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Titel
Polisbild und Demokratieverständnis in Jacob Burckhardts "Griechischer Kulturgeschichte".


Autor(en)
Bauer, Stefan
Reihe
Beiträge zu Jacob Burckhardt 3
Erschienen
Basel 2001: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
EUR 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Jacob Burckhardt (= JB), seit 1858 Ordinarius in Basel, hat zwischen 1872 und 1886 wiederholt Vorlesungen über "Griechische Kulturgeschichte" (= GKG) gehalten. Den Plan einer Buchveröffentlichung hat er schließlich wieder aufgegeben. Der Text wurde posthum von seinem Neffen Jacob Oeri publiziert; während für die ersten beiden Bände eine ausgearbeitete Fassung vorlag, sind die beiden anderen auf der Grundlage des Vorlesungsmanuskripts bzw. einer Vorlesungsnachschrift ediert worden. Mit der GKG wandte sich JB - wie zuvor bei der "Zeit Constantins des Großen" (1853) und der "Kultur der Renaissance in Italien" (1856) - einer Epoche zu, die eine universalgeschichtliche Weichenstellung bedeutete. Er bietet eine systematische Darstellung der griechischen Kultur bis auf die Zeit des Hellenismus, die das Spannungsverhältnis zwischen Staat, Religion und Kunst thematisiert, wie er es in seinen Vorlesungen "Über das Studium der Geschichte" ("Weltgeschichtliche Betrachtungen") theoretisch entwickelt hat. Sein Ziel ist, eine "Geschichte der griechischen Denkweisen und Anschauungen" unter universalhistorischen Gesichtspunkten zu geben.

JB wendet sich gegen eine Verherrlichung des Griechentums im Sinne des deutschen Neuhumanismus, die "eine der allergrößten Fälschungen des historischen Urteils (sei), welche jemals vorgekommen". Er zitiert zustimmend August Boeckhs Feststellung, daß die "Hellenen unglücklicher (waren), als die meisten glauben". Denn ihre künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen, "worin sie die größte Überlegenheit über die seitherigen Völker und Zeiten geoffenbart", wurden unter höchst unglücklichen politischen Verhältnissen erzielt. JB bewertet äußerst kritisch die Polis, die "definitive griechische Staatsform", deren Darstellung er das Dante-Wort von der "Stadt der Schmerzen" voranstellt.

Die Vielfalt der autonomen Stadtstaaten war nach JB zwar einerseits eine Bedingung der Entfaltung kultureller Freiheit, forderte andererseits in den gnadenlosen Kämpfen zwischen den Poleis als "Lebenskonkurrenten" ihren Preis. Die Bedeutung des Alexanderreichs und seiner Nachfolgestaaten sieht JB in der Loslösung der Bürger von der Polis ("Apolitie"). Nur so konnte es zu der Transformation "des Hellenentums aus einer politischen in eine Kulturpotenz" und zur Verwandlung des "Bürgers" zum "Bildungsmenschen" kommen. So ist der "griechische Geist" auch den Römern und dem Mittelalter vermittelt und damit die "Kontinuität der Weltentwicklung" gesichert worden. Die Griechen haben somit die Grundlage für jene alteuropäische Kultur gelegt, deren Bestand JB in der eigenen Zeit aufs höchste gefährdet sah.

Stefan Bauer konzentriert sich in seiner, aus einer Aachener Magisterarbeit (!) hervorgegangenen Monographie auf den ersten Band der GKG, in der die Polis im Mittelpunkt steht. Die Darstellung der Entstehung der GKG (S. 60-72) 1 und der Beziehung zu Nietzsche (S. 73-86; ferner S. 213-221) wird eingebettet in einen Abriß von JBs intellektueller Biographie (S. 26-101), in dem besonders hervorgehoben wird, wie sein politisches Denken, die Sorge vor dem Despotismus der Masse, vor der Zerstörung traditioneller sozialer Bindungen durch den Kapitalismus und vor der Nivellierung der Bildung sich nicht nur aus der kritischen Beobachtung der verfassungspolitischen Entwicklungen in den großen europäischen Staaten, sondern gerade auch in der Schweiz bzw. in Basel speist.

Im zweiten Teil (S. 102-211) bietet Bauer dann einen, jeweils nach Resümee und Analyse unterschiedenen, kommentierenden Durchgang durch den 1. Band der GKG. Daß JB - entgegen der ursprünglichen Gliederung der Vorlesung - den Abschnitt "Die Griechen und ihr Mythus" an den Anfang gestellt hat, erkläre sich damit, daß er sich von einer (in der Mythenkritik des 19. Jahrhunderts gängigen) Herleitung der griechischen Kultur aus orientalischen Vorbildern distanzieren wolle (S. 109ff.), so wie er auch bei der Entwicklung der politischen Strukturen die Frühzeit konsequent ausblende (S. 207). Das paßt zu seinem Diktum: "Überall im Studium mag man mit den Anfängen beginnen, nur bei der Geschichte nicht".2

Bauer zeichnet im einzelnen JBs "Nachtgemälde" (Robert Pöhlmann) der Polis nach, in der sich eine "Staatsallmacht" zeige, die mit dem "Mangel an individueller Freiheit in jeder Beziehung Hand in Hand" gehe, eine "Staatsknechtschaft des Individuums", die sich ausweise im Fehlen "jeder Garantie von Leben und Besitz". Wenn auch Sparta als "vollendetste Darstellung der griechischen Polis" zu gelten habe (was bei JB keine Sparta-Idealisierung impliziert, S. 145f.), so zeige sich dieser Grundzug griechischer Staatlichkeit in besonderer Weise in der athenischen Demokratie, in der sich die politische Partizipation aller Bürger zu einer (sich zumal im "Terrorismus" der Volksgerichte manifestierenden) Tyrannei der Mehrheit auswachse.

Bauer bietet eine informative Kommentierung des Textes, die hier nicht im einzelnen referiert werden kann. Mit einer Seitenkonkordanz der verschiedenen Ausgaben der GKG, einer ausführlichen Bibliographie der Sekundärliteratur und einer Liste der Rezensionen zur GKG werden zudem wertvolle Hilfen für die weitere Beschäftigung mit dem Werk offeriert. Wenn im folgenden einige Desiderata bezeichnet werden, soll dies dem Respekt vor Bauers Leistung keinen Abbruch tun.

JB hat in seiner Einleitung die Distanz des "Nichtphilologen" zu den Verfahrensweisen der zünftigen Wissenschaft betont, deren Ergebnisse er souverän ignorierte. Dies hat ihm bekanntlich die harsche Kritik von Altertumswissenschaftlern wie Wilamowitz,3 Beloch und Eduard Meyer eingetragen (S. 124ff.), auch wenn dies eine überwiegend positive Aufnahme des Werkes nicht verhindert hat. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der GKG hätte es gehört, dieses Werk in Beziehung zu den Darstellungen der "Altertümer" und den Forderungen nach einer Neugestaltung dieses Genres zu setzen, die sowohl den Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit wie Lesbarkeit genügen sollte. Bauer geht diesem von Momigliano betonten Aspekt nicht ausführlich genug nach (S. 102ff.); so unterschätzt er u.a. die Bedeutung von K. F. Hermanns Konzept einer "griechischen Staatsidee" (S. 22, 144f.).4

Eine ausführlichere Analyse hätte auch JBs Umgang mit den Quellen verdient, die er als zeitlose Zeugnisse des griechischen Geistes nimmt. Bauer geht an einzelnen Stellen auf JBs Rekurs auf die Quellen ein (z.B. S. 166ff. zu Thukydides' Begriff der "oligarchia isonomos"), erörtert aber nicht grundsätzlich, welche Nachteile - oder auch Vorzüge - aus dem systematischen Verzicht auf Quellenkritik in der GKG erwachsen.

JBs Bild eines omnipotenten Staats lehnt sich, wie Bauer zu Recht betont, in vielem an Fustel de Coulanges an (S. 167 mit A. 524; 169, A. 533 und öfter). Unerörtert bleibt aber, daß Fustels Deutung in einer Tradition steht, die auf die postrevolutionäre Kritik an der Jakobinerherrschaft (und ihrer angeblichen Selbstidentifikation mit der Antike) zurückgeht, die dann durch Benjamin Constant weitere Verbreitung erfahren hat.5

Anmerkungen

1 Die Vorlesungen waren ein großer Publikumserfolg; 1872 gab es 53 eingeschriebene Hörer - bei 161 Studenten an der Basler Universität insgesamt (S. 69).
2 Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", ... hrsg. v. Peter Ganz, München 1982, 227, A. 12; vgl. 256.
3 Bei Wilamowitz war die Enttäuschung auch deshalb groß, weil er JB zur Publikation der GKG ermuntert hatte (S. 222f.).
4 Für eine solche Einordnung der GKG vgl. W. Nippel, Von den "Altertümern" zur Kulturgeschichte, Ktèma 23, 1998 [1999], 17-24.
5 Vgl. W. Nippel, Republik, Kleinstaat, Bürgergemeinde. Der antike Stadtstaat in der neuzeitlichen Theorie, in: P. Blickle (Hrsg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa, München 1996, 225-247, hier 232ff.

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