Titel
Alexandria Fata Morgana.


Herausgeber
Sartorius, Joachim
Erschienen
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
PD Dr Dieter Haller, Vergleichende Kultur- und Sozialwissenschaft, Europa Universität Viadrina

Mit diesem Buch liegt uns eine Sammlung von Texten vor, die sich zum ersten Mal – an ein deutschsprachiges Publikum wendend – dem Mythos einer Stadt nähert, die in geistes- und kulturhistorischer Perspektive eine nicht zu überschätzende Bedeutung erlangte: der ägyptischen Hafenstadt Alexandria. Die Texte, die der Herausgeber in diesem Band versammelt, sind schwerlich als wissenschaftlich zu bezeichnen; vielmehr wurden literarische und essayistische Beiträge unterschiedlicher Qualität zusammengefügt.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Mit den Texten im ersten Teil wendet sich der Herausgeber der Stadt als literarischem Mythos aus der Zeit vom XIX. bis zur Mitte des XX. Jahrhunderts zu, einer Epoche der kulturellen und ethnischen Vielfalt und der kosmopolitischen Offenheit. Es handelt sich um Gedichte, Reiseberichte, Briefe und Autobiographisches von Söhnen der Stadt wie Edwar Al-Charrat, Giuseppe Ungaretti, Filippo Tommaso Marinetti und Konstantinos Kavafis sowie von Literaten, die lange in der Stadt lebten (z.B. Lawrence Durrell) oder sie aus der Perspektive des Besuchers betrachten (z.B. Gustave Flaubert, E.M. Forster, André Gide).

Im zweiten Teil werden poetische Rekonstruktionen dieser Zeit eröffnet, und zwar durch Texte von Autoren, die diese Zeit nicht selbst erlebten und ein Bild von ihr vornehmlich aus den Werken der o.a. Autoren erhielten. Es handelt sich hier ausschließlich um Gedichte. Dass es sich dabei um eine nahezu ausschließlich deutschsprachige Rekonstruktion handelt, zeigt die Auswahl der Autoren. Mit Ausnahme von Christopher Middleton und Czeslaw Milosz werden uns nur Texte von Deutschen, Schweizern und Österreichern wie José Oliver, Armin Senser und Durs Grünbein präsentiert.

Schließlich verspricht uns der dritte Teil eine schlaglichtartige Beleuchtung des ptolemäischen und hellenistischen Alexandria, anhand von Texten der Dichter der großen Bibliothek, von Romanauszügen, Briefen und Reiseberichten etwa von Strabo und Diodoros.

Vor allem lernen wir also literarische Texte kennen. Dass das Buch dennoch in einem kulturwissenschaftlichen Forum besprochen zu werden verdient, verdankt es zwei Aspekten:

Zum Einen erfahren wir in dem Buch etwas über die Strahlkraft literarischer Mythen, die sich im Zusammenspiel der literarischen Primärtexte, der romantischen Rezeption durch den Leser und die Inanspruchnahme des Mythos durch zukünftige Generationen – diese können politisch, literarisch, historiographisch oder kulturwissenschaftlich motiviert sein. Zum anderen aber bieten die Texte dem Kulturwissenschaftler gegenwärtig den einzigen Zugang zu einer verschwundenen Welt, die heute von verschiedner Seite als Modell gesellschaftlicher Ordnung bemüht wird.

Unsere heutige Welt ist zum Einen durch die zunehmende Vernetzung der Welt durch Medien und Verkehrswege, durch die ökonomische Globalisierung, ein kosmopolitisches Ethos und die Multiethnisierung der Gesellschaften geprägt. Zum anderen jedoch finden fundamentalistische Bewegungen und nationalistische „Rück“besinnungen mehr und mehr Zulauf. Es ist kein Wunder, dass das Buch in dieser Zeit publiziert wird, in der das Vertrauen in die Bindekraft nationaler Einheiten in höchstem Maße herausgefordert und in pränationalen Kontexten nach Modellen sozialer Ordnung gesucht wird, die heute eventuell zur Orientierung dienen können. Dass es sich im zweiten Teil des Buches fast ausschließlich um deutschsprachige Autoren handelt, könnte darauf hinweisen, dass diese Suche vor allem eine deutsche Herzensangelegenheit ist. Solche Modelle finden wir in den kolonialen und imperialen Städten insbesondere des frühen XX. Jahrhunderts: das Triest der Habsburger, das Smyrna der Osmanen, das Tanger der Internationalen Zone, das Odessa der Romanows – und das Alexandria des osmanischen und des britischen Empire. All diese Städte haben gemeinsam (und insofern ist das vorliegende Buch über Alexandria paradigmatisch), dass ethnologische Studien oder solche anderer Disziplinen, die heutigen kulturwissenschaftlichen Anforderungen auch nur im Ansatze genüge täten, nicht durchgeführt wurden und dass wir uns auf andere Quellen verlassen müssen, um etwas über die Lebensrealität der Bewohner und die Art und Weise des gelebten Miteinanders der verschiedenen Gruppen zu erfahren. Neben demographischen Daten und historischem Archivmaterial sind dies vor allem literarische Zeugnisse ihrer Bewohner. So ist uns das österreichische Triest durch Italo Svevos Romane und das präbolschewistische Odessa durch die Erzählungen Isaak Babels zugänglich. Für das internationale Alexandria verfügen wir über weitaus vielfältigere literarische Zeugnisse, etwa die Poesie von Ungaretti und Kavafis, die vier Romane des Lawrence Durell und die Erzählungen E.M. Forsters, die dieses Buch versammelt.

Der vorliegende Band führt uns anhand exemplarischer literarischer Texte in zwei historische Epochen ein, die den literarischen Mythos Alexandria bestimmen: die Zeit der Ptolemäer, in der Alexandria mit seiner sprichwörtlichen Bibliothek das Geistesleben der Antike bestimmte, und das XIX. und frühe XX. Jahrhundert, in denen Alexandria ein Leuchtturm kosmopolitischen Lebens gewesen war.
Über den Niedergang des klassischen Alexandria erfahren wir wenig, der Herausgeber bringt diesen mit dem Brand der Bibliothek zu Zeiten Cleopatras – damals verfügte die Stadt über 600 000 Einwohner – mit der Eroberung durch die Muslime im 7. Jahrhundert und mit den Kreuzzügen zusammen. Vom 14. Jahrhundert bis zur Zeit Napoleons wurde aus der Metropole ein verarmtes Provinzkaff mit 8000 Seelen.

Der zweite Aufstieg Alexandrias zur kosmopolitischen Metropole des Mittelmeeres begann mit dem Ausbau des Hafens in der nachnapoleonischen Zeit und beschleunigte sich mit dem Bau des Suezkanals. Der wachsende Wohlstand erlaubte es den von den Errungenschaften der Moderne faszinierten Händlern, sich gesellschaftlich zu engagieren. „Alexandria war bald eine der ersten Städte Afrikas mit Strom, mit modernen sanitären Einrichtungen, Straßenbahnen und Straßenbeleuchtung, Zeitungen, Kinos und einer Börse.“ (S. 17) Das osmanische Millet System ermöglichte den nichtmuslimischen Gemeinschaften die Selbstverwaltung, sofern sie Tribut bezahlten. Insbesondere die christlichen Schulen – in denen neben Armeniern, Griechen, Maltesern, Briten, Franzosen und Italienern auch Juden und Muslime unterrichtet wurden – waren entscheidend für die Entstehung eines kosmopolitischen Ethos. Seine Anziehungskraft für Romantiker, für Ethnizitätsforscher und politische Visionäre der Gegenwart bezieht dieser Kosmopolitanismus gerade daraus, dass er den heutigen Modellen des linken Multikulturalismus und des rechten Ethnopluralismus eine Alternative eröffnet, indem er sich nicht am Modell des Individuums sondern der Persona orientiert: Während das moderne Individuum der Eindeutigkeit der ethnischen und kulturellen Zuordnung unterworfen ist, stand im Zeitalter der Imperien die territoriale Gemeinschaft im Vordergrund. Der Einzelne war entweder ‚local subject’, ‚alien subject’ oder ‚foreign resident’. Seine ethno-kulturelle Identität dagegen bestimmte sich aus dem Kontext: Man konnte in Alexandria mehreren Gruppen angehören, man konnte beispielsweise Grieche sein wenn man sprach und handelte, Albaner, wenn man heiratete, und Muslim, wenn man betete. Wurden Thessaloniki, Smyrna, Odessa und Triest spätestens nach dem 1. Weltkrieg in Nationalstaaten eingegliedert und damit nationalstaatlichen Homogenisierungsbestrebungen unterworfen, so hielt sich dieses Modell gesellschaftlicher Ordnung durch die britische Präsenz in Alexandria seit 1882 bis zur Nationalisierungspolitik Nassers zu Beginn der 1950er Jahre. Das Land wurde zentralisiert mit Kairo als Hauptstadt. Der gewählte Stadtrat wurde durch Gouverneure ersetzt, die Filmindustrie, die Verlage und Theater verlagerten sich ins Zentrum. Die Bevölkerung entflocht sich. Nach der Gründung Israels 1949 verließen die Juden die Stadt, nach dem Suezkrieg 1956 die Franzosen und Briten und nach der Verstaatlichung der Industrie 1961 emigrierten auch Griechen, Armenier und Italiener. Alexandria wurde zur monoethnischen Provinzmetropole.

Nach einer fast 50-jährigen Zeit des Niederganges bedient sich die Stadt heute beider Vergangenheiten – der Klassik und der Osmanisch-britischen – als Ressource für die Entwicklung. Die Bibliothek von Alexandria soll unter Schirmherrschaft der UNESCO wieder aufgebaut werden und Gebäude, in denen die Dichter des XIX. und XX. Jahrhunderts gelebt hatten, werden unter Denkmalschutz gestellt.

Und gerade hier offenbart das Buch seine Schwäche. Denn wir bekommen nur Brosamen zu picken über diese Inanspruchnahme der Stadt durch Akteure der Gegenwart, etwa durch die Tourismusbranche, lokale politische Akteure, die sich beispielsweise gegen die ernannten Gouverneure oder gegen Kairo in Stellung bringen, oder auch ‚nur’ durch lokale Künstler. Gerade dies wäre zu erwarten gewesen in einem Buch, das verspricht, sich einem literarischen Mythos zu nähern. Wenn der Herausgeber abschließend konstatiert, dass das Buch eine Lektion über die Macht der Literatur sei, so hätte man sich doch ein wenig mehr darüber erwarten können, worin diese Macht besteht. Die Analyse der Strahlkraft literarischer Rekonstruktionen von Orten – und sei sie auch noch so essayistisch – ist heute mehr denn je von Nöten, etwa bezüglich von Migrationstheorien, der biographischen Forschungsmethode oder bezüglich lokaler Identitätspolitiken. Diese Erwartung löst das Buch nicht ein. Das Verständnis des Herausgebers von Literatur ist zu ausschließlich von einem textimmanenten Verständnis geprägt und weniger von der Beziehung zwischen Text und gesellschaftlichem Kontext. Lediglich in der Einleitung wird auf diese Relation Bezug genommen, die einzelnen literarischen Textpassagen dagegen stehen recht unverbunden und uneingebettet nebeneinander. Hier hätte sich der kulturwissenschaftliche Leser mehr Corpus gewünscht.

Dennoch ist gerade dieses Buch auch akademischen Lesern zu empfehlen, insbesondere jenen, die sich mit der Genese, der Aufrechterhaltung und der longue durée von Städtebildern beschäftigen. Dafür bietet das Buch einen idealen Ausgangspunkt.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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