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Titel
Female acts in Greek tragedy.


Autor(en)
Foley, Helene P.
Reihe
(Martin classical lectures)
Erschienen
Princeton u.a. 2001: Princeton University Press
Anzahl Seiten
X, 410 S.
Preis
£ 26,95, $ 39,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Hartmann, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

"Wie lässt sich das Auftreten kraftvoller Heroinen in Tragödie und Komödie erklären, wenn die ehrbaren Frauen Athens wirklich ein so zurückgezogenes und stilles Leben führen mussten, und wie kommt es, dass das Thema des Geschlechterkampfes das klassische Drama wie ein roter Faden durchzieht?" Diese Fragen stellte S. B. Pomeroy bereits 1975 und forderte ein eingehende Untersuchung der offensichtlichen Diskrepanz "zwischen der gesellschaftlichen Realität der sterblichen Frauen und der dramatischen Welt der Heroinen".1 Diese Diskrepanz zwischen einer rechtlichen, ökonomischen und sozialen Abhängigkeit der Frauen Athens von Männern im realen Leben und dem vielfach bezeugten "autonomen Handeln und Reden" von Frauen in attischen Tragödien zu erklären, ist oft versucht worden.2 Auch Foley nimmt das Paradoxon von der Machtlosigkeit athenischer Frauen im realen Leben und ihrem kraftvollen Auftreten in der Tragödie zum Ausgangspunkt ihrer Studie (S. 8). Gleichwohl setzt sie sich bereits eingangs kritisch mit dieser Beobachtung auseinander und stellt ihre Prämissen vor, welche die Komplexität der Untersuchung illustrieren. Demnach würden in der Tragödie die tieferen Probleme der Bürgerschaft oft von ansonsten in der öffentlichen Debatte zum Schweigen verurteilten Personen artikuliert, z.B. von Frauen und Kindern. Die Tragödie legt somit ein Verständnis von Bürgerschaft vor, das sich nicht nur am Kriterium der Teilhabe an politischen Entscheidungen und Ämtern orientiert, sondern wesentlich weiter gefasst ist, nämlich die einzelnen Haushalte als politische Mikroorganismen wahrnimmt und somit auch Frauen als Polismitglieder mit einbezieht. Der einzelne Haushalt gerät in den Tragödien oft in Konflikt mit den Interessen des Gemeinwesens, und die Tragödie fokussiert eben jenes Spannungsverhältnis zwischen den offiziellen normativen Vorgaben, denen die Bürger unterlagen, einerseits und den Handlungsweisen der einzelnen Bürger, die nicht immer mit den Vorgaben in Einklang standen und im öffentlichen Diskurs ansonsten marginalisiert wurden, andererseits.

Das übergeordnete Ziel der Studie ist es zu zeigen, wie in der attischen Tragödie auf dem Weg der Darstellung von Geschlechterbeziehungen verschiedene Themen des sozialen, politischen und intellektuellen Lebens reflektiert, mögliche gesellschaftliche Probleme erfasst, durchgespielt und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Zu diesem Zweck gilt es laut Foley insbesondere die weiblichen Rollen in den Dramen zu analysieren (S. 6). Die von der Autorin als "anthropological approach" deklarierte Herangehensweise folgt der Forderung, bei der Interpretation jeweils zunächst den historischen Kontext zu erläutern, um aufzeigen zu können, inwiefern die Tragödien jeweils von den zeitgebundenen kulturellen Normen abwichen oder damit korrespondierten (S. 5). Dies geschieht konkret, indem den eigentlichen Analysen der Tragödien in den einzelnen, thematisch abgeschlossenen Kapiteln jeweils ein kurzer Überblick vorangestellt wird, der einen kulturhistorischen Rahmen umreißt, der vorwiegend auf mit sozial-anthropologischen Modellen operierenden Forschungsbeiträgen basiert. Es folgen jeweils eingehende Analysen der Tragödien, bei denen die philologische Akribie und der Reichtum der zitierten Quellen ins Auge fällt.

Die Arbeit versteht sich als Fortführung älterer Forschungen Foleys zu Frauen in der Tragödie; fünf von neun Beiträgen der vorliegenden Studie sind bereits zuvor publiziert worden und werden nun in überarbeiteter Form vorgelegt. Trotz des kompilatorischen Charakters erweist sich das Werk als einigermaßen kohärent. Das Buch gliedert sich neben Einführung und Konklusion in vier Kapitel.

In ihrer Untersuchung der Totenklage in der Tragödie ("The Politics of Tragic Lamentation") im ersten Kapitel geht Foley davon aus, dass die demokratische Polis den öffentlichen Ausdruck von Trauer bei Begräbnissen mit Hilfe einer Reihe von Gesetzen zu kontrollieren versuchte. In der Bewertung dieser Gesetze folgt sie jenen Forschungspositionen, die folgende Gesichtspunkte herausstellen: Erstens wurde in den Gesetzen vor allem die Totenklage der Frauen beschränkt, da sie von rivalisierenden Aristokraten zum Anlass für Blutrache genommen werden konnte. Zweitens wurde dadurch die ostentative Grabrepräsentation wohlhabender Aristokraten beschnitten. An die Stelle der individuellen Bestattungsfeiern sollte in der Demokratie das offizielle, kollektive Begräbnis der Gefallenen treten, das die toten Krieger heroisierte und nur eine reduzierte, reglementierte Form weiblicher Klage gestattete. Auffällig ist demgegenüber laut Foley, dass in der Tragödie (z.B. in Aischylos' Choephoroi) in Begräbnisszenen und anderen Kontexten genau jenes Klageverhalten gezeigt werde, dass in der Realität verboten war (S. 26), wobei mitunter sogar Männer als Klagende auftraten (S. 28f.). Zwar wird in der Tragödie vielerorts Unbehagen gerade gegenüber der weiblichen Klage laut; doch werden zuweilen auch die Versuche, das weibliche Klagen zu unterdrücken, ambivalent beurteilt (S. 55). Interessant ist die Beobachtung, dass die Totenklage in der Tragödie gerade in Zeiten ein Thema zu sein scheint, in denen diese Trauerrituale nach Aussage der überlieferten Gesetze und archäologischen Zeugnisse bei den tatsächlichen Begräbnissen kaum eine Rolle gespielt haben dürften. Ein klare Deutung dieser Beobachtung findet sich indes nicht.

Dem Kapitel II "The Contradictions of Tragic Marriage" legt Foley einige allgemein anthropologische, sich maßgeblich auf die Ergebnisse Jack Goodys stützende Überlegungen zu Erb- und Heiratsstrategien in eurasischen Gesellschaften zugrunde, die auch für die Gesellschaft des klassischen Athens relevant seien. Darauf basiert ihre Annahme, dass im klassischen Athen - im attischen Heiratssystem begründete - innerfamiliäre Spannungen gang und gäbe gewesen seien, welche sich aus der Erbtochterregelung, der Handhabe von Mitgiften, der informellen Macht der Frauen im Haushalt usw. ergeben konnten. Vor diesem Hintergrund wendet sich die Tragödie einem impliziten Vergleich zu, einem Vergleich zwischen dem archaischen Heiratssystem des Epos mit dem zeitgenössischen, attischen Heiratssystem. Folgende Eigenheiten werden dabei reflektiert: Im Heiratssystem des Epos wurde eine Frau völlig in den ehelichen Haushalt integriert, sie wurde nicht mit einer Mitgift ausgestattet, und die Erhaltung des Haushaltes konnte sowohl durch Konkubinen als auch durch Ehefrauen gewährleistet werden. Im attischen Heiratssystem klassischer Zeit hingegen wurde eine Frau der ehelichen Familie nur "geliehen", um Kinder zu gebären; ihr Leben lang behielt die verheiratete Frau zu ihrer Herkunftsfamilie eine Beziehung, die aktiviert werden konnte, wenn dieser Familie ein Erbe fehlte. In Athen existierte die Vorstellung, dass eine Frau ihren Gatten mit der Mitgift "kauft", mit einer großen Mitgift gar "versklavt"; die Reproduktion des Haushaltes war eingeschränkt durch diverse Gesetze, die das Bürgerrecht, Erbrecht und Ehebruch betrafen, und beispielsweise die Nachkommen von Konkubinen vom Erbe und Bürgerrecht ausschlossen.

Die Tragödie nimmt nun Foley zu Folge auf das Epos bezug, indem sie Frauen (seien es aristokratische Gattinnen oder Konkubinen nach Art des Epos) favorisiert, die homerischen Idealfiguren wie Penelope und Andromache gleichen. Eine tragische Gattin, die ihrem Wesen nach der homerischen Penelope ähnelt wie Euripides' Helena kann in der Tragödie Lösungen finden für anscheinend unlösbare mythische Dilemmata. Den impliziten Kontrast oder Vergleich zwischen dem epischen Heiratssystem einerseits und klassisch-athenischen Heiraten andererseits nimmt die historisch-gewachsene, konstruierte Natur des demokratischen Haushaltes in den Blick und gestattet der Tragödie, diese zu hinterfragen.

Das dritte und umfangreichste Kapitel stellt Frauen als moralisch handelnde Personen der Tragödien ins Zentrum ("Women as Moral Agents in Greek Tragedy"). Davon ausgehend, dass Frauen in Athen je nach Lebensstadium - als unverheiratete Jungfrauen, als Ehefrauen, oder schließlich als Mütter - unterschiedliche Verhaltensweisen zugestanden wurden und möglich waren, untersucht Foley jeweils die von Frauen unterschiedlichen Alters in Tragödien getroffenen "ethischen Entscheidungen" (ethical choices) und sucht, diese im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Aussagekraft zu deuten (S. 119). Obgleich Frauen im klassischen Athen nicht als voll handlungsfähige, erwachsene Personen angesehen wurden, stellt die Tragödie einige weibliche Charaktere als in moralischer Hinsicht autonom handelnde Personen dar, so etwa Euripides' Iphigenie in Aulis, die sich selbständig und freiwillig dazu entscheide, sich für die Stadt zu opfern, oder Euripides' ältere Mütter Aethra, Praxithea oder Jokaste, welche die Interessen der polis über die der Familie stellen; dass diese Frauen ihre Entscheidungen freiwillig treffen, ohne dass diese im wesentlichen kulturell vorgegeben sind, ist es, was diesen Figuren auffallende dramatische Autorität verschafft.

Diese Frauengestalten bewirken, indem sie als Handelnde scheinbar spezifisch weibliche Belange und Herangehensweisen zur Diskussion stellen bzw. wie die als androgyn charakterisierte Medea des Euripides einen inneren Kampf zwischen privatem/weiblichen Denken und männlichem/öffentlichen ausfechten (Kap. III, 5), dass in der Tragödie sowohl die häusliche als auch die öffentliche Welt miteinander verbunden werden. Erst diese Konstellation eröffnet die in der Tragödie geleistete Diskussion, ob öffentliche und private Moral mit denselben Kategorien operieren können. In der Vorführung der Frauen als moralisch handelnde Subjekte kann die Tragödie ausführen, dass ethische Entscheidungen, die in einem kleineren Rahmen wie dem Haushalt getroffen werden, nicht unbedingt denselben ethischen Modus benötigen wie die im Bereich des Öffentlichen; aber auch, dass der öffentliche Bereich nicht vom privaten isoliert werden kann.

Das letzte Kapitel IV ("Anodos Dramas: Euripides' Alcestis and Helen") widmet sich der Analyse zweier Tragödien, denen ein gemeinsames mythologisches Muster, nämlich der Anodos (Aufstieg), zugeschrieben wird. Das Motiv des Anodos ist dem Mythos vom Ab- und Aufstieg Persephones in das und aus dem Reich des Hades entlehnt, der mit dem Statuswechsel von der Jungfrau zur Braut in Verbindung gebracht wird. Hier wird das Anodos-Motiv zwei Tragödien unterlegt, in denen verheiratete Frauen jeweils gewaltsam von ihren Gatten getrennt werden, später jedoch in gewisser Weise wiederverheiratet werden und geradezu göttlichen Ruhm erlangen. Die Thematik des Ruhmes (kleos) steht Foleys Meinung nach im Zentrum dieser Stücke, in denen somit anhand der Frauengestalten ein gesellschaftlich relevantes Problemfeld durchgespielt wird. Obwohl in der athenischen Gesellschaft nicht vorgesehen war, dass eine Frau öffentlichen Ruhm für ihre Tugendhaftigkeit erlangte, war dies in der Tragödie möglich. So können die ambivalenten Konsequenzen aufgezeigt werden, die sich durch das Streben nach persönlichem Ruhm ergeben konnten.

Insgesamt liegt mit "Female Acts" eine äußerst materialreiche Studie vor, die inhaltlich weit über die Reflexion weiblicher Rollen in der Tragödie hinausgeht und zum Weiterdenken anregt. Grundsätzlich zu diskutieren wäre, inwieweit der zweifellos sinnvolle Ansatz, die Tragödien jeweils in ihren kulturellen Kontext zu stellen, mitunter dadurch unterminiert wird, dass eben jener "Kontext" bei Foley den Charakter eines a priori feststehenden Rahmens bekommt. Der "anthropological approach" darf nicht dazu dienen, ein Prokrustesbett aus vermeintlichen Fakten zu zimmern, in das die Tragödien dann gebettet werden. Sinnvoller ist die Diskussion und Gegenüberstellung verschiedenartiger Befunde unter Einbeziehung der anthropologischen Beobachtungen. Im Rückgriff auf die Anthropologie bekommen einige Kategorien bei Foley (z.B. privat - öffentlich) starkes Gewicht, deren heuristischer Wert für die Beschreibung der athenischen Gesellschaft nicht unstrittig ist, was Foleys eigene Ergebnisse noch bestätigen. Manchmal ist nicht ganz klar, was den Bürgern durch die Tragödien konkret vermittelt werden konnte und sollte. Es werden in den Ausführungen Foleys so viele Deutungsmöglichkeiten und denkbare Assoziationen aufgezeigt, dass manches Fazit etwas unscharf ausfällt. Am Schluss der Medea-Interpretation heißt es zum Beispiel, das Stück sei letztlich "an ambiguous inquiry into the relation between human ethics and social structure". Dies darf zweifellos für die meisten Tragödien angenommen werden.

Anmerkungen

1 Pomeroy, S. B.: Goddesses, Whores, Wives, and Slaves. Women in Classical Antiquity, 9. Aufl., New York 1984 (hier zitiert nach der deutschen Übersetzung, Stuttgart 1985, 139).
2 Vgl. z. B. Gomme, A. W.: The Position of Women in Athens in the Fifth and Fourth Centuries B.C., Classical Philology 20 (1925), S. 1-25; Slater, P.: The Glory of Hera, Boston 1968; Richter, D. C.: The Position of Women in Classical Athens, Classical Journal 67 (1971), S. 1-8; des Bouvrie, S.: Women in Greek Tragedy, An anthropological Approach (= Symbolae Osloenses Fasc. Suppl. XXVII), Oslo 1990; Harder, R. E.: Die Frauenrollen bei Euripides, Stuttgart 1993; Fantham, E. / Foley, H. P. / Kampen N. u.a. (Hrsg.): Women in the Classical World. Image and Text, Oxford 1994.

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