossen gedachten Subjekten und Milieus werde der konstitutiven Polykontexturalität der Kommunikationsprozesse nicht gerecht; sie entspreche eher der Epoche stratifikatorischer als der funktionaler Differenzierung und „versuche, neue Komplexitätsprobleme über alte Kategorien ... mit einem Schwerpunkt auf der Sozialdimension zu lösen“ (19 f.).

Das ist im Blick auf die Sozialgeschichtsschreibung auf jeden Fall bedenkenswert; ob die Konstruktion sozialmoralischer Milieus, zu denen man Akteure und Deutungsmuster in Beziehung setzt, optimal ist für die Rekonstruktion der geistigen Welten und Handlungsoptionen um 1900, das darf ruhig noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden. Die Frage wird in der Arbeit allerdings nicht weiter ausgeführt.

Im Blick auf die gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen um 1900 und deren normative Implikationen belegt Storim überzeugend, dass der Trend durchgängig auf die Weigerung hinauslief, den jeweiligen Werthorizont der ideologisch formierten Gruppen zu relativieren. Sie untersucht in zwei Kapiteln die Ästhetikentwürfe verschiedener weltanschaulich-philosophischer Provenienz (Monismus, Neukantianismus, Simmels Lebensphilosophie, Katholizismus, Historischer Materialismus) sowie die Thematisierung von Kunst und Ethik in den Debatten über „Schmutz und Schund“. Als Kern einer rückwärtsgewandten Ästhetik erscheint dabei der dialektische Werkbegriff, der Form und Inhalt strukturell auf dieselbe Weise verknüpft wie die zeitgenössischen Gesellschaftsbeschreibungen soziales Ganzes und Individuum als Allgemeines und Besonderes. Aus unterschiedlichen Milieus werden unterschiedliche Herleitungen des Schönen und Guten vorgeschlagen, doch sie treten alle mit Universalitätsanspruch auf, wollen verbindlich für die gesamte Gesellschaft Kunst und Sittlichkeit definieren. Nur bei dem Neukantianer Jonas Cohn, bei Georg Simmel und Karl Liebknecht sieht Storim Ansätze, von der normativen Ästhetik fortzuschreiten zu einer „beobachterabhängigen Semiotik“, die ihre Begriffe als Vorstellungshilfen und Arbeitshypothesen einsetze.

Die Funktion ästhetischer Argumente in der Auseinandersetzung um Schmutz und Schund untersucht Storim bei folgenden Gruppierungen: der christlich-konservativen Sittlichkeitsbewegung; den Jugendschriftenausschüssen der Volksschullehrer; der Sozialdemokratie; den neu sich formierenden Intellektuellen und verschiedenen Fraktionen des Buchhandels. Auch hier lautet der grundlegende Befund: Obwohl die einzelnen Strömungen einander mindestens genauso heftig bekämpften wie den Schund, stimmten ihre Semantiken in der Struktur überein; es ging jeweils darum, unter Berufung auf verbindliche Letztwerte das eigene Milieu zu homogenisieren und den Universalitätsanspruch der eigenen Gesellschaftsbeschreibung zu vertreten. Sittlichkeit galt als unverzichtbare Voraussetzung wahrer Kunst, und substanziell wurde sie aus der jeweiligen Weltanschauung abgeleitet.

Auch die Intellektuellen, die sich im Goethebund als eigene Gruppe in Differenz zu den „Gebildeten“ konstituierten, fanden zu keiner konsistenten Position. Einerseits gründete sich ihr Anspruch auf dem Prinzip Kritik, und so konnten sie „die vorgebrachten Universalbegriffe als Partikularwahrheiten kleinbürgerlicher Geister“ (183) attackieren; dabei spielten Satireblätter wie „Simplicissimus“ und „Jugend“ eine herausragende Rolle. Andererseits zählte jedoch die Ablehnung jeglicher Massenkultur zum gruppenintegrierenden Selbstverständnis; damit schlossen sie sich an die herkömmlichen Gesellschaftsbeschreibungen an, die den Kanon und das Urteil der „Gebildeten“ unreflektiert zum Maßstab für Kultur erhoben.

Nur der Kolportagebuchhandel erscheint im Sinne der Autorin auf der Höhe der Zeit. Bei der Verteidigung der populären, als Schund attackierten Lesestoffe berufe er sich auf die Nachfrage der Rezipienten und distanziere sich damit von allen objektiven Werttheorien in Ästhetik wie Ethik; er vertrete gegen die Zensur- und Bevormundungsansprüche der Milieuvertreter die „Deregulierung der Märkte nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im ästhetischen und ethischen Raum“ (223).

LeserInnen, die nicht fließend Luhmannsch sprechen, werden bei der Lektüre einige Mühe haben. Und zu wesentlichen Punkten präsentiert die Arbeit nur vorliegende Erkenntnisse in neuer Sprache. Der Rezensent fand viele Einzelaussagen und Verallgemeinerungen problematisch; auch die Luhmannschule übt einen Systemzwang aus, der zum Zweck einer idealtypischen Charakteristik Mehrdeutigkeiten und Widersprüche nivelliert. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine historiographische Studie, die in einem durch Theoriefragen und Typisierungen gegliederten Feld Differenzierungen, Übergänge und Mehrdeutigkeiten entfalten will.
Zwar findet auch der an Ästhetikdebatten und Schundkämpfen Interessierte kluge neue Deutungen, und das Register der Personen und Organisationen ist dabei sehr nützlich. Insbesondere die Öffnung über das bislang von Historikern ausgewertete Genre programmatischer Texte hinaus zu Satire, Legitimationskämpfen im Buchhandel und den Strukturen der neuen Massenliteratur selbst ist ein klarer Gewinn. Den Kern der Arbeit bildet jedoch die versuchte globale Neuperspektivierung, von der man hoffen kann, dass sie die Forschung zu den kulturellen und mentalen Umbrüchen um 1900 beleben wird. Der systemtheoretische Grundgedanke, Wissenschaft als Beobachtung von Beobachtern anzulegen, bringt historiographische Gewohnheiten in Reflexions- und Legitimationszwang; das kann nur nützlich sein.

In gewissem Sinn endet die Arbeit mit einem Pyrrhussieg. Sie weist überzeugend nach, dass die ästhetischen Semantiken praktisch aller relevanten Diskursmächte um 1900 weit davon entfernt waren, den Bedingungen einer Gesellschaft Rechnung zu tragen, die sich über polykontexturale Kommunikation konstituiert und die differenten Codes verschiedener Teilsysteme nicht mehr auf einen geschlossenen Wertekanon verpflichten kann. Wenn das so ist, stellt sich allerdings die Frage, ob der Bezugspunkt, der angebliche Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung, glücklich gewählt ist. Ein epochaler Wandel, der seit dem 18. Jahrhundert in Gang ist, eignet sich wenig, um zu bestimmen, welche sozialen Prozesse die Semantiken um 1900 nun historisch konkret bearbeiten. Und die Tatsache, dass kaum eine Gruppierung dem laut Luhmann grundlegenden Beschreibungsanspruch genügte, wirft doch die Frage auf, ob er dann wirklich so grundlegend gewesen sein kann.
Weil es keine Selbstverständlichkeit ist: Lektorierung und Korrektur geben keinen Anlass zur Kritik.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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