A. Holenstein u.a.: Schweizer Migrationsgeschichte

Cover
Titel
Schweizer Migrationsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart


Autor(en)
Holenstein, André; Kury, Patrick; Schulz, Kristina
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
CHF 39,00; € 39,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Koller, Schweizerisches Sozialarchiv

Migration gilt als eines der zentralen Themen der Gegenwart. Umso wichtiger ist es, ihre historischen Konturen zu kennen, um Fehlschlüssen, politischen Instrumentalisierungen und Panikreaktionen wissenschaftliches Fachwissen entgegenhalten zu können. Das anzuzeigende Buch von André Holenstein, Patrick Kury und Kristina Schulz, das erstmals eine Synthese der Ergebnisse vielfältiger Einzelstudien zu unterschiedlichsten Aspekten der Schweizer Migrationsgeschichte in der „longue durée“ vorlegt, leistet dazu einen vorzüglichen Beitrag.

Die Problematik, die im Untertitel als Ausgangspunkt angekündigten „Anfänge“ zu bestimmen, wird dadurch umgangen, dass das erste Kapitel „Am Anfang waren Einwanderer“ mit der Migrationsthematik in den eidgenössischen Gründungsmythen beginnt, die im Spätmittelalter oftmals die Einwanderung in die Waldstätte, etwa aus Skandinavien, erwähnten. Daran anschließend werden Migrationsbewegungen im Raum der heutigen Schweiz von der Jungsteinzeit bis zum Ende der römischen Herrschaft sowie ihre Spuren in Orts-, Gewässer- und Gebirgsnamen rekapituliert. Der Hinweis darauf, dass die ab der frühen Neuzeit für die Eidgenossenschaft eponymen Helvetier sich vor ihrer Unterwerfung durch die Römer nur wenige Jahrzehnte im Raum der heutigen Schweiz aufgehalten hatten und diesen auch gleich wieder verlassen wollten, entbehrt nicht der Ironie.

Die Kapitel zu Mittelalter und früher Neuzeit behandeln eine breite Palette von das Gebiet der heutigen Schweiz betreffender Immigration, Binnenmigration und Emigration sowie ihre strukturellen Voraussetzungen und Folgen: Städtische Migrations- und Bürgerrechtspolitik (exemplifiziert am Fall der Stadt Zürich und die hauptsächlich ökonomischen Motive hinter Aufnahme und Ausschluss von Zuwanderern hervorstreichend), hochmittelalterlicher Landesausbau (am Beispiel der hochalpinen Walserwanderung), die militärische Arbeitsmigration ab dem 15. Jahrhundert, die für die Söldner in der Regel wenig ertragreich war, den Soldunternehmern aber große Gewinne und auch politische Macht bescherte, sodann verschiedene Formen ziviler Arbeitsmigration in der frühen Neuzeit (von Schwabenkindern und Hausierern über Facharbeiter verschiedener Metiers bis zu Geistlichen und Gelehrten), Fluchtmigration im Zeitalter der Glaubenskonflikte und dann der Französischen Revolution sowie permanente Auswanderung aus der Eidgenossenschaft ab dem 17. Jahrhundert in benachbarte Regionen, aber auch nach Nordamerika oder Russland.

Mit der Herausbildung des Nationalstaates verlagerte sich im 19. Jahrhundert die zentrale eigen-fremd-Dichotomie allmählich von der kommunalen auf die Bundesebene, auch wenn das neu geschaffene Schweizer Bürgerrecht an das kommunale und kantonale Bürgerrecht gebunden blieb. Erst infolge dieser Entwicklung entstand die scharfe rechtliche Unterscheidung zwischen In- und Ausländern. Die Schweiz als eines der wenigen liberalen Staatsgebilde wurde im frühen 19. Jahrhundert zum Zufluchtsort von Liberalen und Republikanern, später auch Sozialisten und Anarchisten. Zugleich ging indessen die von den Behörden als Maßnahme gegen den Pauperismus geförderte Auswanderung weiter, nach Nord- und Lateinamerika sowie Russland, in geringerem Ausmaß auch nach Afrika, Asien und Ozeanien. Als Land ohne eigene Kolonien war die Schweiz durch Auswanderung, Handelsnetze und zahlreiche weitere Verbindungen in die Globalisierung des imperialistischen Zeitalters involviert.

Das Jahr 1888 brachte dann eine Zäsur: Zum ersten Mal überstieg die Immigration die Auswanderung, die Schweiz wurde zu einem Einwanderungsland und sollte dies bis heute bleiben. Neben den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa waren es insbesondere die Italiener, die als Arbeitsmigranten in die Schweiz kamen und hier bis um 1980 die Ausländer par excellence bleiben sollten. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs stieg der Ausländeranteil in der Schweiz auf gegen 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ab der Jahrhundertwende drang das Schlagwort „Überfremdung“ zunehmend in die politischen Diskurse ein.

Die große migrationspolitische Wende kam mit dem Jahr 1917. Hatte das Freizügigkeitsregime des späten 19. Jahrhunderts mit dem Kriegsausbruch in der Praxis an Bedeutung verloren und war der Ausländeranteil 1914/15 durch Rückwanderung von Wehrpflichtigen massiv zurückgegangen, so versetzte die Oktoberrevolution den Behörden und großen Teilen des Bürgertums einen gewaltigen Schock, der sich sofort in der Schaffung einer neuen Bundesbehörde zur Kontrolle der Ausländer und letztlich der Abwehr von Zuwanderung niederschlug. Nachdem die wirtschaftliche Krisensituation der Kriegszeit antisemitische Kriegsgewinnlerstereotypen begünstigt hatte, dominierte jetzt insbesondere die Furcht vor „östlichen“ und „jüdischen“ Revolutionären den Diskurs über „Fremde“ und schlug sich auch in entsprechenden Verschwörungstheorien über den Landesgeneralstreik vom November 1918 nieder. Es ist denn auch kein Zufall, dass kurz nach Kriegsende die erste eidgenössische Volksinitiative zur Überfremdungsthematik aus den Kreisen der in der Landesstreikzeit entstandenen rechten Bürgerwehren lanciert wurde. Parallel dazu vollzog sich auch ein Paradigmenwechsel in der Bürgerrechtspolitik: War das Bürgerrecht bis zur Jahrhundertwende als Instrument der Integration von Zugewanderten betrachtet worden, so wurde diese Relation nun umgedreht und die Assimilation zur Voraussetzung des Bürgerrechts gemacht. Daraus resultierte eine starke Erhöhung der erforderlichen Wohnsitzfristen und eine eigentliche Ethnisierung des Bürgerrechts, im Zuge derer beispielsweise in Zürich zeitweise an Ostjuden höhere formale Anforderungen gestellt wurden als an andere Bewerberinnen und Bewerber.

In der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs wurde die Flüchtlingsproblematik zum zentralen migrationspolitischen Thema, kulminierend in der Grenzschließung für jüdische Flüchtlinge von 1942. Eine Dekade nach Kriegsende erörterte der „Ludwig-Bericht“ die Flüchtlingspolitik der 1930er- und 1940er-Jahre und die – vor dem Hintergrund der Ost-West-Konfrontation wie auch des Wirtschaftsaufschwungs zu sehende – Willkommenskultur zur Zeit der Ungarnkrise von 1956 wurde teilweise als moralisches Lernen aus dem Zweiten Weltkrieg betrachtet. Die Flüchtlingsthematik wurde während der „Trente Glorieuses“ aber faktisch und diskursiv von der Arbeitsimmigration aus Südeuropa zugedeckt, die bis in die 1960er-Jahre den Ausländeranteil erstmals wieder auf das Niveau bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ansteigen ließ. Saisonnier-Statut und Rotationsprinzip verhinderten dabei gezielt eine Integration der in wenig qualifizierten Jobs eingesetzten Immigranten, die oftmals in erbärmlichen Baracken hausten und von der Möglichkeit des legalen Familiennachzugs ausgeschlossen blieben. In der Krise der 1970er-Jahre konnte im Rahmen dieses Systems trotz massiver Arbeitsplatzverluste die Arbeitslosigkeit weitgehend exportiert werden.

Zugleich erlebte der Überfremdungsdiskurs eine Renaissance: Es formierten sich mehrere Parteien, die den Kampf gegen die Immigration ins Zentrum ihres Programms stellten und in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde eine Serie von Antiüberfremdungsinitiativen lanciert. Alle diese Volksbegehren scheiterten an der Urne – die nach der zentralen Figur der damaligen Antiüberfremdungsbewegung als „Schwarzenbach-Initiative“ bezeichnete Vorlage 1970 allerdings relativ knapp –, die Vorstöße hatten aber indirekte Wirkungen in Gestalt der mehrfachen Verschärfung des Asylrechts und der Verhinderung einer Modernisierung der sehr restriktiven und aus rechtsstaatlicher Perspektive teilweise fragwürdigen Bürgerrechtspolitik. Ab den 1990er-Jahren wurde die Antiüberfremdungsbewegung weitgehend von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) aufgesogen, die sich von einer auf reformierte Gebiete beschränkten Vertretung von Landwirtschaft und Gewerbe zu einer rechtspopulistischen, antieuropäischen Formation wandelte, die mit großem Finanzeinsatz um die Jahrtausendwende zur stärksten politischen Kraft des Landes wurde. Der Erfolg der gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU gerichteten SVP-Volksinitiative gegen die „Masseneinwanderung“ von 2014 kann denn auch als später Triumph der Antiüberfremdungsbewegung betrachtet werden.

Als Fazit betonen die Autorin und Autoren die Migration als historische Normalität. Das populäre Bild einer „sesshaften“ Vormoderne, die dann von einem „mobilen“ Industriezeitalter abgelöst worden sei, ist falsch. Zu allen Zeiten war die Schweiz an bedeutsamen europäischen und globalen Wanderungssystemen beteiligt. Die Migrationsregime waren dabei durch Kontinuität wie auch Wandel gekennzeichnet. Als Konstante wurden sie lange Zeit primär von Nützlichkeitserwägungen gesteuert, hingegen gab es bei den für die rechtliche Normierung zuständigen Instanzen erheblichen Wandel. Als weitere zentrale Punkte betont das Fazit die Doppelrolle der Schweiz als Ein- wie auch Auswanderungsland, den Umstand, dass Migration keine einfache One-Way-Bewegung, sondern weit komplexer sei, und dass sich die Debatte um „Überfremdung“ durch das ganze 20. Jahrhundert zog. Als Forschungsdesiderat wird eine stärkere Analyse geschlechtsspezifischer Aspekte von Migration benannt. Insgesamt, so die Autorin und Autoren, könne die Schweiz mit ihrer Migrationsgeschichte und der Integration verschiedener Kulturgemeinschaften den aktuellen Herausforderungen der Migrationsgesellschaft relativ selbstbewusst und gelassen entgegensehen.

Die neue „Schweizer Migrationsgeschichte“ ist gut lesbar geschrieben und eignet sich für ein breites Publikum, eröffnet aber auch Fachpersonen manche interessante Einsicht. Die epochenübergreifende Gesamtschau ist gekonnt in gesamteuropäische und globalhistorische Zusammenhänge eingebettet (wobei hier bei den Antiüberfremdungsdiskursen noch etwas stärker mit anderen Ländern hätte verglichen werden können) und verdeutlicht, dass die Schweiz nicht nur intensiv ins Migrationsgeschehen involviert war, sondern dass sie diesbezüglich auch kein Sonderfall ist. Es ist keine allzu gewagte Prognose, das vorliegende Buch zum designierten Standardwerk zu erklären.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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