Cover
Titel
Demokratie und Bildung.


Autor(en)
Brumlik, Micha
Erschienen
Berlin 2018: Neofelis Verlag
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Daniel Deplazes, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Kontroversen um Demokratie haben Kontinuität. Gleichwohl beschleicht den Zeitdiagnostiker das Gefühl, dass sich gegenwärtig diejenigen Stimmen konzentrieren, welche die vermeintlich zunehmend zu Tage tretenden Unzulänglichkeiten von Demokratie mit Unmut begutachten. Daher lohnt sich zweifellos eine Prüfung der Grenzen und Möglichkeiten der sogenannten Volksherrschaft. Micha Brumlik sieht die derzeitigen Demokratien zumindest in einer epochalen Krise und untersucht in seiner Monografie „Demokratie und Bildung“, inwiefern Bildung für die Anliegen der Demokratie fruchtbar sein könnte.

Das Verhältnis der beiden nebulösen, weitläufigen und normativ aufgeblähten Konzepte auszuloten, erscheint zunächst als monströses Unterfangen. Der Autor versucht dieser Schwierigkeit mit einer Analyse der Überlegungen berühmter Philosophen, Pädagogen und Theologen zum Verhältnis von Demokratie und Bildung zu begegnen, um zu belegen, „dass nur Gesellschaften mit gebildeten“ Bürgerinnen und Bürgern „als Demokratien zukunftsfähig“ (S. 15) seien. Damit schreibt Brumlik eine klassische Ideengeschichte, eine altvertraute Textsorte der Pädagogik, die sich im 19. Jahrhundert herausbildete und bis ins 20. Jahrhundert besonders als „Geschichten der Pädagogik“ für die Ausbildung von Lehrkräften publiziert wurden.1 Die Speerspitze der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die diese Art der Geschichtsschreibung favorisierte, vermutete, dank der Decodierung der Ideen verstorbener Denker die Lösungen für die als akut empfundene Misere der jeweiligen Gegenwart zu finden. Trotz der wachsenden Kritik an diesem Vorgehen hat das philosophische Nachdenken etwa über den Bildungsbegriff in der Pädagogik bis heute Tradition. Neben dem philosophischen Schwerpunkt in seiner Studie erhebt Brumlik jedoch auch, der klassischen Ideengeschichte folgend, explizit einen historischen Anspruch (S. 15), was – wenn man dieses Postulat ernst nimmt – zu einigen historiographischen Nachfragen führt.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine rigorose Verfallsthese gegenwärtiger Demokratien. Diese Krise – die ebenso die Bildung betreffe –, lasse sich, so Brumlik, am derzeitigen Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen, der staatlichen Impotenz aufgrund zunehmend „unkontrollierbarer globaler Finanzmärkte“ (S. 45) und einer steigenden Entwertung von Bildung festmachen. Brumlik folgt dabei der Diagnose von Colin Crouch, wonach wir bereits in einer Postdemokratie lebten: Trotz Wahlen würden die PR-Fachleute rivalisierender Wahlkampfteams den Diskurs im Vorfeld der Urnengänge bestimmen, wobei die wirkliche Politik unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinde. Es gäbe daher gute Gründe, weshalb „ein wachsender Teil der Bevölkerung [...] Zweifel“ (S. 51) an Demokratien hege.

Um zu klären, wie nun Bildung einen Ausweg bieten könnte, untersucht Brumlik im Hauptteil, wie das Verhältnis von Bildung und Demokratie von Klassikern wie Aristoteles, Platon, Comenius, Rousseau, Hegel, Kant oder Hannah Arendt – übrigens die einzige Frau in seiner Zusammenstellung – gedacht wurde. Anhand Brumliks Auseinandersetzung mit dem Reformator Martin Luther soll nachfolgend illustriert werden, wie der Autor vorgeht und was die Crux einer solchen Ideengeschichte ist: Brumlik erläutert, wie Luther im Anschluss seiner Empfehlung an die Fürsten, den damaligen Bauernaufstand niederzuschlagen, den Herrschenden einen Brief sandte. Darin bemängelte er die fehlende Frömmigkeit der Bauernkinder, wodurch es diesen als Erwachsenen an Moral fehlte. So forderte er eine allgemeine Schulpflicht und begrüsste neben dem Predigeramt weitere Studienfächer, da Fürsten auf „Juristen, Räte, Gelehrte und Schreiber“ (S. 59) angewiesen seien. Selbstredend hat Brumlik Recht, dass Luther hier das Funktionieren einer Herrschaft mit der Idee einer Allgemeinbildung vermengte, indem der Reformator einen gewissen Bildungsstand von Hof und Volk voraussetzte. Aber wie bedeutsam Luthers Brief damals war und was das mit Demokratie zu tun haben soll, bleibt schleierhaft. Quellenkritische Nachfragen, ob etwa die Ratsherren den Brief überhaupt erhalten, ernstgenommen, gar belächelt oder ob sie daraus irgendwelche Konsequenzen für ihre Fürstentümer abgeleitet haben, bleiben ungeklärt. Daran zeigen sich die bekannten Schwierigkeiten einer Form von Ideengeschichte, die losgelöst von Sozial- und Kulturgeschichte operiert.

Zuweilen geht Brumlik jedoch über das Abarbeiten an den Klassikern hinaus, indem er etwa die Bildungsmöglichkeiten zum demokratiefähigen Menschen eruiert. So betont er mit Lawrence Kohlbergs Theorie der moralischen Entwicklungsstufen, dass moralisches und somit demokratisches Handeln mittels „gezielte[r] Stimulation gefördert werden“ (S. 181) könne. Hieran zeigt sich jedoch auch die Schwammigkeit des Terms Bildung, der sich Brumlik ebenfalls nicht zu entziehen vermag, subsumiert er doch politische, erzieherische wie schulische Einflussmöglichkeiten auf moralische, psychische oder kognitive Verfasstheiten unter dem Schlagwort Bildung: Eine Irritation, die – aufgrund der historischen Bedeutungsverschiebungen von Begriffen – während der Lektüre eher zu- als abnimmt. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass der Marquis de Sade oder Jacques Rancière in der Untersuchung Platz finden, die man – bei dieser Art einer „klassischen“ Geschichtsschreibung – nicht unbedingt erwarten würde. Auch ist sich Brumlik der Ambivalenzen von Demokratien überaus bewusst. Er problematisiert etwa in Anlehnung an Dewey die „Herstellung“ von Demokratien und stellt überzeugend fest, dass Demokratien wohl nicht so sehr „das Ergebnis von Ideen“, sondern eher das mehr oder weniger geglückte Produkt „zum Teil ungesteuerte[r] soziale[r] Prozesse“ (S. 156) seien.

Abschliessend erörtert Brumlik aktuelle empirische Befunde für Deutschland, wobei er stellenweise diese Empirie mit der Exegese im Hauptteil vermischt. So stellt er anhand nicht näher bezeichneter empirischer Studien fest, „dass Selbstverwirklichungsansprüche einen nachweisbar kausalen Einfluss auf die Etablierung formaler Demokratien“ (S. 232) hätten. Diese Korrelation wertet er als „Beweis für die Stimmigkeit des von Rousseau gelebten und reflektierten Zusammenhangs von radikaler Individualität und radikaler Demokratie“ (ebd.). Sogar ungeachtet des Anachronismus erscheinen derlei Kausalitätsannahmen für die vermeintliche Validierung philosophischer Texte zumindest erklärungsbedürftig. Gleichwohl bemüht sich der Autor auch im letzten Teil zu belegen, dass Bildung – wobei dieser Begriff eben unscharf bleibt – zentral für Demokratie sei. So würden die Studien zeigen, dass einerseits Bildungsdefizite tendenziell mit „antidemokratischen Haltungen“ (S. 197) einhergingen und andererseits ein lückenhaftes Wissen der Jugend zu zentralen Geschichtsereignissen wie Auschwitz bestehe. Brumlik plädiert daher für ein Unterrichtsfach, das er als „Human Rights Education“ (S. 213) umreisst und sich aktuellen Herausforderungen wie Generationenkonflikten, Immigration und der Globalisierung stellen müsse. Vereinfacht scheint Brumlik somit Adornos Anliegen einer „Erziehung zur Mündigkeit“ zu favorisieren, um totalitären Verführungstendenzen entgegenzutreten. So beschäftigt den Autor auch das Bildungsziel „Mündigkeit“ auf weiten Strecken seiner abschliessenden Ausführungen. Damit gerät Brumlik ins Fahrwasser einer seit geraumer Zeit verunsicherten Allgemeinen Pädagogik, die mit unüberprüfbaren Erziehungszielen – wie eben Mündigkeit – primär von der unmittelbaren Nachbarschaft zu moralischen Debatten profitiert und damit die begrenzte Wirkung pädagogischen Handelns aus dem Blick verliert.2

Mit seiner Forderung nach mehr Bildung, um aus der demokratischen Schieflage herauszukommen, liesse sich Brumliks Studie mühelos als historisch-philosophisch munitioniertes Plädoyer für den Erhalt und Ausbau der Unterrichtsfächer „Politische Bildung“ und „Geschichte“ lesen. Ein sicherlich nachvollziehbares Anliegen, dessen Bedeutung für die Integrationsfunktion des Bildungswesens auch anerkannt ist.3 Ob sich dadurch jedoch der attestierte Verfall von Demokratie und Bildung aufhalten liesse oder ein Fach wie politische Bildung damit nicht zwangsläufig überfordert wäre, müsste eingehender untersucht werden. Brumliks Vorschlag bietet zumindest ein typisches Beispiel einer weiteren Funktion der Schule, der politischen Entlastungsfunktion: Gesellschaftlich scheinbar unlösbare Probleme werden pädagogisch umgemünzt, in Lehrpläne integriert und so der Schule übertragen.4 Die nachfolgende Generation mit dem Krisenmanagement zu betrauen, mag folglich eine wohlbekannte Antwort sein, dennoch entpuppt sich die hierzu durchgeführte Autopsie klassischer Texte für die Synthese eines Antidots als fragwürdiger Eingriff.

Anmerkungen:
1 Heinz-Elmar Tenorth, Historische Bildungsforschung, in: Rudolf Tippelt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, Opladen 2002, S. 123–139, hier S. 125–127.
2 Markus Rieger-Ladich, Mündigkeit als Pathosformel, Konstanz 2002, S. 79, S. 88–89.
3 Helmut Fend, Neue Theorie der Schule, 2., durchges. Aufl., Wiesbaden 2008 (1. Aufl. 2006).
4 Hans-Ulrich Grunder, Schulreform und Reformschule, Bad Heilbrunn 2015, S. 17.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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